„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 3. Januar 2014

„Maßnehmen/Maßgeben“. Nebulosa: Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 04/2013, hrsg.v. Eva Holling, Matthias Naumann, Frank Schlöffel, Berlin 2013

Neofelis Verlag, Jahresabonnement 22,--, Einzelheft 14,--

(Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel, Homo Meter: Über Maße, S.7-17 / Hannelore Bublitz, Vermessung und Modi der Sichtbarmachung des Subjekts in Medien-/Datenlandschaften, S.21-32 / Frank Engster, Maßgeblichkeit für: sich selbst. Das Maß bei Hegel und Marx, S.33-48 / Bojana Kunst, Das zeitliche Maß des Projekts, S.49-63 / Jörg Thums, Manifest für eine Apperzeption in der Zerstreuung, S.66-77 / Christian Sternad, Das Maßlose des Werkes. Martin Heidegger und Maurice Blanchot über den Ursprung des Kunstwerkes, S.81-93 / Fanti Baum, All this Useless Beauty oder das Maß durchqueren, S.95-109 / Mirus Fitzner, Maßnehmen als rassistische Praxis. Warum das Konzept ‚Ethno-Marketing‘ auf rassistischen Grundannahmen basiert, S.110-124 // Kommentare zu Nebulosa 03/2013: Peter J. Bräunlein, Gelehrte Geisterseher. Anleitungen für den gepflegten Umgang mit Gespenstern, S.127-139 / Gerald Siegmund, Gespenster-Ethik, oder warum Gespenster das Theater lieben, S.140-150 / Julian Blunk, Die Gespenster bleiben nebulös, S.151-164 / Malgorzata Sugiera, Gespenst und Zombie als Denkfiguren der Gegenwart, S.165-177)

Mirus Fitzner befaßt sich in seinem Beitrag „Maßnehmen als rassistische Praxis. Warum das Konzept ‚Ethno-Marketing‘ auf rassistischen Grundannahmen basiert“ (Nebulosa 4/2013, S.110-124) mit der maßgebenden Zuteilung von Menschengruppen zu Marktsegmenten. Die marktförmige Segmentierung von Menschengruppen erleichtert es, Produkte zu entwickeln und zu bewerben, weil sie gruppenspezifischen Lebensgewohnheiten Bedürfnisse und Bedürfnissen Adressen zuordnet.

Diesen ‚Adressen‘ wiederum, also den Zielgruppen des Marketing, läßt sich wiederum eine mediale Infrastruktur zuordnen, die die Zustellung der Werbung ermöglicht. Diese mediale Infrastruktur zeigt aber zugleich die Begrenztheit einer solchen Marketingstrategie. Im Falle des sogenannten Ethno-Marketings, das den Markt nach ethnischen Merkmalen segmentiert und dabei mit einem Begriff arbeitet, dessen Bedeutungsfeld zwischen ‚Kultur‘ und ‚Rasse‘ changiert, gibt es letztlich nur zwei ‚Ethnien‘, die russische und die türkische, die überhaupt über eigene Medien verfügen: „Durch diese Verkürzung wird klar, warum nur Menschen mit türkischem und russischem Migrationshintergrund für die angeführten Veröffentlichungen relevant sind. Diese sind die einzigen ethnischen Minderheiten, für welche eine solche Medienlandschaft existiert. Das deutet darauf hin, dass es nicht um konsumrelevantes Verhalten, sondern vorrangig um die potenzielle Größe des behaupteten Marktes geht.“ (Nebulosa, 4/2013, S.117)

Mit Ethno-Marketing läßt sich also keineswegs eine quasi ‚demokratische‘, auf Minderheiten gerichtete Marktstrategie verbinden, in der diesen Minderheiten via ‚Konsum‘ die Möglichkeit geboten wird, sich unabhängig von der Dominanz einer Mehrheitskultur „über den Kauf oder Konsum von Produkten, Dienstleistungen oder noch allgemeiner Narrationen“ ihre eigenen Identitäten zu „basteln“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.123) Ganz im Gegenteil hat Ethno-Marketing seinen Anteil an ihrer Diskriminierung. (Vgl. ebenda)

Der Begriff „Ethnie“ ersetzt letztlich „das unhaltbar gewordene Wort ‚Rasse‘“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.114) Dennoch behält er die Beurteilung von Menschen nach ihren „phänotypische(n) Merkmale(n) (Haut- oder Haarfarbe, Gesichtszüge, Bekleidung etc.)“ als „Zuschreibungen von außen“ bei. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.115) Unterstützt wird diese ethnische Zuordnung mit Hilfe statistischer Methoden, durch die „Messbarmachung und Verarbeitbarkeit“ menschlichen Verhaltens, wie sie allenthalben im Rahmen staatlicher und bürokratischer Verwaltungsaufgaben Verwendung finden, und eben unter anderem auch im Ethno-Marketing. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.122)

Im Wechsel von Fremdzuschreibung und Selbstwahrnehmung als ‚Migrant‘ im Sinne von Heimat als Herkunft und der damit verbundenen Ghettoisierung (vgl. Nebulosa 4/2013, S.115f.) wird der Begriff „Ethnie“ zu einem Amalgam aus ‚Kultur‘ und ‚Rasse‘. Zu phänotypischen Merkmalskombinationen treten „verbindende() Erzählungen, Traditionen, Rituale(), Werte() und/oder Religionen“ hinzu. (Vgl. Nebulosa 4/2013) Die biologischen Merkmale des Phänotyps und die kulturellen Merkmale der sowohl über die Gruppe wie über die Mehrheitsbevölkerung vermittelten Identitätskonstruktion verbinden sich zum Begriff der „Ethnie“.

Und es ist zugleich dieser Konstruktcharakter, der die ‚Ethnie‘ von der ‚Kultur‘ unterscheidet. Man könnte sagen, daß Kulturen zwar Erzählungen enthalten, aber selbst – aufgrund ihrer Lebensweltlichkeit – keine Erzählungen sind, und daß Ethnien nicht nur Erzählungen enthalten, sondern selbst auch Erzählungen sind. Während man in eine Kultur auf lebensweltliche Weise hinein-wächst, wird man in eine Ethnie hinein-erzählt, also zum Mitglied einer Ethnie gemacht.

Das gilt gerade auch für die Wechselseitigkeit dieser Zuordnung von Menschen in ethnische ‚Segmente‘, die durch das Ethno-Marketing noch verstärkt wird: „Wenn sich Ethnien als Reaktion auf Diskriminierung durch die Mehrheitsbevölkerung herausbilden, dann muss der Versuch, ethnische Minderheiten gezielt anzusprechen, sogar die rassistisch motivierte Diskriminierung wiederholen: nämlich die Behauptung, Mitglieder dieser Gruppe seien langfristig und grundlegend anders als ‚die Deutschen‘, um dieses Konzept zu rechtfertigen.“ (Nebulosa 4/2013, S.123)

Mirus Fitzner sieht eine Widerstandsperspektive gegen diese marktförmige Gruppenzuordnung merkwürdigerweise in der Individualisierung des Konsums.  Individueller Konsum ermöglicht es dem Einzelnen, so Fitzner, sich seine Identität nach eigenem Geschmack zu ‚basteln‘. „Als Identitäts-Bastler kann der Konsument situativ und nach Lust und Laune Identitäten ausprobieren() ...“ (Nebulosa 4/2013, S.123) – Anstatt den Menschen auf einen „möglichst authentischen Ursprung“ zu fixieren, kann „der oder die Einzelne“ seine „herkunftsgeleitete()“ Zugehörigkeit zu einer Ethnie „gestalten“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.124)

Die „Unternehmen“, so Fitzner, können dann, via Werbung?, Imaginationen von „Gemeinschaften“ „stiften“, nicht als „Produkt“ (?), aber doch als ein Angebot an die Identitätsbastler. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.124) Das wäre dann kein Ethno-Marketing mehr, wenn ich das richtig verstanden habe, sondern Identitäts-Marketing.

Irgendwie ist dem Autor offensichtlich eine Umbewertung kulturell-ethnischer Merkmalskombinationen als negativ: Ethno-Marketing, zu positiv: Identitäts-Marketing unterlaufen. Aber was bei Gruppen auf einen Rassismus hinausläuft, ist bezogen auf Individuen noch kein Humanismus. Da sollte er nochmal genauer hinsehen.

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