„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. Januar 2011

Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen des menschlichen Verhaltens, München 1950 (1941)

1. Positionalität und Haltung
2. Positionalität und Situation
3. Gefühl und Sinn
4. Verstand und Herz
5. Dummheit und Intelligenz

Über Dummheit läßt sich viel Kluges schreiben. Dazu gehört aber keinesfalls, sie als Gegensatz zur Intelligenz darzustellen. Dummheit ist genauso wenig ein Gegensatz zur Intelligenz, wie Intelligenz ohne Bezug auf die individuelle und gesellschaftliche Bedürfnislage überhaupt irgendetwas ist, über das sich zu schreiben lohnt. Was auch immer Substanzielles man über ‚Intelligenz‘ herauszufinden versucht, – man wird letztlich immer einen Bezug zu den Anforderungen der jeweiligen ökonomischen und kulturellen Bedingungen herstellen müssen, unter denen sich die jeweilige individuelle ‚Intelligenz‘ bewähren muß, und man wird dabei zu keinem anderen Ergebnis kommen können als Joseph Jacotot (4.03.1770-30.07.1840), dessen Leben und Wirken Jacques Ranciére in seinem Buch „Der unwissende Lehrmeister“ beschreibt. Jacotot befand, daß wir die Intelligenz entwickeln, die die Bedürfnisse und die Umstände unserer Existenz von uns verlangen: „Da, wo das Bedürfnis endet, ruht sich die Intelligenz aus, außer ein stärkerer Wille verschafft sich Gehör und sagt: Mach weiter ...“ (Vgl. Jacques Ranciere, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien 2007, S.66)

Prägnant zusammengefaßt in der Formel: „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ (Ranciere 2007, S.66) – haben wir hier wieder den Zusammenhang von Verstand und Herz bzw. von Reflexion und Naivität. In dieser Verhältnisbestimmung der individuellen Urteilskraft hat der Begriff der „Dummheit“ nichts zu suchen.

Deshalb überrascht es mich sehr, daß ich ausgerechnet bei Plessner, dessen scharfen, differenzierten und vorurteilsfreien Blick auf die menschliche Natur ich so sehr schätze und bewundere, auf eine recht – wie ich finde – ‚schräge‘ Verhältnisbestimmung von Dummheit und Intelligenz stoße. So heißt es in „Lachen und Weinen“, daß „die Dummheit viel mehr zum Lachen (neigt) als die Intelligenz“, und begründet wird das mit der Enge des Horizonts der ‚Dummen‘; denn: „Je enger der Horizont, desto ärmer die Möglichkeiten des Verstehens, desto rascher an der Grenze der Sinnlosigkeit und Ambivalenz“, die dann zum Lachen reizt. (Vgl. Lachen/Weinen, S.121)

In dieser kuriosen Zusammenstellung von Horizontstruktur, Dummheit und Intelligenz widerspricht Plessner allem, was er davor und auch danach über das Lachen schreibt. Obwohl er sich mit präzisem Feingefühl gegen die Lebenswelttheoretiker wendet, denen er vorwirft, der Leib-Seeleproblematik auszuweichen, „indem sie in eine angeblich noch problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz“ zurückweichen (vgl. Lachen/Weinen, S.39) und so nicht begreifen können, daß sich die Grenze zwischen Vertrautheit und Fremdheit mitten durch diese Lebenswelt zieht, spricht er in bezug auf die Dummheit von der Enge des Horizonts! Lachen ist aber Plessners eigener Analyse zufolge allererst ein Kontrollverlust an der die vertrauten Verhältnisse des Daseins von innen her durchziehende Grenze zwischen Vertrautheit und Fremdheit; ein Kontrollverlust sowohl über den eigenen Körper als auch über den Situationsbezug, wobei die körperlichen Reaktionen im Lachen und Weinen den Situationsbezug ‚quittieren‘, d.h. in seiner Unbeantwortbarkeit loslassen können.

Wollte man hier ernsthaft von ‚Dummheit‘ reden, müßte man sich also nicht etwa auf die Horizontstruktur beziehen, die letztlich immer nur die Horizontstruktur einer Lebenswelt sein kann, die als Horizont mit Lachen und Weinen nicht das Geringste zu tun hat, sondern auf diesen Mechanismus des Loslassens. Dazu bedarf es aber allererst der Naivität. Denn um angesichts des inmitten des scheinbar Vertrauten aufbrechenden (nicht etwa von einem beschränkten und beschränkenden Horizont her hereinbrechenden) Fremden die Kontrolle loslassen und lachen zu können, brauchen wir Naivität, also wiederum Vertrauen, daß es schon gut gehen wird mit dem Lachen.

Denn wann gerät uns das Lachen zum Übel aus? – Wenn wir uns nicht einfach nur loslassen, uns und die Situation, der wir hilflos gegenüberstehen, sondern wenn wir im Darüberlachen jemanden im Stich lassen, was auch eine Form des Loslassens ist, nur eben keine gute. Denn es besteht im Lachen immer auch die Gefahr, den Anderen (und damit eben auch sich selbst) im Stich zu lassen, – ihn auszulachen. Dazu aber neigt die ‚Intelligenz‘ genauso wie die ‚Dummheit‘. Dummheit und Intelligenz sind eben keine Gegensätze! Sie tragen die gleiche Schwäche in sich: die Kontrolle nicht aufgeben zu wollen, die Haltung um jeden Preis bewahren zu wollen, und sei es auf Kosten des Anderen. Loslassen und im Stich Lassen liegen eng beieinander. Lassen wir los, so ist es Naivität, lassen wir jemanden im Stich, so ist es Dummheit, denn Dumme lassen nicht zuletzt sich selbst im Stich.

Es ist also so, wie Jacotot schreibt: „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ – Wo der Wille sich unbedingt halten will, auch wenn die Umstände ihm seine Erfüllung versagen, wird ihm die Intelligenz auch dort zu dienen versuchen, mit welchen Folgen auch immer. Nichts anderes aber ist Dummheit.

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