„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 23. Januar 2011

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7/1988 (1956)

(Über prometheische Scham, S.21-95; Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, S.97-211; Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück „En attendant Godot“, S.213-231; Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, S.233-308)

1. Bilder, Phantome und Informationen
2. Falsche Lebenswelten (coram publico)
3. Falsche Lebenswelten (Verbiederung)
4. Falsche Lebenswelten (Produktion)
5. Falsche Lebenswelten (Technik)
6. Falsche Lebenswelten (persönliche Verantwortung)
7. Mensch und Natur
8. homo ‚excentricus‘
9. Skizzen zu einer ästhetischen Bildung

Vergeßt Beaudrillard mit seiner „Agonie der Realität“ und die ganze Postmoderne der achtziger Jahre. Schon gut zwei Jahrzehnte vorher, in den fünfziger Jahren, hat Günther Anders mit der Antiquiertheit des Menschen derart revolutionäre, weil das bisherige Selbstverständnis des Menschen umwälzende Analysen zur proportio humana geliefert, daß sie danach von niemandem, auch nicht von Hans Jonas mit seinem Prinzip Verantwortung, überboten werden konnten. Anders’ Analysen wurden bislang auch nicht widerlegt und durch die eingetretenen Entwicklungen zumindestens teilweise bestätigt. Dabei ist es weniger erstaunlich, wie sehr Günther Anders bei aller denkerischen und analytischen Konsequenz noch den Mief der fünfziger Jahre atmet, – man denke nur an seine höchst peinlichen, seitenlangen Ergüsse zum Jazz als Epiphänomen der industriellen Fließbandproduktion. Viel erstaunlicher ist es, daß dieser Mief, den ich vielleicht weniger wertend einfach Zeitgeist nennen sollte, ihn nicht daran gehindert hat, die innere Selbständigkeit zu bewahren und Entwicklungen zu beschreiben und vorherzusagen, wie sie uns bis heute bestimmen und sich sogar noch verschärft haben. Ob er das technologische Potential, wie wir es heute vor Augen haben, im einzelnen wirklich so vorhergesehen hat, ist dabei wiederum weniger erheblich, als daß er die ihm innewohnende Absurdität, den gedankenlosen Nihilismus, klar durchschaut und auf den Begriff gebracht hat.

An den Anfang meiner folgenden Posts möchte ich Anders’ Analyse des Rundfunks (Radio und TV) stellen. Dabei steht der Begriff des Bildes im Zentrum, von dem Anders zwei weitere Begriffe ableitet, die er eng mit den Rundfunkmedien verknüpft: die Begriffe des Phantoms und der ‚Nachricht‘. Für den letzteren Begriff werde ich im folgenden den Begriff der Information verwenden. Anders definiert das Bild als Repräsentation abwesender Gegenstände. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.131) Sein ontologischer Status ist eindeutig: es selbst ist nur insofern anwesender Gegenstand, als es abwesende Gegenstände re-präsentiert. Da Anders hier aber ausdrücklich keine Ästhetik, keine Theorie des ästhetischen Gegenstandes liefern will, geht er nicht weiter auf diesen Charakter des Bildes als ästhetischen Gegenstand ein und nutzt ihn nur als Folie für seine weitere Auseinandersetzung mit dem Rundfunkmedien.

Dabei differenziert Anders zwischen Radio und TV hinsichtlich ihrer Funktion, über aktuelle Ereignisse zu berichten. Während das Fernsehen nämlich wiederum ‚Bilder‘ liefert, also nicht die Ereignisse selbst – die ‚Abwesenheit‘ der Ereignisse im TV-Bild im Vergleich zum Radio wird hier vorerst noch nicht in Zweifel gezogen –, so liefert das Radio Anders zufolge die Ereignisse selbst: „Auch das Grammophon präsentiert uns ja kein Bild der Symphonie, sondern diese selbst. Kommt eine Massenversammlung zu uns übers Radio, so ist, was wir zu hören meinen, kein ‚Bild‘ der lärmenden Menge, sondern deren Lärm, auch wenn die Menge selbst uns nicht physisch erreicht. – Außerdem aber befinden wir uns, es sei denn es werde ein Kunstwerk (etwa ein Drama) einschließlich seines Scheincharakters übertragen, als Zuhörer in einer nichts weniger als ästhetischen Haltung: Wer den Fußballmatch abhört, tut es als erregter Parteigänger ...“ (Antiquiertheit Bd.1, S.130f.)

Soweit scheint also das Radio paradoxerweise ein ‚Medium‘ der ‚Unmittelbarkeit‘ zu sein. Denn die Täuschung, daß wir es mit den im Radio präsentierten Ereignissen unmittelbar und nicht etwa mit inszenierten, arrangierten Ereignissen zu tun haben, wird ja im TV-Bild schon durch dessen Bildcharakter verhindert. Allein der Bildschirm verweist ja schon auf den medialen Charakter der gesendeten Ereignisse. Nie wäre man z.B. darauf reingefallen, daß die berühmte Invasion vom Mars in dem Orson-Welles-Hörspiel ein wirkliches Ereignis darstellte, wäre es kein Hörspiel, sondern ein Fernsehspiel gewesen.

Aber so ist es Anders zufolge eben nicht. Nicht nur Radiosendungen, sondern auch die im Fernsehen berichteten Ereignisse haben einen ontologisch zweideutigen Status. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.131) Das liegt vor allem daran, daß auch sie den Informationscharakter der gesendeten Nachricht verbergen. Dieser Informationscharakter besteht in der Ur-Teilung jedes wahrgenommenen, also unmittelbar und als Ganzes anwesenden Gegenstandes in zwei Komponenten: in Subjekt (S) und Prädikat (p). (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.157) Subjekt ist dabei der gemeinte, also der wahrgenommene (anwesende) Gegenstand, und Prädikat ist das, was an diesem Gegenstand aktuell für uns interessant ist. Jede Radio- und Fernsehsendung vollzieht so eine Ur-Teilung des Ereignisses: wir hören und wir sehen davon nur genau das, was uns in Form einer Inszenierung davon gezeigt wird. Diese Inszenierung ist das ‚p‘ des eigentlichen Ereignisses.

Aber als Zuhörer und Zuschauer entgeht uns diese Inszenierung, dieser Urteilscharakter der gesendeten Nachricht. Wir haben den Eindruck, das ganze Ereignis als solches zu hören bzw. zu sehen. Und die Radio- und TV-Macher legen es auch genau darauf an, diesen Eindruck zu verstärken und jeden Verdacht auf die Künstlichkeit der Sendung zu unterbinden. So kommt es dazu, daß wir gar nicht mehr auf den Gedanken kommen, uns unsere eigenen Gedanken zu machen, unseren eigenen Verstand zu gebrauchen. Die ontologische Zweideutigkeit der Rundfunkproduktionen versetzt uns in einen – alles andere als ästhetischen – Zustand, „in dem die Unterscheidung zwischen Ernst und Unernst nicht mehr gilt, und in dem der Hörer die Fragen: in welcher Weise das Gesendete ihn angehe (ob als Sein oder Schein, ob als Information oder als ‚fun‘) oder als wer er die ihm eingehändigte Lieferung in Empfang nehmen solle (ob als moralisch-politisches Wesen oder als Mußekonsument) nicht mehr beantworten, ja sich nicht einmal mehr vorlegen kann.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.142f.)

Können wir also bei Bildern normalerweise sehr wohl zwischen Abwesendem und Anwesendem unterscheiden, so daß wir eine entsprechende Haltung ihnen gegenüber einnehmen, nämlich eine ästhetische, so werden die neuen ‚Bilder‘, die uns die Rundfunkmedien liefern, ontologisch zweifelhaft. Eigentlich haben wir es mit Informationen zu tun, mit deren Urteilscharakter wir eigentlich keine Probleme haben. Nie würden wir die Information „Dein Keller ist überflutet!“ für die Wirklichkeit selbst halten. Vielmehr werden wir sofort versuchen, uns selbst ein Bild darüber zu machen und natürlich auch erste Maßnahmen zur Trockenlegung einleiten, je nach dem ob es sich um einen Wasserrohrbruch oder um ein Überschwemmungsgebiet handelt. Wenn wir dann aber letztlich feststellen, daß es sich nur um einen gerademal bis an die Fußknöchel reichenden Wasserstand handelt, der unser in Regalen gelagertes Hab und Gut nicht weiter bedroht, so werden wir dem Informanten daraus sicher keinen Vorwurf machen. Unser eigenes Urteil über den möglichen Schaden deckt sich vielleicht nicht mit dem Urteil des Informanten, der uns zwischenzeitlich ganz schön in Panik versetzt haben mag; aber dennoch war die Information völlig korrekt.

So wie wir also zwischen Informationen und Ereignissen sehr wohl unterscheiden können, können wir das bei Nachrichtensendungen eben nicht so einfach. Und deshalb bezeichnet Anders die von Nachrichtensendungen übermittelten ‚Bilder‘ als ‚Phantome‘. Sie haben den Charakter von ‚Phänomenen‘, sind aber so arrangiert, daß sie weder Bilder noch Phänomene sind, sondern eben Phantome. Und das im doppelten Sinne: denn sie bringen nicht nur „die Welt unter ihrem Bilde zum Verschwinden“ (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.153f.), sondern unter dem Diktat der Rundfunkmedien werden schon die Ereignisse selbst so arrangiert, daß sie zu Phantomen werden, noch bevor sie gesendet werden. Am Beispiel des Politikers, der ein Lächeln aufsetzt, wenn sich eine Kamera auf ihn richtet, am Beispiel des Photomodells, das ihren Körper mit Hilfe aller zur Verfügung stehenden „Selbstverwandlungstechniken“ (Antiquiertheit Bd.1, S.275 (der Ausdruck erinnert nicht von ungefähr an Sloterdijks „Du mußt dein Leben ändern“)) so zurichtet, daß er den medialen Erfordernissen entspricht, und mit vielen anderen Beispielen veranschaulicht Anders, wie die Ereignisse von vornherein so zugerichtet werden, daß sie sich überhaupt nur ereignen, wenn sie sich fernsehgerecht ereignen: „Unsere heutige Welt ist ‚post-ideologisch‘, das heißt: ideologie-unbedürftig. – Womit gesagt ist, daß es sich erübrigt, nachträglich falsche, von der Welt abweichende Welt-Ansichten, also Ideologien, zu arrangieren, da das Geschehen der Welt selbst sich eben bereits als arrangiertes Schauspiel abspielt. Wo sich die Lüge wahrlügt, ist ausdrückliche Lüge überflüssig.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.195)

Letztlich sind also nicht nur die Fernseh-‚Bilder‘ Phantome, bei denen wir nicht mehr zwischen der Ab- und Anwesenheit der Ereignisse unterscheiden, sondern die Ereignisse selbst werden zu Phantomen, weil über ihre Anwesenheit nicht mehr unsere Wahrnehmung entscheidet, sondern die Kamera.

Die Ereignisse werden eigens für die Fernsehsendungen arrangiert, heißt letztlich, daß sie Warencharakter annehmen: sie werden produziert, um konsumiert zu werden. Und Waren sind wiederum, nach der ‚S und p‘-Formel, Vor-Urteile (vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.161ff.), die wir als Zuhörer und Zuschauer mitkonsumieren und aufgrund des damit einhergehenden Verstandverzichtes davon in unserem Denken und in unserer Wahrnehmung geprägt werden. Hier schließt sich der Kreis, der keine Lücke aufweist. Wir werden sehen, inwiefern Anders dennoch auf solche ‚Lücken‘ in der Selbstproduktion des warenförmigen, surrealen Menschen zu sprechen kommt, ohne ihnen allerdings die volle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie verdienen.

Abschließend möchte ich noch kurz auf die Unterscheidung zwischen Bildern und Informationen zu sprechen kommen. Anders verweist in diesem Zusammenhang auf den früheren Zeitungsleser, der noch zwischen Informationen und Ereignissen unterscheiden konnte und nur hinsichtlich des ontologischen Status seiner Erinnerungen verunsichert werden konnte, wenn z.B. „ein Inhalt in den Vorratskeller seines Wissensbestandes abgesunken ist, ... ob er diesen einer direkten oder einer indirekten Erfahrung verdanke.“ (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.159) Anders’ Hinweis auf den Vorratskeller ist interessant: der Gedanke liegt nahe, daß Informationen im ‚S ist p‘-Format bei der Abspeicherung im Gedächtnis in Bilder umgewandelt werden (entsprechendes kann man bei Damasio nachlesen) und so ihren Informationscharakter verlieren! Dieser Gedanke ist deshalb naheliegend, weil es dem Bewußtsein immer auf den vollständigen Gegenstand ankommt, also auf das ‚S‘ und nicht auf das ‚p‘. Das Gedächtnis müßte also genau auf dieser Basis funktionieren: Informationen so abzuspeichern, als wären sie Gegenstände.

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