„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 16. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität (vgl. meinen Post vom 18.01.2013)
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Dieser Nachtrag zu meinem Post vom 18.01.2013 ist nicht nur deshalb nötig, weil es hier neue Aspekte zu ergänzen gibt, sondern auch weil eine Grundaussage korrigiert werden muß. Im erwähnten Post hatte ich Habermasens Feststellung zum „Dualismus“ von „Natur- und Geisteswissenschaften“, der als „Gegensatz() von Erklären vs. Verstehen“ „heute nicht mehr aktuell“ sei (vgl. Habermas 3/1985, Bd.1, S.160), dahingehend interpretiert, daß der Dualismus zwischen Natur- und Geisteswissenschaften selbst veraltet sei. In der auf diese Feststellung folgenden Diskussion spricht Habermas auch nicht mehr von Geisteswissenschaften, sondern nur noch von Sozialwissenschaften.

Nun ist Habermasens Formulierung insgesamt recht umständlich und deshalb möglicherweise von mir mißverstanden worden. Zunächst hatte sich Habermas auf den „Historismus“ von Dilthey und Misch und auf den „Neukantianismus“ von Windelband und Rickert bezogen. Sein abschließendes Urteil lautet wörtlich: „Diese ‚erste Runde‘ der Erklären-Verstehen-Kontroverse ist heute nicht mehr aktuell.()“ (Vgl. ebenda) – Anstatt also den Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften insgesamt für veraltet zu erklären, scheint es so zu sein, daß Habermas nur die „erste Runde“ dieser Debatte hinsichtlich eines Gegensatzes zwischen Naturwissenschaften (Erklären) und Geisteswissenschaften (Verstehen) als veraltet bezeichnet. Dieser Eindruck drängt sich einem vor allem dann auf, wenn man seine jüngsten Stellungnahmen zu diesem Dualismus in seinem Buch „Nachmetaphysisches Denken II“ (2012) zur Kenntnis nimmt. Hier scheint er zumindestens eine neue Runde zum Verhältnis „natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche(r) Diskurse“ (Habermas 2012, S.7) zu eröffnen. Von nun an spricht er nicht mehr demonstrativ ausschließlich von den Sozialwissenschaften, wie in der „Theorie des kommunikativen Handelns“, sondern durchweg von den „Geistes- und Sozialwissenschaften“ (Habermas m2012, S.41 u.ö.), die er gelegentlich auch als „Kulturwissenschaften“ (Habermas 2012, S.41, 53) oder als „Humanwissenschaften“ (Habermas 2012, S.42, 46) den Naturwissenschaften gegenüberstellt.

Ich schreibe mit Bedacht sehr vorsichtig, daß es so zu sein scheint, daß ich Habermas mißverstanden haben könnte; denn die besagte Formulierung zum Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften läßt Interpretationsspielräume. Dennoch glaube ich eigentlich schon, daß ich ihn richtig verstanden habe. Die ganze folgende Diskussion, die Habermas an dieser Stelle in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ führt, wo er durchweg die Verstehensproblematik mit den Sozialwissenschaften verbindet und diese so von den Naturwissenschaften unterscheidet, ohne auch nur einmal noch auf die Geisteswissenschaften zu sprechen zu kommen, läuft darauf hinaus, daß er den Begriff der „Geisteswissenschaften“ selbst für veraltet hält und nicht den Gegensatz von „Erklären vs. Verstehen“.

Deshalb kann man durchaus die entsprechenden Ausführungen in seinem neuesten Buch zum nachmetaphysischen Denken in dieser Hinsicht als eine Kehrtwende verstehen. Zunächst einmal spricht Habermas wieder von einer ersten und einer zweiten Runde im Selbstverständnis der Geisteswissenschaften. Die erste Runde der historischen Geisteswissenschaften bestand darin, daß diese sich als „Kunstlehren“ verstanden, die aus der Poetik bzw. Rhetorik und aus den Philologien sowie aus dem Kanon der septem artes liberales (Grammatik Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) hervorgegangen waren. (Vgl. Habermas 2012, S.41) Die zweite Runde bestand darin, daß sich die Geisteswissenschaften, die Habermas jetzt mit den Sozialwissenschaften auf eine Ebene stellt, eine eigene „methodisch angeleitete Neugier“ auf die „kulturellen Lebensformen“ richteten und diese als einen eigenen, sich von den Naturwissenschaften unterscheidenden Gegenstandsbereich verstanden und behandelten. (Vgl. ebenda)

Das Spezifische an den „Geistes- und Sozialwissenschaften“ macht Habermas ganz ähnlich wie in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ am methodischen Übergang von der „Teilnehmer- in die Beobachterperspektive“ fest, der „die Kulturwissenschaften erst zu wissenschaftlichen Disziplinen eigenen Rechts macht“. (Vgl. Habermas 2012, S.41) Dabei unterscheiden sich die Geistes- und Sozialwissenschaften von den Naturwissenschaften nur in dieser methodischen Hinsicht und nicht hinsichtlich des ‚Gegenstandes‘. Tatsächlich haben wir es nur noch mit „zwei Seiten“ zu tun, von denen aus „Phänomene der Alltagswelt“ einer „wissenschaftlichen Objektivierung“ zugeführt werden: „Während sich die Naturwissenschaften der Idee unparteilicher Beurteilung auf dem Wege der Eliminierung lebensweltlicher Qualitäten der Alltagswelt nähern und kontraintuitives Wissen produzieren, können die Geistes- und Sozialwissenschaften dasselbe Ziel nur auf dem Wege der hermeneutischen Vergewisserung und vertiefenden Rekonstruktion von lebensweltlichen Umgangserfahrungen und Praktiken anstreben.()“ (Habermas 2012, S.43)

Auch hier haben wir es mit schwierigen, zu Mißverständnissen einladenden Formulierungen zu tun. Die „Phänomene der Alltagswelt“, denen sich Naturwissenschaften einerseits und Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits gleichermaßen widmen, scheinen Habermasens Worten zufolge einen gemeinsamen Gegenstandsbereich zu bilden. Dann ist aber wiederum von einem gemeinsamen Ziel die Rede, das vor allen Dingen darin zu bestehen scheint, objektives Wissen zu sammeln, was nicht unbedingt heißen muß, daß Naturwissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften auch einen gemeinsamen Gegenstand haben.

Tatsächlich geht Habermas auch gar nicht von einem gemeinsamen Gegenstandsbereich aus, wenn er davon spricht, daß die „Phänomene der Alltagswelt“ der Gegenstand beider Wissenschaftsbereiche seien. Vielmehr unterscheidet Habermas innerhalb der Alltagswelt eine objektive Welt als „Gesamtheit der beschreibungsunabhängig existierenden Gegenstände oder Referenten, von denen Sachverhalte ausgesagt werden können.“ (Vgl. Habermas 2012, S.24f.) Diese objektive Welt verstehen wir in unserem Alltag als eine allen Menschen gemeinsame Welt, – unabhängig davon, welche Überzeugungen, Werte und Weltbilder diese Menschen haben. An diese alltagsweltliche Einstellung zur objektiven Welt knüpfen die Naturwissenschaftler an, wenn sie die objektive Welt zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Neugier machen. Insofern hat die naturwissenschaftliche Einstellung ihre Wurzeln in der Alltagswelt.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften befassen sich hingegen nicht mit „beschreibungsunabhängig existierenden Gegenstände(n)“, sondern mit „Erlebnistatsachen“ (Habermas 2012, S.36), also mit „Datenquellen“, die erst „zu historischen, kulturellen und sozialen Tatsachen verarbeitet werden“ müssen. (Vgl. Habermas, S.41) Während sich also die Naturwissenschaften aus der Gesamtheit der „Phänomene der Alltagswelt“ heraus der „objektiven Welt“ zuwenden, befassen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften vor allem mit dem „objektiven Geist“ als einer „Externalisierung“ lebensweltlicher Bewußtseinsleistungen. (Vgl. Habermas 2012, S.65)

Aus dieser Gegenüberstellung von Naturwissenschaften auf der einen Seite und von Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite ergibt sich jetzt eine eigenartige, an Plessners Körperleib erinnernde Doppelaspektivität: die Naturwissenschaften spalten aus der Alltagswelt eine Außenperspektive auf die objektive Welt ab, und die Geistes- und Sozialwissenschaften spalten aus der Alltagswelt eine Innenperspektive ab, die sie allerdings in einem weiteren Schritt in eine Außenperspektive auf den objektiven Geist transformieren. Beide Wissenschaftsbereiche haben also ihr Zentrum in der Alltagswelt, die Habermas als „inklusiv“ bezeichnet: „... die Alltagswelt ist inklusiv, enthält nicht nur die performativ vertrauten, sondern auch die wahrgenommenen Elemente der natürlichen Umgebung, die uns frontal begegnen. ... Unmittelbar ist es diese Alltagswelt, die das Bild, das wir uns von der ‚objektiven Welt‘ machen – unser Weltbild also –, prägt.“ (Habermas 2012, S.26)

Von diesem alltäglichen Zentrum aus dezentrieren die Wissenschaften ihre Blickrichtungen, auf die objektive Welt die einen und auf den objektiven Geist die anderen. So kommt Habermas zu einer an Plessner erinnernden exzentrischen Positionierung der Wissenschaft: „... unter epistemologischen Gesichtspunkten hat das erkennende Subjekt eine gegenüber der Welt im Ganzen externe Stellung bezogen. Als Geist hat sich das Subjekt aus dem Ganzen vorstellbarer Objekte zurückgezogen. Andererseits kann es sich selbst, zusammen mit seinen Vorstellungen, Passionen und Handlungen, als in den kausalen Nexus der Welt verflochtenes Objekt in der Welt vorstellen. Daher geht die objektive Welt nicht vollständig in der Gesamtheit der physikalisch erklärbaren Phänomene auf; sie erstreckt sich auch auf das psychologisch zu erklärende Mentale. Das Mentale lässt sich zwar als Objekt betrachten, aber zugänglich ist es nur im Vollzugsmodus als tätiger und rezipierender Geist.“ (Habermas 2012, S.35)

Habermasens Hinweis auf den „Vollzugsmodus“ des tätigen und rezipierenden Geistes läßt aufhorchen. Denn Habermas thematisiert hier wie Plessner mit der exzentrischen Positionierung des Wissenschaftlers dessen Doppelaspektivität als Objekt und Subjekt, als Außen und Innen: „Das Bewusstsein verschränkt sich von Haus aus mit Selbstbewusstsein. Die extramundane Stellung dieser verqueren, weil nur performativ im Erleben gegenwärtigen Bewusstseinszustände bleibt ein Stachel für die Konzeption einer versachlichten, alle kausal vernetzten Körper einschließenden Welt. Unter der Beschreibung mentaler Zustände und Ereignisse rückt das Psychische, das ja nur im Vollzug, also aus dem Blickwinkel der ersten Person zugänglich ist, in die begriffliche Perspektive einer vorübergehenden Anomalie. Aber das Mentale behält trotz dieser Anwartschaft auf eine naturwissenschaftliche Erklärung ein Janusgesicht. Erlebnistatsachen machen bis heute auf eine irritierende Unvollständigkeit der objektivierenden Weltbeschreibung aufmerksam.()“ (Habermas 2012, S.36)

Allerdings wird diese janusköpfige Beschaffenheit wissenschaftlichen Wissens arbeitsteilig in eine „bipolare Versachlichung“ aufgelöst. (Vgl. Habermas 2012, S.46) Wir haben es letztlich doch nicht mit einem zweifach perspektivierten, sondern mit einem „gespaltenen Bild von der objektiven Welt“ zu tun: „Das humanwissenschaftliche Vokabular lässt sich nicht ans naturwissenschaftliche anschließen, Aussagen des einen Vokabulars lassen sich nicht in Aussagen des anderen übersetzen. Das Gehirn ‚denkt‘ nicht().“ (Habermas 2012, S.47)

Um das volle weltbeschreibende und welterklärende Potential wissenschaftlichen Wissens einzuholen, bedarf es deshalb nach wie vor einer eigenen Disziplin, die sich, da sie keinen eigenen Gegenstandsbereich für sich beansprucht (vgl. Habermas 2012, S.7), dem wissenschaftlichen Wissen als Ganzem zuzuwenden vermag: „Sie (die Philosophie – DZ) beteiligt sich nicht unmittelbar an der Vermehrung unseres Wissens über die Welt, sondern fragt danach, was das wachsende Weltwissen, das im Umgang mit der Welt Gelernte, jeweils für uns bedeutet. Statt beispielsweise in der Rolle einer Hilfsdisziplin für die Kognitionswissenschaften aufzugehen, sollte die Philosophie nach wie vor ihrer Aufgabe nachgehen, im Lichte der verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse ein begründetes Selbst- und Weltverständnis zu artikulieren.“ (Habermas, 2012, S.16)

Die von „Phänomenen der Alltagswelt“ ausgehenden, dezentrierenden Wissenschaftsrichtungen auf die objektive Welt und den objektiven Geist bedürfen also der zentrierenden Korrektur bzw. Ergänzung – oder auch Vollendung? – durch eine wiederum exzentrisch, also außerhalb des Weltwissens positionierte Disziplin, der Philosophie, um Sinn zu machen.

Wenn Habermas die Wissenschaften mit der Philosophie insgesamt systematisch in eine gemeinsame Perspektive auf den Menschen und sein Wohl – und damit auch auf die sein Überleben bedrohenden Gefährdungen – einbindet, ist das durchaus begrüßenswert. Doch haftet auf dieser menschengefälligen Systematik ein unschöner Fleck. Denn was alle Menschen angeht und wozu alle Menschen etwas zu sagen und beizutragen haben, weil wir alle Beteiligte und Betroffene einer Lebenswelt sind, wird von Habermas mit der Philosophie in die Verantwortung einer spezialisierten Expertenelite gestellt: „Weil die Philosophie auch zu einer wissenschaftlichen Disziplin geworden ist, beginnt die Überzeugungsarbeit im Kreise der peers. Wer nicht durch die Schleuse der professionellen Kritik hindurchgeht, gerät mit Recht in den Verdacht der Scharlatanerie.“ (Habermas 2012, S.7)

Mit diesem gleichzeitig elitären wie auf mediale Öffentlichkeit schielenden Standpunkt verprellt Habermas unnötig den „Common Sense“ (Habermas 2012, S.26) des vermeintlich ‚gesunden‘ Menschenverstandes, den ich selbst in diesem Blog immer gerne mit der Frage nach der Möglichkeit einer individuellen Urteilskraft verbinde. Man denkt sich unwillkürlich: „Aha! Also die Peers!“, und: „Gehöre ich dazu?“

Jedenfalls ist in Habermasens „Theorie des kommunikativen Handelns“ der „Raum der Gründe“ (Habermas 2012, S.24, 55, 57, 74) noch nicht so auf einen kleinen Expertenkreis eingeschränkt. Und auch in „Nachmetaphysisches Denken II“ gibt es Stellen, die weniger elitär klingen: „Zwischen Alltag und Expertenkulturen ist der Raum der Gründe jedenfalls nicht ‚versiegelt‘, sondern osmotisch durchlässig;() denn Gründe zirkulieren zwischen dem breiten Flussbett der Alltagskommunikation und den stärker kanalisierten Expertendiskursen.“ (Habermas 2012, S.55)

So macht Habermasens merkwürdiges Schwanken zwischen der diskursiven Würde der Alltagswelt und dem „Verdacht der Scharlatanerie“, der durch Expertendiskurse begegnet werden muß, vor allem eines deutlich: Wie in den folgenden Posts gezeigt werden soll, hat Habermas keine materielle Basis für das, was Plessner exzentrische Positionalität nennt. Der Habermassche Raum der Gründe bildet einen luftleeren, körperlosen Raum.

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