„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 24. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

In „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ (2009) bezeichnet Tomasello die extravagante Syntax als einen „Modus der Narration“. (Vgl. Tomasello 2009, S.261; vgl. auch meinen Post vom 27.04.2010). Das rekursive Konzept der geteilten Aufmerksamkeit beinhaltet nämlich das durchaus „anspruchsvolle“ Problem – an dieser Stelle (vgl. Habermas 2012, S.65) stimme ich Habermas zu –, sicherzustellen, daß eine Gemeinschaft von Zuhörern – es kann immer nur einer sprechen – nicht den Faden verliert, wenn der Sprecher – wiederum mit Habermas – seine ‚Gründe‘ auf verschiedenen ‚argumentativen‘ Ebenen verteilt. Tomasello spricht in diesem Fall von dem Problem der „Referenzverfolgung“. (Vgl. Tomasello 2009, S.305) Ich möchte an dieser Stelle lieber von ‚Referentenverfolgung‘ sprechen, um damit den Umstand hervorzuheben, daß bei der Erörterung eines Sachverhaltes viele verschiedene Gegenstände (Referenten) angesprochen werden können, die wiederum auf verschiedenen Ebenen verteilt sein können.

Wollte man so einen komplex gegliederten Sachverhalt vor einer Vielzahl von Zuhörern, die wiederum ihre eigenen Perspektiven an diesen Sachverhalt herantragen, ausschließlich in linear aneinandergereihten Sätzen (Tomasello: „ernsthafte Syntax“) ‚verhandeln‘, würden die Zuhörer, und wahrscheinlich auch der Sprecher, die Sache, um die es geht, bald aus den Augen verlieren. Um das zu verhindern, schaltet der Sprecher in einen anderen ‚Modus‘ um, den Modus der Narration, und erzählt eine Geschichte, die, wie Tomasello schreibt, einen „Kommunikationskontext“ darstellt, der eine „filigrane zeitliche Buchhaltung“ erlaubt. (Vgl. Tomasello 2009, S.304)

Die ‚Syntax“ der Narration besteht nicht einfach in einer grammatischen Aneinanderreihung von Sätzen, sondern verteilt sich auf verschiedene Ebenen. Sie entspricht der rekursiven Dynamik verschiedener ‚Egos‘, die ihr Wissen im Verlauf der Erzählung aufeinander abstimmen. Harald Welzer beschreibt das sehr schön am Prinzip der „Montage“ (vgl. meinen Post vom 20.03.2011): Die Zuhörer kombinieren die verschiedenen ‚syntaktischen‘ Elemente der Erzählung so miteinander, daß sie innerhalb ihres jeweiligen Verstehenshorizontes einen sinnvollen Zusammenhang ergeben.

Verstehenslücken füllen die Zuhörer auch schon mal mit eigenem Sinn. Dabei gehören die Verstehenslücken zum narrativen Prinzip! Sie liegen nicht etwa an der Unfähigkeit des Erzählers. Um eine Vielzahl von Zuhörern ‚ansprechen‘ zu können, muß eine Erzählung Lücken haben, weil diese Lücken es den Zuhörern ermöglichen, sich die Erzählung zueigen zu machen, also mit eigenem Sinn zu füllen.

Es macht also Sinn, wenn auch Habermas mit seinem pragmatischen Re-Konstruktivismus auf narrative Elemente zurückgreift. Dabei knüpft er wie Tomasello an ihre ‚extravagante‘ Syntax an: „Aus dem Narrativen entsteht ein Netz von ‚Korrespondenzen‘, in das auch rituelle Handlungen eingebettet sind ...“ (Habermas 2012, S.27) – Habermasens Hinweis auf das „Netz von ‚Korrespondenzen‘“ ist auch im Sinne der Tomaselloschen Referentenverfolgung zu verstehen. Um die Vielzahl von Bezügen (Korrespondenzen) zwischen den verschiedenen ‚Referenten‘ zu verstehen bzw. zu ‚verfolgen‘, bedarf es eben komplexer Erzähltechniken, die über einfaches, lineares Argumentieren hinausgehen.

Anstatt aber nun auf den Sinnreichtum narrativer Erzähltechniken einzugehen, setzt Habermas diese Erzähl-‚Techniken‘ mit magischen Praktiken der Kontrolle und Gewaltausübung gleich: „So verschmilzt in magischen Praktiken die performative Einstellung, in der sich eine erste Person auf eine zweite Person einstellt, um sich mit ihr über etwas zu verständigen, mit der objektivierenden Einstellung eines Technikers gegenüber unpersönlichen oder überpersönlichen Mächten, auf die er kausalen Einfluss ausüben möchte. Indem der Zauberer mit einem Geist kommuniziert, erlangt er Gewalt über ihn.“ (Habermas 2012, S.27) – Und nicht nur der Zauberer erlangt Gewalt über einen dämonischen Geist, wie man ergänzen muß, sondern eben auch der Erzähler über den Geist seiner Zuhörer.

Natürlich läßt sich nicht leugnen, daß narrative Techniken der Referentenverfolgung etwas mit ‚Kontrolle‘ zu tun haben, weil es in ihnen ja essentiell um Aufmerksamkeitslenkung geht. Aber der ursprüngliche Sinn einer Erzählung besteht doch vor allem in der Stiftung und in der Übung der gemeinsamen Aufmerksamkeit selbst! In der Erzählung findet sich eine Gemeinschaft zusammen; und über die Erzählung bildet sie sich überhaupt erst. Das Erzählen von Geschichten führt, wie Tomasello festhält, zur „Erweiterung“ eines „gemeinsamen Hintergrunds“ und schafft damit neue „Kommunikationsgelegenheiten“. (Vgl. Tomasello 2009, S.310) Tomasello vergißt auch nicht den ‚technischen‘ Aspekt: „Außerdem werden wir dadurch den anderen ähnlicher und verbessern unsere Aussichten auf soziale Akzeptanz ...“ (Ebenda)

Habermas aber beschränkt sich auf diesen technischen bzw. pragmatischen Aspekt der Narrativität. Die ‚semantischen‘ Potentiale des Geschichtenerzählens im Dienste der gleichzeitig individuellen wie gemeinschaftlichen Sinnfindung werden von ihm zugunsten der syntaktischen Verkettung von Gründen vernachlässigt: „Sobald sich die Gestenkommunikation in den alltäglichen Kooperationszusammenhängen zur vollen grammatischen Rede ausgebildet hat, öffnen sich beide Kommunikationsformen für Aussagen und für die narrative Verknüpfung von Aussagen, das heißt für Gründe.“ (Habermas 2012, S.69)

Das liegt ganz wesentlich daran, daß die individuelle Sinnfindung bei Habermas nur eine untergeordnete, abgeleitete Funktion darstellt. Im Vordergrund stehen die „Vergemeinschaftung“ individueller „Motive“ und der „Zangendruck aus simultaner Vergesellschaftung und Individualisierung“. (Vgl. Habermas 2012, S.68) Deshalb sind es bei einer Erzählung auch nicht die erzählerischen ‚Lücken‘ und die individuelle ‚Montage‘, die Habermasens Interesse wecken, sondern der „Sog“, den die Erzählung auf das Individuum in die Gemeinschaft des Zuhörens hinein ausübt. (Vgl. ebenda) An die Stelle der ‚Lücken‘ treten „bedeutungsidentisch verwendete Symbole“ (ebenda), die für individuelles Sinnverstehen gar keinen Raum mehr lassen.

So tritt, unterstützt von der Narrativität, die „starke Normativität“ der „rituellen Praxis“ zur ansonsten eher „schwachen Normativität eines übersubjektiven Sprachlogos“ hinzu, um sie abzusichern und die „störanfällige Balance“ zwischen „individueller und kollektiver Selbstbehauptung“ aufrechtzuerhalten. (Vgl. Habermas 2012, S.68f.) Allerdings ist die von Habermas behauptete „strukturelle Spannung zwischen individueller und kollektiver Selbstbehauptung“, die diese Balance so störanfällig macht, in keiner individuellen Materie begründet. In seiner gesamten Darstellung ist für das Individuum nirgendwo der Raum, in dem es sich finden und behaupten könnte.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen