„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 15. Oktober 2024

Die universelle Praxis von Ich = Du

Aleida und Jan Assmann haben gemeinsam das Buch „Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn“ (2024) geschrieben. Jan Assmann ist noch vor dem Erscheinen des Buches am 8. März diesen Jahres gestorben. Schon früh habe ich Jan Assmann in diesem Blog besprochen und auch danach von seinen Büchern geistig profitiert. Aleida Assmann habe ich erst später entdeckt und dann ebenso schätzen gelernt.

In den letzten Monaten bin ich anläßlich meiner Lektüren in diesem Blog immer wieder auf mein Konzept von Ich = Du zu sprechen gekommen. Auch das Buch des Autorenpaars hat mir neue Impulse zu meinem Konzept geschenkt und so die Gelegenheit gegeben, meine Gedanken zu ordnen und zu schärfen. Überrascht hat mich dabei der Bezug auf Karl Löwith (1897-1973), der ebenfalls ein Konzept zur Dualität entwickelt hat (vgl. Assmann 2024, S.94ff.) und den ich bislang als einen Vorläufer für mich gar nicht im Blick gehabt habe. Das Autorenpaar stellt Löwiths Philosophie neben Martin Bubers dialogisches Prinzip eines gleichberechtigten, wechselseitigen Ich-Du-Verhältnisses, geht dabei aber nicht weiter auf die Verzerrung dieses dialogischen Verhältnisses durch ein drittes Du ein. (Vgl. Assmann 2024, S.94f.)

Aleida und Jan Assmann unterscheiden insgesamt vier Bedeutungsebenen des Ge­meinsinns. (Vgl. Assmann 2024, S.94f. und S.189) Erstens faßt der Gemeinsinn alle Sinnesorgane zu einem Gesamtsinn zusammen. Umgangssprachlich hat er also die Funktion eines ,sechsten Sinns‛. Zweitens bildet er so etwas wie einen ,gesunden Menschenverstand‛, also ähnlich wie der britische ,common sense‛. Drittens bezeich­net der Gemeinsinn die Zivilgesellschaft, die sich für die Gesellschaft engagiert. Auf eine vierte Variante des Gemeinsinns kommt das Autorenpaar gegen Ende seines Bu­ches zu sprechen und schließt aus der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ,communis‛ auf eine gemeinsame Verpflichtung, auf eine „Pflicht“ und auf einen „Dienst“, die bzw. der darin besteht, sich für die „Mitmenschlichkeit“ und für „Menschenrechte“ einzusetzen.

Mich interessiert an Aleida und Jan Assmanns Ansatz vor allem der Versuch, den Gemeinsinn als eine individuelle Fähigkeit darzustellen, dem Leben gemeinsam mit anderen Menschen einen Sinn zu geben. Das ergibt natürlich eine Spannung zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen, die sich mit dem gemeinsamen Handeln verbinden.

Das Grundproblem, auf das das Autorenpaar immer wieder zu sprechen kommt, besteht darin, wie sich Menschen über die Grenzen ihrer Gemeinschaft hinaus auf eine Menschheit verpflichten lassen, die den ganzen Planeten umfaßt. Deshalb befassen sich Aleida und Jan Assmann durchgehend mit der Frage nach der Solidarität (vgl. Assmann 2024, S.35ff.), die sie noch einmal als „Solidarität-mit“ und als „Solidarität-gegen“ differenzieren (vgl. Assmann 2024, S.46ff.).

Ich möchte diese beiden Solidaritätsformen im Sinne meiner folgenden Überlegungen gerne leicht umformulieren: Solidarität füreinander und Solidarität gegeneinander. Während Aleida und Jan Assmann mit den unterschiedlichen Solidaritätsformen vor allem unterschiedliche Gruppen fokussieren, also offene und geschlossene Gruppen wie rechtsstaatliche Demokratien mit Minderheitenschutz versus einzelne Ethnien zur Volksgemeinschaft aufwertende Staatsformen, geht es mir hier vor allem um die Individuen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft. Dabei steht Karl Löwith mit seinem dialogischen Schema von ,Subjekt‛ und ,Objekt‛ für die Solidaritätsform des füreinander Eintretens und Carl Schmitt (1888-1985) für die Solidaritätsform des Gegeneinander von Freund und Feind.

Individuelle Solidarität


Wenn Karl Löwith (1928) seine dialogische Philosophie mit einer Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt beginnt, geht es ihm dabei weniger um Erkenntnistheorie als vielmehr um eine sozial-anthropologische Fundamentalreflexion. Für das Subjekt sind eben nicht alle Objekte gleich. Es gibt Objekte, die sich kategorial von den übrigen Objekten unterscheiden: die Mitmenschen. Mitmenschen sind ,Objekte‛, die zugleich Subjekte sind, also Menschen, die sich gegenseitig auf eine Weise spiegeln, wie das einfache Objekte nicht können: „Der Mensch erkennt sich nur im Menschen.“ (Zitiert nach Assmann 2024, S.96)

Die Mitmenschen sind also ,Objekte‛, die wie das Subjekt ihnen gegenüber ebenfalls Subjekte sind, also „Seinesgleichen“. (Vgl. Assmann 2024, S.99) Diese Subjektbestimmung des Objekts ‚Mensch‛ entspricht meinem Ich = Du. Ich selbst habe das in früheren Blogposts auch als Rekursivität bezeichnet.

Aleida und Jan Assmann schreiben, Emmanuel Levinas (1906-1995) habe „die Löwithschen Grundsätze der Mitmenschlichkeit in eine Post-Holocaust-Ethik übersetzt“. (Vgl. Assmann 2024, S.101) Daß Levinas dabei aus dem dialogischen Prinzip eine Einbahnstraße aus Ich ≠ Du gemacht hat, schreiben sie nicht. Das Antlitz, wie Levinas dieses Du nennt, ist dem Ich gegenüber so dominant, daß sich das Ich ihm gegenüber in einem unaufkündbaren Schuldverhältnis befindet, während das Du immer nur vom Unrecht, das ihm widerfahren ist, bestimmt wird. Eine solche Einbahnstraße verhindert die offene Wechselseitigkeit von Ich und Du, eine Beziehung, die Solidarität füreinander ermöglicht.

Die Gefahr einer solchen Einbahnstraße sehe ich auch dort, wo Empathie an Eigenschaften, Werthaltungen, kulturellen Mustern orientiert wird, etwa bei dem Empathietheoretiker René Rhinow, über den das Autorenpaar schreibt: „Eine ganz neue Herausforderung besteht für ihn ... darin, Situationen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kulturen und Werthaltungen zu verstehen, um mit ihnen konstruktiv kommunizieren zu können.“ (Assmann 2024, S.136)

Hier haben wir es nicht mehr mit Individuen zu tun, sondern mit durch Äußerlichkeiten erkennbar gemachten Gruppierungen. Was daran problematisch ist, zeigt sich an dem barmherzigen Samariter, auf den Aleida und Jan Assmann einige Seiten zuvor zu sprechen gekommen waren. Anhand der Samaritergeschichte, in der ein von den Juden verachteter Samariter einem überfallenen und verletzten Juden hilft, setzt das Autorenpaar die individuelle Verantwortung von Ich (Samariter) für Du (Jude) gegen die Gruppensolidarität (,wir‛ Juden gegen ,die‛ Samariter): „In dieser Begegnung (zwischen Samariter und Jude ‒ DZ) eröffnet sich die Möglichkeit einer mitmenschlichen Beziehung jenseits der Gruppensolidarität.“ (Assmann 2024, S.124)

Es ist also gerade die empathische Offenheit des Samariters für das Leid und für die Hilfsbedürftigkeit des Überfallenen, die ihn aus dem Gruppenzwang ‚Jude gegen Samariter‛ befreit und über seine Gruppenzugehörigkeit hinauswachsen läßt.

Die Empathie von Rhinow hingegen legt Ich und Du auf ein bestimmtes Erscheinungsbild und damit auf eine Gruppenzugehörigkeit fest, und beide fangen schon an, einander Rollenmuster zuzuordnen, bevor sie miteinander Kontakt aufnehmen. Damit wird die Ebene von Ich = Du verfehlt; also die Ebene, wo der Samariter ungeachtet der Feindschaft der Juden gegenüber den Samaritern dem überfallenen und verletzten Juden hilft.

Und auch hier ist es wichtig, nochmal festzuhalten, daß Ich = Du nicht darin aufgeht, daß Ich hilft und Du geholfen wird. Diese Festlegung von Ich und Du entspräche der Levinasschen Position. Nachdem der Samariter in der Geschichte seinen hilfsbedürftigen Mitmenschen in einer Herberge untergebracht hat und für die damit verbundenen Unkosten aufgekommen ist, geht er wieder seines Weges. Ich und Du sind wieder frei für neue Begegnungen, denen neue Möglichkeiten innewohnen.

Identitätspolitik


Im Gleichheitszeichen von Ich = Du geht es mir darum, daß auch das Du Ich und Ich Du ist. Ohne dieses Fundament gibt es keine Wechselseitigkeit. So eine Einbahnstraße, die das Ich darauf festlegt, Ich zu sein und das Du darauf, Du zu sein, sehe ich auch dort, wo das Autorenpaar vom sozialen und kulturellen Respekt spricht.

Sozialer Respekt, so Aleida und Jan Assmann, macht „auf den universalistischen Wert der Menschen“ aufmerksam. (Vgl. Assmann 2024, S.161) Damit bekommt der soziale Respekt die durchaus wichtige gesellschaftliche Funktion, „erniedrigte und unterdrückte Minderheit(en)“ in ihrem Anspruch auf Gleichberechtigung zu bestärken. (Vgl. ebenda) Man könnte also meinen, das entspräche meiner Vorstellung von Ich = Du. Aber Du ist nicht nur ein Symbol für eine Verpflichtung des Ich dem Du gegenüber, sondern selbst ein Ich. Es setzt sich also aus eigenem Antrieb Zwecke und muß dazu nicht durch ein anderes Ich und auch nicht durch ein gesellschaftliches ,Ich‛ legitimiert werden.

Schon die Vorstellung von der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Funktion, wie sie im sozialen Respekt zum Ausdruck kommt, beinhaltet eine Abhängigkeit des Du von einer durch die Gesellschaft gewährten Gunst. Minderheitenrechte sind Menschenrechte, die in der Würde des Menschen begründet sind. Sie sind keine Gunstbeweise.

Das gleiche gilt auch für den kulturellen Respekt, zu dem dem Autorenpaar sogleich auch noch die „Identitätspolitik“ einfällt. (Vgl. Assmann 2024, S.161; vgl. auch S.167ff.) Ich halte es für keine gute Idee, beide Begriffe im Text so nah zusammen zu stellen, als gehörten sie auch inhaltlich zusammen. Wenn Aleida und Jan Assmann schreiben, daß es beim kulturellen Respekt „um die Bejahung und Anerkennung von Differenz und Fremdheit“ geht: „Unterschiede werden dabei nicht mehr eingeebnet, sondern mit neuem Selbstbewusstsein hervorgekehrt.“ (Assmann 2024, S.162) ‒ dann ist der Schritt vom „neue(n) Selbstbewusstsein“ zur Identitätspolitik tatsächlich nicht mehr groß.

Natürlich sind sozialer und kultureller Respekt wichtige gesellschaftliche Praktiken, die so etwas wie eine Zivilgesellschaft konstituieren und völkischen Tendenzen Widerstand leisten. Das will ich durchaus gelten lassen. Mir geht es hier um etwas anderes. Ich will darauf hinaus, daß die individuelle Freiheit jenseits von „Gruppensolidarität“, vor allem also außerhalb von Gruppendynamiken aller Art, nur im Ich = Du verwirklicht wird. Kulturelle Unterschiede werden diese individuelle Praxis zwar immer begleiten, können aber nicht deren Ausgangspunkt sein.

Kulturelle Unterschiede sind letztlich nichts anderes als Eigenschaften, die sich in der Begegnung von Ich und Du wechselseitig manifestieren. In der Ich = Du-Begegnung werden sie zu individuellen (persönlichen) Eigenschaften und gehen als solche in die Wechselbeziehung, wie sie das Gleichheitszeichen zum Ausdruck bringt, ein. Dabei bilden das Ich als Ich und das Du als Ich die Zentren einer je individuellen Gestalt. Diese Gestalt hat ihre Individualität nicht von einer Gruppe her, sondern vom Du her, das mir begegnet. Das Du spiegelt mir mich selbst, so wie ich dem Du sein Ich spiegle. Und wenn ich zu ihm spreche, öffnet sich mir im Verstehen von Du der Sinn dessen, was ich sage, so wie sich umgekehrt dem Du, wenn es zu mir spricht, von meinem Verstehen her der Sinn dessen öffnet, was es sagt.

Deshalb haben „Bejahung und Anerkennung von Differenz und Freiheit“ (Assmann 2024, S.162) in der Wechselbeziehung zwischen Ich und Du einen anderen Sinn als in den Gruppendynamiken zwischen Individuen innerhalb einer Gruppe oder zwischen den Gruppen.

Kollektive Solidarität


Aleida und Jan Assmann zitieren den Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss (2019): „Der Mensch in der totalen Isolation hat das Böse nicht in sich. (...) Ich glaube, es ist nicht in uns, es ist zwischen uns, irgendetwas, das zwischen Menschen geschieht. Und die Untersuchung dieses Dazwischen, das hat nicht aufgehört, meine Faszination in Gang zu setzen.“ (Zitiert nach Assmann 2024, S.66)

Meiner Ansicht nach ist mit diesem ,Zwischen‛ nicht das Zwischen der Wechselbeziehung von Ich und Du gemeint, sondern das Zwischen innerhalb einer Gruppe, in der Individuen nicht ausschließlich als Individuen interagieren, sondern immer mit Rücksicht auf die Rollen, die sie in einer Gruppe spielen, also mit Rücksicht auf die anderen. Meine Formel für dieses zwischenmenschliche Böse lautet Ich = Wir. Und da es nicht nur zwischen verschiedenen Gruppen Interessengegensätze gibt, sondern entsprechende Konflikte auch innerhalb von Gruppen vorhanden sind, entspricht das ‚Böse‛, das Bärfuss in dem Zitat beschreibt, dem Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt. Freunde sind nur diejenigen, die meine Werthaltungen und meine Interessen mit mir teilen. Alle anderen sind Feinde. Dem Ich = Wir entspricht das Wir ≠ Ihr.

Für Carl Schmitt besteht das Mensch-Mensch-Verhältnis ausschließlich aus Freund-Feind-Beziehungen: „Die Logik heißt ,ich oder er‛ bzw. ,wir oder sie‛; für beide gemeinsam ist kein Platz auf der Erde und in der Weltgeschichte.“ (Assmann 2024, S.108) ‒ Wo sich Ich mit einem Wir identifiziert, übernimmt es auch dessen implizite Gegnerschaft zu anderen Gruppen-Wirs: also Freund ≠ Feind.

Identitätspolitik, wie wir sie heute kennen, ist im Grunde auch nichts anderes als ,wir‛ gegen die anderen. Susan Neiman nennt das ,Tribalismus‛, Stammesdenken. Wenn wir meinen, wir könnten hier gutartige von bösartigen Gruppenidentitäten unterscheiden, dann unterschätzen wir die Unversöhnlichkeit und die Unbedingtheit von Identitätsbehauptungen.

Menschheitsidee


Die Beziehungen zwischen Gruppen, gleichviel ob dabei an offene oder geschlossene Gruppen gedacht wird, werden oft so dargestellt, als handelte es sich um Kollektivindividuen, die ähnlich wie einzelne Menschen miteinander interagieren. ,Freundliche‛ oder ,feindliche‛ Beziehungen zwischen den Gruppen ähneln irgendwie freundlichen und feindlichen Beziehungen zwischen den Menschen innerhalb dieser Gruppen und werden auch ähnlich ,kommuniziert‛.

Auch Aleida und Jan Assmann schreiben Gruppen menschliche Eigenschaften zu und sprechen von einer gruppenübergreifenden Menschlichkeit: „Jede wie auch immer definierte Gruppe kann in der Interaktion mit anderen im Sinne Kants die Quellen ihrer gemeinsamen Menschlichkeit entdecken.“ (Assmann 2024, S.170)

Aber die Vorstellung, daß Gruppen miteinander kommunizieren, als wären sie Individuen, ist problematisch. Gruppen kommunizieren nur über Agenten miteinander. Und diese Agenten sind Individuen. Wenn Individuen ihre „gemeinsame Menschlichkeit“ entdecken, dann immer auf der Basis von Ich = Du und nicht auf der Basis kollektiver Identität bzw. auf der Basis einer Gruppenidentität. Das einzige, was Gruppen zu befrieden vermag, sowohl innerhalb einer Gruppe wie auch verschiedene Gruppen untereinander, sind deshalb die Individuen und ihre Rechte: ihre Menschenrechte. Gruppenrechte können ihre Legitimität immer nur aus individuellen Menschenrechten ableiten. Wo Gruppenrechte Menschenrechte beeinträchtigen, verlieren sie ihre Legitimität. Nur auf dieser Basis kann kulturelle Diversität funktionieren. Der Begriff der Menschheitsrechte führt in die Irre.

Aleida und Jan Assmann widersprechen in dieser Frage dem amerikanischen Sozialwissenschaftler Martin Walzer („Thick and Thin“, 1994), der ähnliche Vorstellungen wie ich vertritt und betont, daß nicht Gesellschaften, sondern immer nur konkrete individuelle Personen miteinander kommunizieren können, weil nur sie, und nicht die aus ihnen bestehenden Gesellschaften, über ein Bewußtsein verfügen: „Es ist aber in keiner Weise einzusehen, warum sich die ‚andere‛ Ebene, die Ebene der Menschheit, gar so blass oder ,dünn‛ darstellen muss. ... Es stimmt weder, dass es auf dieser Ebene kein Gedächtnis und keine Geschichte gibt, noch dass im Zeitalter des Anthropozäns keine Auffassungen über gemeinsame Herausforderungen, Bedrohungen, Güter, Ziele und Werte existieren.“ (Assmann 2024, S.174)

Es ist klar, worauf das Autorenpaar hinaus will: wenn Gesellschaften kein Bewußtsein besitzen, wie Walzer behauptet, auch nicht ein über ein Gedächtnis und eine Geschichte verfügendes Kollektivbewußtsein, gibt es auch kein „Menschheitsgedächtnis“ und auch keine menschheitliche Verantwortung. Gemeinsinn und Empathie lassen sich dann nicht universalisieren. Es gibt keine universelle Moral.

Aleida und Jan Assmann suchen also nach Belegen dafür, daß es ein übergreifendes Bewußtsein gibt, und sie glauben in erstaunlicher Naivität im Internet fündig zu werden: asoziale Plattformen wie Facebok und X sollen ihrer Ansicht nach in der Lage sein, „ein Menschheitsgedächtnis zu stiften“! (Vgl. Assmann 2024, S.175)

Die universelle Praxis von Ich = Du


Aleida und Jan Assmann sehen uns vor die Notwendigkeit gestellt, die partikulare Gemeinschaftsmoral durch eine universelle Moral der Menschenrechte zu ersetzen, die aber, wie sie schreiben, anders als die Gemeinschaftsmoral den Menschen nicht mehr „im Blut“ (Lebenswelt) liegt. Sie ist gerade in ihrer Universalität zu abstrakt und muß durch Gesetze und Erziehung abgesichert werden. (Vgl. Assmann 2024, S.180)

Ich denke aber, daß uns die universelle Moral durchaus „im Blut“ liegen könnte; nämlich dann, wenn wir verstehen und empfinden, daß die Praxis von Ich = Du über ihr eigenes universelles Potenzial verfügt. Ich = Du ist die einzige Sozialform, die nicht exkludiert. Sie formiert sich nicht gegen andere, sondern entspringt dem Anderen mir gegenüber. Da die persönlichen Eigenschaften von Ich und Du, die in deren Wechselbeziehung eingehen, dieser Wechselbeziehung nicht vorausgesetzt sind, wird sie auch durch keine Gruppenbindungen begrenzt. In diesem Sinne ist die Praxis von Ich = Du schon als Praxis universell und zugleich von höchster Bindungskraft.

Aleida und Jan Assmann setzen hingegen weiterhin ihre Hoffnung auf ein Kollektivindividuum namens Menschheit und geben dem Begriff der Identität einen gleichermaßen individuellen wie kollektiven Sinn: „Identitäten sind unter diesen Umständen nichts Abwegiges, sondern ein Menschenrecht der individuellen oder kollektiven Selbstbestimmung.“ (Vgl. Assmann 2024, S.184)

Aber so sehr es ein Menschenrecht auf die individuelle Entfaltung der Person gibt, so wenig gibt es auch ein Menschenrecht auf Identität. Der Begriff führt unvermeidbar zu einem fragwürdigen Menschenbild.

Freitag, 4. Oktober 2024

Hannah Arendt: Die Macht der Zahl

Die zentrale These in Hannah Arendts Buch „Macht und Gewalt“ (1970/2024) besteht meiner Ansicht nach darin, daß sich die Macht über die Zahl der Unterstützer definiert. Diese Zahl wird in Demokratien durch Wahlen ermittelt, so daß diejenigen Parteien, die die meisten Stimmen der Wählerinnen und Wähler auf sich vereinigen können, den Auftrag für eine Regierungsbildung erhalten. Aber auch alle anderen Regierungsformen, Monarchie, Oligarchie, Aristokratie und sogar die Tyrannei sind von der Unterstützung oder wenigstens Duldung der Bevölkerung abhängig.

An die Stelle der politischen Unterstützung durch die Gesellschaft (vgl. Arendt 1970/2024, S.53) kann auch die blanke, sich auf Waffen stützende Gewalt treten. Bei der Gewaltherrschaft spielt die Zahl der Unterstützer keine Rolle. Im Extremfall haben wir es mit der Herrschaft eines Einzelnen gegen alle zu tun: „Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen alle.“ (Arendt 1970/2024, S.54f.) ‒ Allerdings ist die Dauerhaftigkeit einer solchen Gewaltherrschaft begrenzt.

Arendts Definition der Macht als Zahlenverhältnis, also letztlich als Herrschaft einer Mehrheit über eine oder mehrere Minderheiten, hat den Vorteil, auf Metaphysik zu verzichten. Denn aus dieser Perspektive besteht das Staatsvolk auch in nichts anderem als in einem Mehrheitsverhältnis, woran nichts Mysteriöses oder gar ,Heiliges‛ ist.

Zugleich verweist Arendt aber auch auf den dystopischen Aspekt einer demokratischen Mehrheitsherrschaft, die nicht auf den Schutz von Minderheiten verpflichtet ist: „Eine Demokratie, die im Unterschied zu einer Republik nicht an Gesetze gebunden zu sein braucht, also eine einfache Mehrheitsherrschaft, die nur auf Macht basiert, kann Minderheiten auf eine furchtbare Weise unterdrücken und abweichende Meinun­gen ohne alle Gewaltsamkeit sehr wirkungsvoll abwürgen.“ (Arendt 1970/2024, S.54 f.)

In so einer Demokratie verändert sich das Verhältnis zwischen Macht und Zahl: statt die Macht zu legitimieren, wird die Zahl selbst zur Macht; zur Macht der Zahl.

Aber das eigentliche Problem spricht Arendt hier gar nicht an. Ihre Definition der Macht als Zahl verschleiert, wie sehr die Macht ein le­bensweltliches Phänomen ist, das weniger vom Selbstbewußtsein als vom Unterbewußtsein bestimmt wird. Wenn z.B. Antisemitismus und Rassismus das kollektive Bewußtsein prä­gen, dann können Demagogen und Populisten über diese Haltungen (Meinungen) ihre Macht organisie­ren, ohne Gewalt anzuwenden, mit Ausnahme natürlich der gegen Juden und Schwar­ze gerichteten Gewalt. Das weiß auch Arendt, wenn sie schreibt: „Jeder Rassis­mus, der weiße wie der schwarze, ist von Haus aus gewaltträchtig, weil er gegen natürliche, organische Gegebenheiten protestiert, eine schwarze oder eine weiße Haut, die nicht von Meinungen abhängen, und an denen keine Macht etwas ändern könnte; kommt es hart auf hart, so bleibt nichts als die Ausrottung ihrer Träger.“ (Arendt 1970/2024, S.88)

Das ist eine korrekte Beschreibung solcher Dynamiken. Arendt übersieht nur, daß die Macht nicht nur machtlos ist gegen solche Dynamiken, sondern daß sie bzw. diejenigen, die ihre Macht mißbrauchen, via Lebenswelt dazu beitragen können, diese Gewaltdynamik allererst zu entfachen. Denn die weißen Rassisten sind nicht nur gewalttätig, sondern auch mächtig. Und ihre Macht beruht nicht auf Zahlen, die durch Wahlen ermittelt werden könnten, sondern auf dem kollektiven Unterbewußten.

Darauf will ich im Folgenden differenzierter eingehen.

Das Volk als Gruppe?

Zunächst mal ist die Differenz zwischen einem aufgeklärten bzw. rationalen und ei­nem metaphysisch überhöhten Begriff des Volkes nicht immer hinreichend klar. So setzt Arendt zwar die Begriffe „Volk“ und „Gruppe“ einander gleich ‒ „ohne ein ,Volk‛ oder eine Gruppe gibt es keine Macht“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.56) ‒, was eine weitere Entmystifizierung des Volksbegriffs bedeutet. Andererseits aber frage ich mich doch, ob das Volk jetzt nur den Status einer größeren Gruppe hat oder ob es als Staatsvolk vielleicht so etwas wie eine Meta-Gruppe bildet, die alle anderen Grup­pen unter sich vereint? Dieses Meta-Verhältnis des Volkes zu allen anderen Gruppen läßt sich dann aber nicht mehr einfach in ein Zahlenverhältnis auflösen und ist jetzt ein Thema für die Metaphysik.

Wenn aber das Volk einfach nur größer wäre als alle anderen Gruppen, im Sinne von Mehrheit und Minderheit, dann wäre es Teil der ganz normalen Interessenkonflikte, die zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen bestehen, und dann hätten wir es nicht mehr mit einem Machtverhältnis, sondern mit einem Gewaltverhältnis zu tun.

Ich frage mich, ob sich überhaupt schon jemals jemand über die Legitimität von Ge­setzen Gedanken gemacht hat, ohne dabei auf den Begriff des Volkes zurückzugrei­fen? Könnte der Begriff der Staatsbürgerschaft nicht den Begriff des Volkes erset­zen? Ist für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland der Bezug auf das Volk nicht völlig überflüssig? Tatsächlich soll das Grundgesetz doch den einzelnen Men­schen vor der Mehrheit, also vor dem ,Volk‛ schützen, und zugleich muß es selbst durch eine Zweidrittelmehrheit gegen das Volk abgesichert werden.

Macht als Selbstzweck

Auch daß Hannah Arendt die Macht als Selbstzweck definiert und dabei die Parallele zum Begriff des Friedens zieht, trägt zu einer Mystifizierung des Machtbegriffs bei: „Der Zweck des Krieges ist der Friede; aber auf die Frage: Und was ist der Zweck des Friedens? gibt es keine Antwort. ... Ein solches Absolutes ist auch die Macht; sie ist, wie man zu sagen pflegt, ein Selbstzweck.“ (Arendt 1970/2024, S.63)

Arendt ergänzt, daß die Macht als Selbstzweck, „weit davon entfernt, Mittel zu Zwecken zu sein, tatsächlich überhaupt erst die Bedingung ist, in Begriffen der Zweck-Mittel-Kategorien zu denken und zu handeln.()“ (Arendt 1970/2024, S.63)

Das ist eine widersprüchliche Definition der Macht. In Begriffen der Zweck-Mittel-Kate­gorie zu denken und zu handeln, ist instrumentelles Denken und Handeln, was nach Arendts eigener Definition nicht ein Kennzeichen von Macht, sondern von Gewalt ist. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.20, 53f., 58) ‒ Demnach wäre also die Macht eine Vor­aussetzung für Gewalt? Dann gäbe es also Gewalt als Zweck-Mittel-Rationalität nur dort, wo es Macht gibt? ‒ Das wäre wohl die Konsequenz, wenn Macht tatsächlich die Voraussetzung für instrumentelles Handeln wäre.

Außerdem: Organisation ist Arendt zufolge ein Kennzeichen von Macht. Wo sich Menschen organisieren, können sie, sogar wenn sie nicht in der Mehrheit sind, die Macht ergreifen. Als eine besonders bizarre Form der Herrschaft qua Organisation kann man z.B. die Bürokratie bezeichnen, von der Arendt sagt, daß sie die „vielleicht furchtbarste Herrschafts­form“ überhaupt sei (vgl. Arendt 2024, S.50); und zwar ob­wohl sie eine Form der „Niemandsherrschaft“ ist! Niemand herrscht mehr, wo die Or­ganisation alles beherrscht. Niemandsherrschaft wäre dann tatsächlich ein Selbst­zweck.

Zurück zur Macht als Selbstzweck: warum also sollten sich Menschen überhaupt staatlich or­ganisieren, wenn nicht um eines Zweckes willen? Grup­pen verfolgen selten nur einen Zweck und meist sogar viele Zwecke gleichzeitig. Und nach Arendt ist das Volk eine Gruppe. Wiederum nach Arendt bedarf die staatliche Macht vor allem der Unterstützung durch das Volk. Letztlich ist die Macht also kein Selbstzweck, son­dern ein Mittel des Volkes, seine ,Mehr­heit‛ gegenüber den Minder­heiten und dem Einzel­nen durchzusetzen.

Die Macht befindet sich also mit dem Frieden nicht auf einer Ebe­ne. Eher ist es wohl so, daß der Friede der einzige legitime Grund für die Konstitution staatlicher Macht ist.

Kollektive Schuld und Lebenswelt

Wie schon erwähnt, führt die scheinbare Rationalität des aus freien Wahlen sich ergebenden Zahlenverhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit an dem eigentlichen Ursprung von Macht vorbei. Dieser Ursprung ist nicht rational bestimmbar, sondern besteht im kollektiven Unterbewußten. Die rationale Begrenztheit ihres Konzepts wird dort deutlich, wo Arendt sich gegen den Versuch wendet, Schuld zu kollekti­vieren. Sie sieht darin nur den Versuch, die „wirklich Schuldigen oder Verantwortlichen, die Miß­stände abstellen könnten“, davor zu schützen, zur Verantwortung gezogen zu werden. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.78)

So berechtigt diese Feststellung in vielen Fällen auch ist, verschleiert sie doch, daß es trotzdem kollektive Schuld gibt. So wurzelt der Rassismus nicht nur in kodi­fizierten gesellschaftlichen Institutionen, die man reformieren oder abschaffen kann, son­dern auch in gesellschaftlichen Infra-Strukturen bzw. in der Lebenswelt und wirkt dort auf unsicht­bare, unmerkliche Weise auf unser Bewußtsein ein.

Außerdem widerspricht sich Arendt hier selbst, denn gleichzeitig verweist sie auf das Phänomen „kollektiver Gewalt“. (Vgl. Arendt 1979/2024, S.79ff.) Wo von kollektiver Gewalt die Rede ist, liegt auch der Gedanke an kol­lektiver Schuld nicht fern. Allerdings geht es Arendt hier nicht um den Graubereich irrationaler Gewaltausbrüche, sondern um gesetzlich legitimierte Gewalthandlungen gegen einen äußeren Feind auf dem Schlachtfeld. Das kollektive Band, das die Soldaten untereinander verbindet, ist die Gleichheit aller angesichts des Todes.

Immerhin entlarvt Arendt so die politische Romantisierung bzw. Mystifikation der Gewalt als einer Form der ultima ratio. Hier geht es also nicht um kollektive Schuld, sondern um Kameradschaft. Dennoch liegt es beim Gedanken an kollektive Ge­walt eben auch nahe, daß es so etwas wie kollektive Schuld geben muß. Die Geschichte der Menschheit ist voll von entsprechenden Beispielen, von Sklaverei, Genoziden und Pogromen. Diese Gewaltphänomene wurzeln tief in den Lebenswelten von Gesellschaf­ten und Kulturen, auch dort, wo rechtsstaatliche Strukturen und Verfassungen die Un­antastbarkeit der Würde des Menschen garantieren.

Begriffe wie Mehrheit und Minderheit, Macht als Zahl, sind angesichts der lebensweltlichen Einflüsse auf das Denken und das Handeln der Menschen unterkomplex.

Interessenkonflikte und Lebenswelt

Letztlich ist die Lebenswelt der blinde Fleck in Arendts Konzept von Macht und Ge­walt. Das zeigt sich u.a. daran, daß Arendt zu der Frage, warum die Menschen so oft und immer wieder gegen ihre eigenen Interessen handeln, nicht viel Aufschußreiches einfällt.

„Verhaltens­weisen und Argumente in Interessenkonflikten pflegen sich nicht durch ,Vernünftigkeit‛ aus­zuzeichnen. Nichts ist leider mit so hartnäckiger Beständig­keit von der Wirklichkeit wider­legt worden, wie das Credo des ,aufgeklärten Eigenin­teresses‛ ...“ (Arendt 1979/2024, S.90)

Arendt beschreibt hier ein Phänomen, das schon vielen Soziologen und Ökonomen Kopfzerbrechen bereitet hat. Interessenkonflikte zwischen den Menschen sind ja ei­gentlich eher simpel und deshalb auch nicht schwer auf den Punkt zu bringen. Aber wenn wir uns das Wahlverhalten in einer Demokratie anschauen, müssen wir feststellen, daß Bürgerinnen und Bürger immer wieder Parteien wählen, die ihre In­teressen nicht vertreten. Demagogen und Populisten fällt es erstaunlich leicht, dem Wahlvolk erfolgreich Lösungen für Pseudoprobleme anzubieten, die mit ihren tatsächlichen Problemen nicht das Geringste zu tun haben. Dabei greifen sie auf kollektive Urängste zurück und bedienen soziale Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Wohlbefinden und spielen auf der lebensweltlichen Klaviatur positiver und negativer Gefühle.

Es ist die Lebenswelt, mit deren Hilfe die ver­meintlich rationalen Interessenkonflikte verschleiert und deren Energien in Kanäle umgeleitet werden, die den Interessen der Menschen schaden, obwohl sie glauben, es ginge hier um sie. Die Energien, die so mobilisiert werden, entziehen sich der Statistik. Aber ohne sie gibt es keine Macht.

Donnerstag, 3. Oktober 2024

Rassismus, Bildung und Technik in Arendts „Macht und Gewalt“

In ihrem Nachwort zu Hannah Arendts Buch „Macht und Gewalt“ (1970/2024) stellt die Wissenschaftsphilosophin Christine Blättler Arendts Technikkritik in den Kontext einer „mehrheitlich technikfeindlichen“ Nachkriegszeit. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.150) Darüberhinaus ordnet Blättler pauschalisierend jede Technikkritik überhaupt dem „Kulturpessimismus“ zu, für den sie insbesondere Ernst Jünger und Martin Heidegger in Anspruch nimmt (vgl. Arendt 1970/2024, S.154), und so spricht sie vom „kulturpessimistische(n) Fahrwasser“ Heideggers, bezeichnet den „Ökologiediskurs“ als „Verfallsgeschichte“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.154), spricht auch von einem mit der Technikkritik verbundenen „kruden Pessimismus“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.156) und behauptet, Levinas paraphrasierend, daß „die Feinde der Industriegesellschaft zum größten Teil Reaktionäre seien“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.157).

Ein derartiges pauschales, undifferenziertes, alle Argumente der ,technikfeindlichen Reaktionäre‛, zu denen Blättler keineswegs nur Jünger und Heidegger zählt, ignorierendes Pauschalurteil, von dem dann auch respektable Persönlichkeiten wie Günter Anders und Hans Jonas nicht freigesprochen werden können, erübrigt jede Erwiderung meinerseits. Wenn man Hannah Arendt wegen ihres Buches tatsächlich einen Vorwurf machen müßte, dann nicht wegen ihrer wohlbegründeten Fortschritts- und Technikkritik, sondern wegen einiger rassistischer und/oder nah am Rassismus entlang schrammender Stellen, in denen sie sich zu der us-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jhdts. äußert.

Deshalb zunächst hierzu ein paar Worte von mir: Arendt glaubt den schwarzen, ihre Bürgerrechte einfordernden Studenten ihre Qualifikation für ein Universitätsstudium absprechen zu müssen. Der offensichtliche Rassismus zeigt sich vor allem an Textstellen wie diesem: „Im Gefolge der Bürgerrechtsbewegung haben die Universitäten und Colleges eine große Anzahl von Negerstudenten aufgenommen, ohne von ihnen die üblichen akademischen Qualifikationen zu verlangen; und die Folge war, daß diese Studenten, die besser als irgendjemand sonst wußten, daß der ihnen gebotene Nachhilfeunterricht ein hoffnungsloses Unternehmen war, sich von der Studentenschaft absonderten, organisierten und nun verständlicherweise forderten, das Universitätsniveau so weit zu senken, daß sie mitkommen konnten ‒ bzw. da dies vielleicht doch nicht möglich war, ihnen ein eigenes ,Studiengebiet‛, die sog. ,Black studies‛, einzurichten.“ (Arendt 1970/2024, S.33f.)

Obwohl ich diese Textstelle eindeutig als rassistisch einordne, bleibt hier doch offen, ob Arendt den schwarzen Studenten pauschal einfach die nötigen Fähigkeiten/Begabungen per se abspricht oder ob sie sich nur darüber beklagt, daß sie nicht auf die „üblichen akademischen Qualifikationen“ hin geprüft wurden, bevor sie aufgenommen wurden. Doch ihre Bemerkung, daß jeder Nachhilfeunterricht von vornherein zum Scheitern verurteilt war und die betroffenen Studenten dies sogar selbst gewußt hätten, weshalb sie eine Art Alibifach, das man nicht als richtiges Universitätsfach ansehen könne, für sich reklamierten, überschreitet eindeutig die Grenze zum Rassismus.

Dennoch möchte ich als Bildungsphilosoph hier nicht dieses rassistische Moment ihrer Argumentation fokussieren, sondern ihre Vorstellung von dem, was eine Universität eigentlich ist. Diese Vorstellung unterscheidet sich nämlich erheblich von dem, was der Universitätsgründer Wilhelm von Humboldt darunter verstanden hatte. Nach Humboldts Ansicht war die Universität nicht besonders befähigten oder besonders begabten Studenten vorbehalten, denn an der Universität geht es gar nicht um den Erwerb von Spezialwissen, für das eventuell schon vor Studienbeginn eine spezielle Eignung vorausgesetzt werden müßte. Für solche Spezialfälle ist nach Humboldt nicht die Universität zuständig, sondern entweder wissenschaftliche Einrichtungen wie die Akademien oder die Berufsausbildung.

Humboldt zufolge besteht die eigentliche Studienreife nicht in einem bestimmten, abprüfbaren Bestand und Niveau von Wissen und Fähigkeiten, sondern im Interesse des Studenten für seinen Gegenstand. Dieses Interesse muß einerseits an seinem Gegenstand haften, darf aber andererseits nicht daran kleben bleiben. Es muß durch den Gegenstand hindurch auf die Welt als Ganzes gehen. Erst dieses Ganze der Welt macht aus einer Forschungseinrichtung eine Bildungseinrichtung. Und die Universität war Humboldts Auffassung nach auch als Forschungseinrichtung vor allem ein Ort der Allgemeinbildung.

Humboldt übersetzte das Wort ,studio‛ mit ,Eifer‛ und sogar mit ,Liebe‛; also mit der Liebe zum Gegenstand und zur Welt; oder etwas nüchterner: mit ,Interesse‛. Wo das Interesse vorhanden ist, ergeben sich Begabungen und Fähigkeiten quasi von selbst. Wer interessiert war, also ,Student‛ im ursprünglichen Sinne des Wortes, besaß auch die Universitätsreife.

Nur wo diese Liebe zum Ganzen da ist, geht das Universitätsstudium über die begrenzten Spezialbegabungen einzelner Kandidatinnen und Kandidaten, die man auf ihre ,Eignung‛ testet, hinaus. Die Befähigung folgt dem Interesse. Wo kein Interesse ist, verkümmern auch die vorhandenen ,Begabungen‛.

Aus dieser humboldtschen Perspektive ist es einfach falsch, schwarzen Studenten ihre Qualifikation abzusprechen. Es geht auch nicht an, die „Black Studies“ im inneruniversitären Fächerkanon als unwissenschaftlich abzuwerten. Wenn sich das Interesse der aus der Bürgerrechtsbewegung kommenden schwarzen Studenten zuerst auf dieses Wissensgebiet richtete, so deshalb, weil die „Black Studies“ eben auch einen bislang ausgeblendeten Teil der Welt, einen Teil des Ganzen bilden. Wenn es den schwarzen Studenten darum ging, ein bislang brachliegendes Wissensgebiet aufzuarbeiten und sich zugleich auf diese Weise einen Zugang zur universellen Bildung zu erarbeiten, dann ist die Universität genau der richtige Ort für dieses Anliegen.

Tatsächlich gibt es aus Humboldts Perspektive keinen Gegenstand, von dem aus sich keine Wege auf einen umfassenden Horizont des Wissens eröffnen.

Zurück zu Christine Blättler. Ich hatte sie schon als übelmeinende, auf den Fortschritt eingeschworene Rhetorikerin abgehakt, da kam dann doch noch etwas Interessantes zum Thema ,Geschichtsphilosophie‛. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.168ff.) Blättler kommt für mich überraschend auf den Umstand zu sprechen, daß beides, Fortschritt und Geschichtsphilosophie, auf einer Teleologie beruhen. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.170f.) Welche Umwege der Geschichtsverlauf auch immer nimmt und welche Kollateralschäden der Fortschritt auch immer verursacht ‒ die Richtung, in die es geht, ist von vornherein festgelegt: aufwärts und vorwärts. (Vgl. Arendt 19702025, S.175) Und Blättler resümiert: „Insofern weist dieser Geschichtsbegriff neben seiner gewaltvollen genauso einen technischen Charakter auf und findet in der technischen Bestimmung von Gewalt durch Arendt eine Bestätigung.“ (Arendt 1970/2024, S.175f.)

Auf den letzten Seiten ihres Nachworts geht Blättler nochmal detaillierter auf Arendts Fortschrittskritik ein und würdigt sie in ihrer argumentativen Stringenz. Die Verbindung des Fortschrittsgedankens mit technologischer Innovation, so Blättler Arendt paraphrasierend, führt geradewegs in eine unaufhaltsame Sachzwangsdynamik, die die Menschen dazu zwingt, „das, was sie können, auch zu tun, ohne es zu wollen“: „Der von (Arendt) in dieser Dynamik von Sachzwängen registrierte Machtverlust, ,der Gewalt Tor und Tür öffnet‛, ist vor dem Hintergrund ihrer Unterscheidung von Macht und Gewalt nicht zu unterschätzen und leitet diese pauschale Wissenschafts- und Technikkritik an.“ (Vgl. Arendt 170/2024, S.177)

Aber Blättler bleibt auch in diesem Zitat dabei: Arendt pauschalisiert, und ihre Fortschrittskritik ist deshalb eben doch nicht ernstzunehmen.

Hannah Arendt hatte schon in ihrem Buch Christine Blättlers Position gekannt und entkräftet. Denn so, wie Blättler Arendt in die Reihe eines Ernst Jünger und eines Martin Heidegger und anderer ,Kulturpessimisten‛ stellt, argumentieren, wie Arendt schreibt, schon immer die Kritiker der Fortschrittskritik: „Nach Präzedenzfällen und Analogien Ausschau zu halten, wo es keine gibt, sich ‒ unter dem Vorwand, daß wir aus der Vergangenheit, besonders aus den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen lernen sollten ‒ gar nicht erst darauf einzulassen, das, was getan und gesagt wird, aufgrund der Ereignisse selbst zu berichten und darüber nachzudenken, ist für einen Großteil der gegenwärtigen Diskussion charakteristisch.“ (Arendt 1970/2024, S.105f.)

Zeitgeschichtlich sind auch Ernst Jünger und Martin Heidegger den „Jahren zwischen den beiden Weltkriegen“ zuzuordnen. Und Blättler meint eben auch, mit dem Verweis auf Jünger und Heidegger sei schon alles über Arendts Technik- und Fortschrittskritik gesagt. Daran ändern nicht einmal die letzten drei, vier Seiten ihres Nachworts etwas.