„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 2. Januar 2014

„Maßnehmen/Maßgeben“. Nebulosa: Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 04/2013, hrsg.v. Eva Holling, Matthias Naumann, Frank Schlöffel, Berlin 2013

Neofelis Verlag, Jahresabonnement 22,--, Einzelheft 14,--

(Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel, Homo Meter: Über Maße, S.7-17 / Hannelore Bublitz, Vermessung und Modi der Sichtbarmachung des Subjekts in Medien-/Datenlandschaften, S.21-32 / Frank Engster, Maßgeblichkeit für: sich selbst. Das Maß bei Hegel und Marx, S.33-48 / Bojana Kunst, Das zeitliche Maß des Projekts, S.49-63 / Jörg Thums, Manifest für eine Apperzeption in der Zerstreuung, S.66-77 / Christian Sternad, Das Maßlose des Werkes. Martin Heidegger und Maurice Blanchot über den Ursprung des Kunstwerkes, S.81-93 / Fanti Baum, All this Useless Beauty oder das Maß durchqueren, S.95-109 / Mirus Fitzner, Maßnehmen als rassistische Praxis. Warum das Konzept ‚Ethno-Marketing‘ auf rassistischen Grundannahmen basiert, S.110-124 // Kommentare zu Nebulosa 03/2013: Peter J. Bräunlein, Gelehrte Geisterseher. Anleitungen für den gepflegten Umgang mit Gespenstern, S.127-139 / Gerald Siegmund, Gespenster-Ethik, oder warum Gespenster das Theater lieben, S.140-150 / Julian Blunk, Die Gespenster bleiben nebulös, S.151-164 / Malgorzata Sugiera, Gespenst und Zombie als Denkfiguren der Gegenwart, S.165-177)

Fanti Baum beginnt ihren Beitrag „All this Useless Beauty oder das Maß durchqueren“ (Nebulosa 4/2013, S.95-109) mit einprägsamen Variationen zu den „kulturellen Praktiken der Selbstvermessung“ in den Bereichen „Laktat, Puls, Blutkörper, Kraft, Urin, Fett, Muskeln, Trägheit, Nerven, Vortrieb, Leistungsgrenze, Geschwindigkeit, Willensstärke, Beschleunigung, Erholung, Doping“: „... unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen scheint nichts besser erfasst, vermessen, überwacht, getrimmt und genormt als der individuelle Körper. Dieser Körper wird zum wichtigsten Bezugspunkt, um sich selbst zu regieren, zu manipulieren und zu verändern.“ (Nebulosa 4/2013, S.95)

Am Beispiel des Sports zeigt Fanti Baum, daß diese Art der vermessenen Körperkontrolle untrennbar mit einer Kontextkontrolle verbunden ist: „Wer verwertbare Messergebnisse haben will, braucht ideale Bedingungen.“ (Nebulosa 4/2013, S.95) – Um sportliche Höchstleistungen bis auf Sekundenbruchteile genau erfassen zu können, müssen Sportgeräte und Arenen entsprechend technologisch präparierbar sein. Wenn man dagegen im Wettkampf mit dem Kanu auf offenem Wasser unterwegs ist, zählt „am Ende“ nur, wer „am schnellsten war: Weil Wasser unberechenbar ist, gibt es hierfür keinen Maßstab und keine Bestzeiten.“ (Vgl. ebenda)

Die perfekte Passung von Kontext und Körper tut letzterem offensichtlich nicht besonders gut. Aus Laborbedingungen kann er keine Lebenskraft ziehen. Auf eine kurze, von allen bewunderte Jugend der Höchstleistung folgt eine Zeit des frühen Alterns. Am Ende, so in einem Zitat von Elfriede Jellinek, sind diese Körper „wie Pizzaschachteln oder Wegwerfbecher“, „vernutzt“ anstatt gebraucht: Müll. (Vgl. Nebulosa 2013, S.96)

Fanti Baum setzt sich in ihrem Beitrag ausführlich mit der Comicfigur „Ann Lee“ auseinander, die offenbar von einer japanischen Agentur geschaffen wurde, um sie Künstlern und Comiczeichnern zur Verfügung zu stellen. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.98) Die französischen Künstler Philippe Parreno und Pierre Huyghe erwarben das Copyright an dieser Figur, um sie wiederum anderen Künstlern als „Projektionsfläche“ für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.98f.) Schließlich wurden Copyright und Verwertungsrechte auf Ann Lee selbst übertragen, was mich an einen Scheibenweltroman von Terry Pratchett erinnert, in dem dem Golem „Dorfl“ die eigene Verkaufsquitting in den hohlen Schädel gelegt wird, worauf er zu denken anfängt und sich hochkomplexe Fragen nach Freiheit und Verantwortung stellt.

Ann Lee zeigt hingegen keinerlei Fähigkeit, den so zugestandenen Freiheitsraum zu ergreifen und zu nutzen. Fanti Baum begegnet ihr in einer Ausstellungs-Box des Folkwang Museums in Essen (vgl. Nebulos 4/2013, S.97f.), und ihr fällt vor allem deren reduzierte Sprachroutine auf: „Die zum Zeichen gewordene Figur tritt mir in ihrer Sprachlosigkeit gegenüber, weiß sie doch nicht mehr als ein paar wenige Sätze wie von einem Band abzuspulen. In dieser Unmöglichkeit der Kommunikation ist Ann Lee vor mich hingestellt. ... Ann Lee ist gerade in ihrer anfangs irritierenden Unerklärbarkeit vor allem eins: vor uns hingestellt; als Zeichen, als Bild, als sich wiederholendes Programm.“ (Nebulosa 4/2013, S.100)

Ann Lee und die Welt ihrer Box sind so perfekt aufeinander abgestimmt, daß sie uns offensichtlich nicht mehr viel mitzuteilen hat, und man fragt sich unwillkürlich, ob wir bei unseren Versuchen, uns und unsere Welt technologisch immer perfekter aufeinander abzustimmen, selbst irgendwann in so einer Box enden werden. Oder sind wird dort längst geendet? Jedenfalls ist diese Box mit Ann Lee in ihrer reduzierten Sprachlichkeit das Gegenteil jener unheiligen, offenen Weite, von der Bodhidharma spricht.

Auch Fanti Baum spricht von der Notwendigkeit einer „gestaltlosen Offenheit“ (Nebulos 4/2013, S.103), von einem „ständige(n) in Bewegung-Halten“, „in der Schwebe-Lassen“, einem „Nicht-Wissen des Lebens“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.105) Dieser Raum bildet aber Fanti Baum zufolge keine inflationäre Bewegung und geht auch aus keiner solchen hervor. Er ist in all seiner Offenheit dennoch gleichermaßen begrenzt wie gerichtet. Er bildet einen „Zwischenraum“, und zu einem Zwischenraum gehören immer Zwei, ein „Zwischen-Zwei“, wie Fanti Baum mit Alenka Zupančič (2001) festhält. (Vgl. Nebulosa 2013, S.104) Diese Überlegung erinnert mich an einen sprachphilosophischen Text von Wilhelm von Humboldt über den „Dualis“ (1828), der mir in ganz ähnlichen Intuitionen begründet zu sein scheint.

Der Grundgedanke dieses „Zwischen-Zwei“ besteht darin, daß sich ein Raum immer nur in Bezug auf ein Anderes hin eröffnen kann. In diesem Sinne wäre auch der offene, weite Horizont nur ein auf der Grenze der Sichtbarkeit sich bewegender Verweis auf noch ausstehendes, unberechenbares Anderes. (Vgl. Nebulosa 2013, S.105)

Fanti Baum verbindet dieses „Zwischen-Zwei“ als einem Ort der „Durch- und Übergänge“ mit der Brüchigkeit des eigenen Lebens und knüpft damit an Bojana Kunsts Kritik der projektiven Zeitlichkeit an. (Vgl. meinen Post vom 30.12.2013) Ihre Widerstandsformel, mit der ich diesen Post beenden will, lautet: „Dieses brüchige ‚this is my life‘ gilt es, den Vermessungsstrategien in seiner maßlosen Differenz entgegen zu halten; genauso wie es gilt, sich mit Aufmerksamkeit für das Andere jeder Praktik der Selbstvermessung zu verweigern.“ (Nebulosa 2013, S.109)

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