„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 27. November 2012

Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012

(Siehe auch Geld und Sinn“, „Kulturelle ‚Explosion‘“, Geld gegen Gemeinschaft, Lebenswelt und unsichtbare Hand, Zur Materialität der Schrift, Der Glaube an nichts, Gemeinsame und konkurrierende Aufmerksamkeit I, Gemeinsame und konkurrierende Aufmerksamkeit II, Entwicklung als Bedeutungslinie und Das Ich im Sumpf)

1. Kastration, Sublimation, Transsubstantiation
2. Schuld, Unschuld und zweite Unschuld
3. Alphabet und Bildung
4. Das Fremde in der Gemeinschaft

Mit dem Zusammenhang von Alphabetisierung und Bildung haben wir uns in diesem Blog schon an anderer Stelle befaßt. (Vgl. meinen Post vom 09.03.2011) Dort ging es um Stanislas Dehaenes These, daß die wichtigste Veränderung des Kindes durch den Schulunterricht in dem Umbau seiner neurophysiologischen Funktionen liege, wie er durch das Lesen- und Schreibenlernen bewirkt werde. Dabei spricht Dehaene zunächst geheimnisvoll von einem ‚Verlust‘, den wir aufgrund der begrenzten Plastizität des Gehirns durch diese neue Fähigkeit erleiden. (Vgl. meine Posts vom 05.03.2011 und vom 06.03.2011) Wenn man aufgrund dieser zunächst nicht weiter erläuterten Andeutung angeregt über tiefreichende Konsequenzen für die conditio humana spekuliert, erfährt man später aber, daß Dehaene bei dem angedeuteten Verlust lediglich an die Fähigkeit des Spurenlesens denkt. – Wer schreiben und lesen lernt, verliert also die Fähigkeit, Spuren zu lesen, was einen auf doppelte Weise enttäuscht: einerseits hat man sich etwas weniger Banales erhofft, und andererseits sind Dehaenes Argumente zur begrenzten Plastizität des Gehirns nicht besonders überzeugend.

In dieser Hinsicht hat von Brauns kulturgeschichtlicher Zugang zu diesem Thema mehr zu bieten. Von Braun zufolge handelt es sich bei dem Alphabet um eine „Domestizierungsmaschine des Körpers“: „In der Dialektik der Aufklärung schreiben Adorno und Horkheimer: ‚Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.‘() Was ist dieser männliche Charakter, der durch ‚furchtbare Verwundungen‘ entsteht? Ich habe im vorangegangenen Kapitel dargestellt, dass das Alphabet als Domestizierungsmaschine des Körpers zu verstehen ist – und dieser Vorgang wiederholt sich in jeder Kindheit.“ (Braun 2/2012, S.147)

In welcher Weise aber könnte das Erlernen des Alphabets den Körper domestizieren? Von Brauns Vergleich der semitischen und griechischen Schriftsysteme gibt darüber nähere Auskunft. Bei den semitischen Schriftsystemen handelt es sich um das hebräische und das arabische Alphabet. Beide Schriftsysteme sind Konsonantenschriften, die nur derjenige lesen kann, der die Sprache spricht, „also aus dem Inhalt erschließen kann, welches Wort gemeint ist: Wenn dort ein ‚r‘ und ‚s‘ steht, muss der Kontext sagen, ob ‚Riese‘, ‚Rose‘ oder ‚Iris‘ gemeint ist.“ (Vgl. Braun 2/2012, S.109) Semitische Schriften müssen immer vom Kontext her erschlossen werden, also entweder vom Textkontext her oder von einem äußerem Kontext her, in den der Text eingeordnet wird.

Zum besseren Verstehen einer Konsonantenschrift gehört deshalb das laute Sprechen bzw. Rezitieren. So trägt die Gemeinschaft des mündlichen Vortrags zum Verstehen des Textes bei: „In der jüdischen religiösen und weltlichen Tradition erhielt sich so eine hohe Bewertung des gesprochenen Wortes. Schriftlichkeit und Mündlichkeit galten als komplementär. ... Die Weitergabe der Heiligen Schrift verlief von Generation zu Generation, von Lehrer zu Schüler über die sprechenden Körper.“ (Braun 2/2012, S.109f.)

Ich habe dieses körperliche Lesen an anderer Stelle als „Verstehenshaltung“ beschrieben (vgl. meine Posts vom 21.07.2011 und vom 30.01.2012), und ich bin dabei davon ausgegangen, daß es in Form des inneren, stillen Mitsprechens ein grundlegendes Moment der Hermeneutik, also des Textverständnisses bildet, unabhängig vom Schriftsystem.

Von Braun kann nun aber, wie ich finde, auf überzeugende Weise darlegen, daß hebräische und arabische Schrifttraditionen diesem körperlichen Beitrag zum Textverständnis eine viel größere, bewußtere Aufmerksamkeit widmen als griechische und lateinische Schrifttraditionen. Der Verlust, der mit der griechisch-lateinischen Alphabetisierung einhergeht, besteht im Vergessen, im Herabsinken des körperlichen Anteils ins Unterbewußte. Indem der körperliche Beitrag, die Mündlichkeit, in Form der Vokale ins Schriftsystem übertragen wird, werden die Texte von den Entstehungs- und Verwendungskontexten unabhängig. Die Texte müssen nicht mehr in Gemeinschaften gelesen und rezitiert werden, um verstanden zu werden: „Das impliziert einen hohen Grad an Abstraktion, der sich die Vorstellung verdankt, dass es nur eine (berechenbare, unwiderlegbare, der Entkörperung verpflichtete) Form von Logik und wissenschaftlicher Wahrheit gibt. ... Der Vorgang der Entleibung, den das ‚volle Alphabet‘ impliziert, schlägt sich u.a. in der Tatsache nieder, dass sich die meisten unserer wissenschaftlichen Begriffe aus ‚toten Sprachen‘ – Altgriechisch und Latein – ableiten. Nur über tote Sprache lassen sich eindeutige – ‚neutrale‘ – Begriffe bilden, die dem Zugriff des Einzelnen und seiner Körperlichkeit wie Subjektivität und Geschlechtlichkeit entzogen sind.“ (Braun 2/2012, S.110)

Die eingangs angesprochene Domestikation des Körpers besteht also in einer kulturellen ‚Tätowierung‘. Von Braun spricht von „Einschreibung“. (Vgl. Braun 2/2012, S.112) Diese Einschreibung geschieht in beiden Schriftsystemen, den griechischen wie den semitischen. Während aber die semitischen Schriftsysteme via „Rezitation und Gesang“ (Braun 2/2012, S.110) lediglich zu einer Tätowierung des Körpers mit „Erinnerung und Wissen“ (ebenda) führen, führt das griechisch-lateinische Schriftsystem zu einer „Entleibung“ (ebenda). Darin bestehen also der Ertrag und der Verlust einer Schulbildung, die sich Horkheimer/Adorno und von Braun zufolge in jeder Kindheit wiederholt. Daneben erscheinen die eingangs erwähnten neurophysiologischen Diagnosen, die ja mit ihrer Konzentration auf das Gehirn im Grunde selbst eine Folge dieses Entleibungsvorgangs bilden, als recht harmlos.

Zum Schluß möchte ich noch auf ein kurioses Detail zu sprechen kommen, für das sich insbesondere Blumenberg sehr interessiert hätte. Blumenbergs Anthropologie orientiert sich an der Frage, was die Selbstaufrichtung des Menschen, der aufrechte Gang, für das Bewußtsein des Menschen bedeutet. (Vgl. meinen Post vom 06.09.2011) Von Braun beschreibt nun dasselbe Phänomen in der Entwicklung des semitischen Alphabets zum griechischen Alphabet, und zwar analog zur Aufrichtung des Menschen. Die seitwärts geneigten semitischen Buchstaben, die insbesondere in Gestalt des ersten Buchstabens u.a. Tiergestalten repräsentieren, beginnen sich im Laufe der Zeit zu drehen, bis sie im griechischen Alphabet aufrecht stehen und so den Übergang von einem „theriomorphischen zu einem anthropomorphischen Weltkonzept“ nachvollziehen: „Die Buchstaben des griechischen Alphabets erzählen von einem Prozess, in dessen Verlauf sexuelle Fruchtbarkeit und Fruchtbarkeitsriten abgelöst werden von einer Vorstellung geistiger Zeugung und Fruchtbarkeit.“ (Braun 2/2012, S.67)

Hier ist es aber sicher angebracht, nochmal auf Jan Assmanns Einwand zu verweisen, daß das kulturelle Potential eines Schriftsystems nicht deterministisch festgelegt ist, sondern daß es vor allem auf den Gebrauch ankommt, den die Menschen von ihren Schriftsystemen machen. (Vgl. meinen Post vom 19.02.2011) Allerdings wird ein sich ändernder Gebrauch sich letztlich auch auf die Entwicklung der Schriftsysteme auswirken, denn schließlich ist ja das griechische Alphabet aus dem semitischen hervorgegangen.

Wie sehr aber dann wiederum das Alphabet selbst sich auf Bewußtseinsvorgänge auswirken kann, zeigt von Braun auf so überzeugende Weise, daß Marxens Diktum, daß das Sein das Bewußtsein bestimme, mindestens modifiziert werden muß und zu diesem ‚Sein‘ auch Schriftsysteme und das dazugehörige Geld mit seiner geistigen Potenz gehören.

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