„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 3. Oktober 2018

Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, München 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Wahrer als Sein
3. Wissenschaft als Zunft oder performativer Widerspruch

Emanuele Coccia, der selbst Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris ist, positioniert sich sehr kritisch gegenüber der Universität. (Vgl. Coccia 2018, S.141ff.) Anstatt das Ideal der antiken „enkyklios paideia“, also einer „globalen, multidisziplinären, enzyklopädischen Bildung“ zu vertreten (vgl. Coccia 2018, S.142), ist die „universitas“ zu einer „Zunft“ degeneriert:
„Wissen heißt einer Zunft anzugehören. Der kognitive Akt wird damit durch eine juristische Bindung begründet und eine politische Zugehörigkeit, das Ideal des bios theoretikos wird unmittelbar und zwangsläufig mit socii geteilt. ... Die Spezialisierung ist die epistemologische Umsetzung eines korporatistischen Wissensideals – weil sich die Gelehrten zu einer rechtlich geschlossenen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben.“ (Vgl. Coccia 2018, S.143f.)
So sehr ich Coccias Kritik an den wissenschaftlichen Institutionen teile, so wenig stimme ich mit ihm darin überein, daß man die Disziplingrenzen auflösen müsse, entsprechend seiner Pflanzenphilosophie, derzufolge „alles in allem immanent ist“. (Vgl. Coccia 2018, S.94) Das Wissen ist nie einfach nur Wissen, sondern immer auch eine Methode, d.h. einer bestimmten Perspektive verpflichtet, sowohl des Forschers wie auch der Sache. Coccia hält diese methodische Bedingtheit alles Wissens aber für ein Problem, weil sie nicht zur Wahrheit führt. (Vgl. Coccia 2018, S.145) Was aber sollen wir unter ‚Wahrheit‘ verstehen?

Einerseits gibt es Coccia zufolge eine Wahrheit, die wahrer ist als das Sein: die Pflanzenwahrheit. (Vgl. Coccia 2018, S.150) Andererseits aber heißt es, „dass die Welt ein Raum ist, in dem Dinge und Ideen ganz heterogen, disparat, ja unvorhersagbar gemischt sind“. (Vgl. Coccia 2018, S.145) Wenn letzteres aber der Fall ist, kann die Pflanzenwahrheit nur eine Wahrheit unter anderen und keinesfalls vor den anderen ‚Wahrheiten‘ ontologisch irgendwie ausgezeichnet sein. Und gerade dann kommt es eben auf die Methode an, der Coccia keinerlei Bezug zur Wahrheit zugestehen will.

Tatsächlich soll die Wahrheit ein Exzeß sein, wie Coccia schreibt, nämlich ein „Wissensexzess“, der alle Disziplingrenzen einzureißen vermag. (Vgl. Coccia 2018, S.141) Wenn Coccia meint, damit einer Transdisziplinarität das Wort reden zu können, nämlich einer Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft, der sie dient, hat er sich geirrt. Noch weniger ermöglicht so ein Exzeß Interdisziplinarität; denn ohne Disziplinarität gibt es sie nicht. So wenig wie jene Multidisziplinarität, die Coccia am antiken Bildungsideal so positiv zu würdigen scheint.

Jedenfalls macht das Ausspielen pflanzlicher gegen menschlicher Erkenntnisform keinen epistemologischen Sinn. Wenn die „Anthropologie“, wie Coccia schreibt, nichts mehr vom eigenen „sprachlichen Selbstwissen“ lernen können dürfen soll, sondern nur noch von den Strukturen einer Blüte (vgl. Coccia 2018, S.146), bewegen wir uns in einem performativen Widerspruch, weil alles, was wir noch sagen können, schon von der Struktur her im vorhinein nur noch falsch sein kann.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen