„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 1. Oktober 2018

Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, München 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Wahrer als Sein
3. Wissenschaft als Zunft oder performativer Widerspruch

Emanuele Coccia entwickelt in seinem Buch „Die Wurzeln der Welt“ eine neue Philosophie, die sich an den Prinzipien des pflanzlichen Weltverhältnisses orientiert. Vieles daran erinnert mich an Helmuth Plessners „Stufen des Organischen“ (1928/1975), mit dem ich mich in diesem Blog ebenfalls schon auseinandergesetzt habe, was z.B. das Verhältnis der Pflanzen zu ihrer Umwelt betrifft und ihre Position im Weltgefüge als offene Formen. (Vgl. insbesondere meinen Blogpost vom 22.10.2010) Da Coccia Plessner nicht erwähnt, sind diese inhaltlichen Parallelen wohl zum einen auf die Sache zurückzuführen, zum anderen aber vermutlich auch auf Gustav Theodor Fechners Buch „Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen“ (1848), auf das sich Coccia explizit bezieht und das auch Plessner nicht unbekannt gewesen sein dürfte.

Interessanterweise spielt die Anatomie der Pflanze bei Coccia eine ähnlich wichtige Rolle wie bei Plessner die Anatomie des Menschen, so daß man hier ebenfalls von einer Art ‚Körperleib‘ sprechen könnte, etwa wenn Coccia auf den „metaorganischen Rahmen“ verweist, aus dem jeder Organismus besteht. Das ist aber schon die äußerste Nähe der Pflanze zu tierischen Organismen, die Coccia zuzugestehen bereit ist; denn ansonsten bildet die Pflanze anatomisch und physiologisch das genaue Gegenteil zu allen anderen irdischen Lebensformen. Was‚Bewußtsein‘ bzw. ‚Intelligenz‘ betrifft, ist die Pflanze gewissermaßen auf den ‚Kopf‘ gestellt, denn alle Philosophen waren sich seit der Antike darin einig, daß das pflanzliche Bewußtsein in der Wurzel zu verorten sei, daß also „die Wurzel ganz und gar dem entspricht, was beim Tier das Gehirn ist, weil sie über dieselben Fähigkeiten verfügt“:
„Über das Wurzelsystem nämlich erwirbt eine Pflanze die meisten Informationen über ihren Zustand und den des Milieus, in das sie eingetaucht ist; und ebenfalls über die Wurzeln tritt sie in Kontakt mit den benachbarten Individuen und managt kollektiv Risiken und Schwierigkeiten des unterirdischen Lebens.“ (Coccia 2018, S.104)
Aber nicht nur in anatomischer Hinsicht ist die Pflanze das genaue Gegenteil zum tierischen Organismus, sondern, wie Coccia Dumas und Boussingault zitiert, auch physiologisch:
„Während das Tierreich einen unermesslichen Verbrennungsapparat darstellt, stellt dagegen das Pflanzenreich einen unermesslichen Reduktionsapparat dar.“ (Coccia 2018, S.81)
Während Tiere also Sauerstoff atmen und mit seiner Hilfe Kalorien verbrennen, ‚reduzieren‘ Pflanzen das dadurch entstehende CO2 wieder zu Sauerstoff. Damit sind wir aber schon mittendrin im pflanzlichen Weltverhältnis. Pflanzen sind aufgrund der Fähigkeit zur Photosynthese, als der Umwandlung von Licht in Energie, in der Lage, anorganische Stoffe in organische Stoffe umzuwandeln. Und die Organe, die sie dazu befähigen, sind die Blätter, die evolutionsbiologisch älter sind als die Wurzeln:
„Über Millionen Jahre verzichteten die Pflanzen auf sie – im Meer wie auf dem Land.“ (Coccia 2018, S.101)
Die Blätter und die Photosynthese sind also fundamentaler für die Pflanzen als die Wurzeln. Deshalb fängt Coccia auch mit den Blättern an (vgl. Coccia 2018, S.39ff.), um dann zunächst zu den Wurzeln (vgl. Coccia 2018, S.101ff.) und zum Schluß zu den Blüten (vgl. Coccia 2018, S.125ff.) zu kommen. Die Blätter machen die Pflanzen zu dem, was sie sind: zu Geschöpfen und Schöpfern der Atmosphäre bzw. des Klimas (zwei Begriffe, die Coccia immer synonym verwendet):
„Die gesamte Pflanze identifiziert sich im Blatt, die anderen Organe sind lediglich seine Fortsätze.“ (Coccia 2018, S.40)
Das Blatt ist ein rein nach außen gerichtetes Organ, dem kein ‚Inneres‘ entspricht. – Allerdings sollte man Coccia zufolge bei Pflanzen nicht von Organen sprechen; er selbst hält sich aber nicht immer daran. – Auch diese Umweltbezogenheit unterscheidet die Pflanzen als Wesen der Oberfläche von den Tieren und damit auch von Plessners Bestimmung des Menschen als Körperleib, also als einem Wesen auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Die Photosynthese des Blatts dynamisiert die Innen-Außen-Grenze zu einem ständigen Austausch der Stoffe, zu einem kosmischen Prozeß des Fließens, wie Coccia schreibt:
„Die Photosynthese ist nur der kosmische Prozess des Fließendmachens des Universums, einer der Bewegungen, über die sich das Fluidum der Welt herausbildet: was die Welt atmen lässt und in einem Zustand dynamischer Spannung hält.“ (Coccia 2018, S.55)
Atmosphäre und Atem – zwei Worte, die eine ähnliche Etymologie aufweisen: ‚Dunst‘ und (Lebens-)‚Hauch‘ – sind deshalb die zentralen Begriffe der Cocciaschen Pflanzen-Philosophie, in der er das wechselseitige ‚Umfassen‘ und ‚Eintauchen‘ von Pflanze und Atmosphäre bzw. Klima hervorhebt:
„Fließend ist die Struktur der universellen Zirkulation, der Ort, an dem alles mit allem in Kontakt kommt und sich mischen kann, ohne dabei Form und eigene Substanz zu verlieren. Das Blatt ist die paradigmatische Form dieser Öffnung: das Leben, das in der Lage ist, sich von der Welt durchqueren zu lassen, ohne von ihr zerstört zu werden.“ (Coccia 2018, S.42)
Sich in einer Atmosphäre aufzuhalten, sich bedingungslos von ihr ‚durchqueren‘ zu lassen, ohne selbst seinen Ort verlassen zu können, ist für animalisch strukturierte Wesen wie dem Menschen schwer nachvollziehbar. Dennoch sind auch wir von einer Atmosphäre umfaßt und in sie eingetaucht. Coccia bringt als Beispiel den Fisch:
„Das In-der-Welt-Sein alles Lebendigen wäre demnach aus der Welterfahrung des Fischs heraus zu verstehen. Dieses In-der-Welt-Sein, das also auch unseres ist, ist immer ein Im-Meer-der-Welt-Sein. Es ist eine Form des Eintauchens.“ (Coccia 2018, S.47)
Der Fisch liefert das Stichwort des ‚Eintauchens‘. In eine Welt eingetaucht zu sein, einer Welt, die uns gleichermaßen durchquert wie wir sie durchqueren, die gleichermaßen in uns ist wie wir in ihr, verändert unsere Beziehung zur Welt als Subjekten zu einem Objekt. Diese Differenz löst sich auf. Allerdings nicht vollständig. Denn auch der Fisch löst sich nicht auf. Er bleibt als Individuum erhalten. Wie soll man also ein Weltverhältnis beschreiben, in das man ‚eingetaucht‘ ist, und dennoch als Individuum erhalten bleibt?

Um das Eintauchen der verschiedenen Lebensformen in ihre Sphären: Erde, Wasser und Luft, nach dem Vorbild der Pflanzen zu beschreiben, unterscheidet Coccia zwischen Vermengung, Verschmelzung und Vermischung. (Vgl. Coccia 2018, S.70ff.) Vermengung meint das Nebeneinander und Durcheinander von Dingen in einem Haufen wie z.B. Getreidekörner in einem Getreidehaufen. Sie behalten ihre Gestalt bei und sind durch nichts miteinander verbunden als durch die Schwerkraft. Mit Verschmelzung ist gemeint, wie verschiedene Gegenstände ihre eigene Form aufgeben und sich zu einer neuen Form mit neuen Eigenschaften verbinden, wie etwa bei Metallegierungen. Mit Mischung ist gemeint, daß verschiedene Teile sich zu einem neuen Ganzen verbinden, das neue Eigenschaften aufweist, ohne daß dabei die Teile ihre Form verlieren; sie bleiben als individuelle Teile erhalten. Das Paradigma für so ein neues Ganzes als Mischung bildet die Atmosphäre. (Vgl. Coccia 2018, S.72)

Der Begriff der Atmosphäre und mit ihm der ‚Atem‘ bildet zugleich das Zentrum einer neuen Erkenntnistheorie: der „Pneumatologie“. (Vgl. Coccia 2018, S.96) ‚Pneuma‘ kommt von griechisch ‚Hauch‘ und wird auch oft mit ‚Geist‘ übersetzt. Begriffshistorisch ist Coccias pneumatologischer Ansatz irgendwo zwischen Ontologie (Heidegger) und Phänomenologie (Husserl) angesiedelt, denen er vorwirft, die Welt noch als Behältnis, in dem sich etwas befindet bzw. in das etwas ‚hineingeworfen‘ werden kann, zu konzipieren (vgl. Coccia 2018, S.89) oder noch an einer geozentrischen Anthropologie festzuhalten (vgl. Coccia 2018, S.115). Coccias Pneumatologie ist in vielerlei Hinsicht eine ‚Mischung‘ aus ontologischen und phänomenologischen Begriffen, auch wenn er selbst darauf besteht, daß die ganze Anatomie und Physiologie der irdischen Lebensformen im Lichte seiner Pneumatologie einer gründlichen begrifflichen Revision unterzogen werden müsse:
„Wenn das Leben immer und zwangsläufig ein Eintauchen ist, dann dürfen die meisten Begriffe und Unterteilungen, die wir bei anatomischen und physiologischen Beschreibungen verwenden, genauso neu geschrieben werden wie die aktive Ausübung der Körperkräfte, die uns zu leben ermöglichen; im Grunde die Phänomenologie der konkreten Existenz aller Lebewesen.“ (Coccia 2018, S.47f.)
Der Ansatz einer solchen Neubeschreibung liegt in der Bewegungslosigkeit und Ortsfestigkeit der Pflanzen, die sich ihren jeweiligen Umwelten bedingungslos öffnen und trotz des Fehlens manipulativer Organe Welten erschaffen:
„Das Fehlen der Hände ist kein Zeichen eines Mangels, sondern vielmehr Folge eines restlosen Eintauchens in eben die Materie, die sie unentwegt gestalten. Die Pflanzen werden eins mit den Formen, die sie erfinden: Alle Formen sind für sie Abwandlungen des Seins und nicht lediglich des Tuns und Handelns. Eine Form zu erschaffen, bedeutet, sie mit seinem ganzen Wesen zu durchschreiten, so wie man Zeitalter oder Phasen seines eigenen Lebens durchschreitet.“ (Coccia 2018, S.25)
An die Stelle der Bewegung tritt die gegenseitige Durchdringung von Pflanze und Welt. Anders als Tiere und Menschen, deren Weltverhältnis über manipulative Organe vermittelt ist, ist das Weltverhältnis der Pflanzen unmittelbar und deshalb „kosmogonisch“:
„Die Pflanzen zu denken bedeutet, ein In-der-Welt-Sein zu denken, das unmittelbar kosmogonisch ist.“ (Coccia 2018, S.58)
Sie haben die Welt, den ‚Kosmos‘, erschaffen, die tierisches Leben möglich machte. Und da sie mit ihren Wurzeln zugleich auch das Innere der Erde bewohnen, vermitteln sie über Blatt und Wurzel zwischen Himmel und Erde. Dank den Pflanzen wird die Erde selbst zu einem „astrale(n) Raum“ (Coccia 2018, S.122), so daß alles Leben auf der Erde als „himmlisches Ereignis“ verstanden werden kann, als ein Faktum, in dem das Göttliche „mit der Wirklichkeit der Formen und Zufälle“ zusammenfällt. (Vgl. Coccia 2018, S.120)

Doch so universell und kosmologisch Coccias Pneumatologie auch angelegt ist, muß man festhalten, daß dieser Kosmos auf totaler Immanenz beruht. Der Sphärenbegriff (Atmo-Sphäre) – Coccia setzt sich an dieser Stelle auch kritisch mit Peter Sloterdijk auseinander (vgl. Coccia 2018, S.85f.) – kennt weder Transzendenz noch Exzentrik im Plessnerschen Sinne:
„Gerade die Wechselseitigkeit der Inhärenz macht den Atem zu einem ausweglosen Zustand: unmöglich, sich von dem Milieu zu befreien, in das man eingetaucht ist, unmöglich, dieses Milieu von unserer Gegenwart zu reinigen.“ (Coccia 2018, S.89)
Auf diese Problematik werde ich im folgenden Blogpost detaillierter eingehen.

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