„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. Oktober 2018

Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, München 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Wahrer als Sein
3. Wissenschaft als Zunft oder performativer Widerspruch

Emanuele Coccias „Philosophie der Pflanzen“ ist irgendwo zwischen Ontologie und Phänomenologie angesiedelt. Coccias Begriffe stammen teilweise aus beiden philosophischen Konzepten. So bezeichnet er z.B. seine „Pneumatologie“ (von ‚pneuma‘: Hauch) auch als „Phänomenologie der konkreten Existenz“. (Vgl. Coccia 2018, S.48) Und wenn er sich in das ‚Bewußtsein‘ der Pflanzen hineinzuversetzen versucht, erinnert das an phänomenologische Meditationen.

An die Ontologie erinnern Coccias Aussagen über den Wahrheitsgehalt seiner Pneumatologie: „Die Atmosphäre ist wahrer als das Sein.“ (Coccia 2018, S.150) – Die Atmosphäre wiederum bezeichnet Coccia als eine „ontologische Tatsache“. (Vgl. Coccia 2018, S.87)

Trotz solcher Anleihen aus Ontologie und Phänomenologie distanziert sich Coccia aber von den statischen Implikationen von Begriffen wie „Wesen“ und „Form“:
„Im Atem verbinden sich für einen Moment das Tier und der Kosmos und prägen eine andere Einheit als die, die Wesen oder Form markiert.“ (Coccia 2018, S.77)
Wesen und Form sind also nicht vereinbar mit dem universellen Fließen, von dem alles Lebendige ‚durchquert‘ wird, so daß Begriffe wie ‚Substanz‘ oder ‚Ding‘ ihre Gültigkeit verlieren; denn das „paradoxeste Merkmal des Atems“ ist seine „Substanzlosigkeit“. (Vgl. Coccia 2018, S.72) Der Atem bildet eine eigene Erkenntnisweise, in der nicht zwischen Subjekt und Objekt differenziert wird, weil sich im wechselseitigen Umfaßtsein von Lebensform und Atmosphäre Subjekt- und Objektposition immer wieder austauschen: „Man kann die Welt nur eratmen.“ (Coccia 2018, S.78)

Coccia versucht mit seiner Pneumatologie zwei Prinzipien, die sich gegenseitig ausschließen, zusammenzudenken: wechselseitige Durchdringung und Trennung. Das eine Prinzip dynamisiert die Grenze zwischen Innen und Außen so sehr, daß es sie letztlich auflöst:
„In jedem Klima ist das Verhältnis von Umfassendem und Umfasstem ständig reversibel: Was Ort ist, wird Umfasstes, was Umfasstes ist, wird Ort.“ (Coccia 2018, S.41)
Es gibt kein eigenes, individuelles Verhältnis zu dieser Grenze, nur die wechselseitige Durchquerung, die Coccia als „Mischung“ bezeichnet, um sie so von „Vermengung“, also dem bloßen Nebeneinander von Dingen, und „Verschmelzung“, also der Erzeugung einer neuen Form mit neuen Eigenschaften, zu unterscheiden. (Vgl. Coccia 2018, S.70ff.) Die Mischung ermöglicht das Zusammenwirken von Teilen in einem Ganzen, ohne daß die Teile ihre individuelle Form verlieren.

Die Mischung ermöglicht also eine Trennung in der Durchquerung: „... in eben dieser Bewegung (begründet) das Lebendige und die Welt ihre Trennung.“ (Vgl. Coccia 2018, S.77)

Es scheint also so etwas wie einen Hiatus, eine Diskontinuität in der Mischung zu geben, insofern „das Leben ein Bruch in der Asymmetrie zwischen Umfassendem und Umfasstem ist“. (Vgl. Coccia 2018, S.23) Aber das täuscht. Durchdringung und Trennung bilden in Coccias Pneumatologie nicht wirklich zwei verschiedene Prinzipien, sondern stehen unter dem übergreifenden Postulat kosmologischer Kontinuität, in der alle Materie und alles Leben miteinander verbunden sind:
„Die wahre Immanenz ist die, die jedes Ding innerhalb jedes anderen Dings existieren lässt. Alles in allem bedeutet, dass alles in allem immanent ist.“ (Coccia 2018, S.94)
Da Coccia die pflanzliche Sichtweise als Paradigma dieses „Alles in allem“ darstellt, bedeutet das zugleich, daß er auch die animalische Perspektive auf sie zurückführt. Das animalische Weltverhältnis wird nicht eigens gewürdigt. Damit geht auch die spezifisch menschliche Bewegungsfreiheit auf der Grenze zwischen Innen und Außen verloren, denn, so Coccia, es ist uns „unmöglich“, uns von unserem „Milieu zu befreien“. (Vgl. Coccia 2018. S.89) Das Milieu bzw. die ‚Sphäre‘ wird so zur Höhle des Platonischen Gleichnisses. Hans Blumenberg aber hatte seine Anthropologie noch vor allem an deren Ausgängen orientiert. (Vgl. Blumenberg: „Höhlenausgänge“ (1989))

Statt also die Humanität zu würdigen oder sie auch nur zu reflektieren, wird dem Menschen ein antispezietistischer „Chauvinismus“ unterstellt:
„Unser tierische Chauvinismus() weigert sich, das Terrain einer ‚Tiersprache‘ zu verlassen, ‚die für eine Bezugnahme auf eine Pflanzenwahrheit ungeeignet ist‘.() In diesem Sinn ist der antispeziesistische (Schreibweise des Autors – DZ) Animalismus nur ein Anthropozentrismus unter Einbeziehung des Darwinismus ...“ (Coccia 2018,S.16)
Dieser Chauvinismus bezieht sich nicht nur auf das Ignorieren von Pflanzenwahrheiten, neben denen es auch noch animalische Wahrheiten geben könnte, denn wie schon erwähnt: „Die Atmosphäre ist wahrer als das Sein.“ (Coccia 2018, S.150) – Wo Coccias Pneumatologie die Anthropologie hätte bereichern und ergänzen können, wird diese Anthropologie im Zeichen pflanzlich-kosmischer Kontinuität gleich ganz abgeschafft. Dabei verstrickt sich Coccia in begriffliche Widersprüche. Er konfrontiert zwei seiner Ansicht nach sich gegenseitig ausschließende philosophische Perspektiven, Husserls Geozentrismus (vgl. Coccia 2018, S.115ff.) und den Heliozentrismus von Kopernikus (vgl. Coccia 2018, S.118ff.) und schlägt sich dabei ganz auf die Seite des Heliozentrismusses, den er für die kosmische Dimension in Anspruch nimmt. Und er radikalisiert diesen Heliozentrismus sogar noch zu einer Astrologie (also nicht Astronomie), in der sich Gestirne und irdische Lebensformen wechselseitig beeinflussen (durchqueren). (Vgl. Coccia 2018, S.117f.)

Dem Husserlschen Geozentrismus wirft Coccia seine Bodenverhaftetheit vor. Wer mit seinen zwei Füßen auf dem Erdboden steht, widersteht dem universellen Fließen und Zirkulieren und macht die Erde zu einem vom übrigen Kosmos abgegrenzten Ort. (Vgl. Coccia 2018, S.115f.) Das widerspricht aber Coccia zufolge der pflanzlichen Anatomie, die mit Wurzel und Blatt in beiden Sphären beheimatet ist: der Erde und dem Himmel. Sie ist es, die die wechselseitige Durchquerung von Erde und Kosmos ermöglicht, und die Erde in einen „astralen Raum“ verwandelt. (Vgl. Coccia 2018, S.122)

Plötzlich werden also die Weltverhältnisse umgekehrt: nicht mehr die Pflanze ist bewegungslos an ihren Ort gebunden, sondern der Mensch, der mit seinen beiden Füßen auf dem Erdboden steht. Das ist nicht einfach nur paradox; hier stimmen vielmehr die Begriffe nicht mehr. Weitere Widersprüche tun sich dort auf, wo Coccia seltsamerweise die Unbewohnbarkeit des Kosmos mit der Bewohnbarkeit der Erde wechselseitig miteinander zu verbinden versucht:
„... dass die Erde ein astraler Raum ist, bedeutet anzuerkennen, dass es auch Unbewohnbares gibt, dass der Raum nie endgültig bewohnbar sein wird.“ (Coccia 2018, S.122)
Anstatt also seinerseits anzuerkennen, daß die geozentrische Perspektive durchaus ein Bewußtsein davon beinhaltet, daß die Erde eine winzige Oase in den lebensfeindlichen Weiten des Weltraums ist, soll es nun gerade genau umgekehrt sein: Nur wenn wir anerkennen, daß die Erde ein astraler Raum sei, soll das zur Erkenntnis von der zumindestens teilweisen Unbewohnbarkeit vom Rest des Universums führen! – Die Logik ist verquer: die Erde ist als astraler Raum Teil des Kosmos, und das ist ein Beleg dafür, daß der Kosmos nie endgültig bewohnbar sein wird?

Dieser kognitiven Zumutung fügt Coccia sogleich noch ein weiteres ‚Paradox‘ hinzu:
„Jede Behausung tendiert zur Unbewohnbarkeit, wird Himmel und nicht Haus.“ (Coccia 2018, S.122)
Auch wenn Coccias Pneumatologie auf dem Umstand der Mischung beruht, in der alles in allem enthalten ist, heißt das noch lange nicht, daß sich auch alle Begriffe einfach so mischen lassen! Der Begriff ‚Haus‘ beinhaltet denknotwendigerweise seine Bewohnbarkeit. Wenn ein Haus nicht mehr bewohnbar ist, haben wir es mit einer Ruine zu tun und nicht mit einem Haus. Die Ruine ist die einzige Tendenz eines Hauses, mit der es aufhört, ein Haus zu sein. In diese Ruine mag dann durchaus der Himmel hineinleuchten. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß das ehemalige Haus jetzt zum Himmel geworden ist. Sollte in diesem Sinne auch die Erde zum ‚Himmel‘ werden, hätte sie ihre verletzliche Hülle, Ozonschicht und Magnetfeld, verloren und wäre tatsächlich endgültig unbewohnbar. Für Pflanzen übrigens auch.

Es ist also allererst der Geozentrismus – also das Faktum der einzigartigen Bewohnbarkeit unserer Erde –, der bzw. das uns die Unbewohnbarkeit des Universums zu denken erlaubt. Kein ‚Fluidum‘ vermag zwischen den Gestirnen und uns auf der Erde zu vermitteln, wenn die Erde vielleicht einmal unbewohnbar geworden sein wird.

Die Nivellierung des Tierisch-Menschlichen auf Pflanzenphysiologie beinhaltet auch ein Vernunftkonzept, das merkwürdigerweise der naturwissenschaftlichen Ratio sehr nahesteht. Coccia verzichtet zwar weitgehend auf die Subjekt-Objekt-Differenz, aber das ist den Naturwissenschaftlern, die alles Subjektive unter Irrationalitätsverdacht stellen, gar nicht so fremd, wie man meinen könnte. Coccia ist jedenfalls ebenfalls der Meinung, daß man so etwas wie ein schöpferisches Subjekt nicht braucht, um bei der Gestaltung und Umgestaltung von Welt erfolgreich zu sein:
„Der Abstraktion des Schöpfens und der Technik – beides kann Formen gestalten, sofern Schöpfer und Produzent des Umformprozesses ausgeschlossen bleiben – stellt die Pflanze die Unmittelbarkeit der Metamorphose gegenüber: Etwas zu erzeugen, bedeutet immer, sich selbst umzuformen.“ (Cocca 2018, S.25)
Das klingt zwar irgendwie spirituell, meint aber letztlich nur, daß die Pflanze auf ein Schöpfer- und Produzentensubjekt ganz gut verzichten kann. Trotzdem geht sie bei ihren Umformungsprozessen aber wie ein menschlicher Ingenieur vor, der die Realität ‚modelliert‘. Auch die Pflanzen greifen Coccia zufolge auf in den Erbanlagen vorrätige Modelle zurück, anhand deren sie Formen in die Welt setzen (vgl. Coccia 1018, S.25), und ihre Produktionsstätte, ihre Fabrik, sind Blüte und Samen:
„Sie (die Blüte – DZ) ist an sich der vollkommene Ausdruck für den vollständigen Zusammenfall von Leben und Technik, Materie und Vorstellungskraft, Geist und Ausdehnung.“ (Coccia 2018, S.130)
Die Blüte (und der Samen) bildet Coccia zufolge die „paradigmatische Form der Rationalität“:
„Denken heißt immer, sich in die Sphäre der Äußerlichkeiten zu begeben, nicht um eine verborgene Innerlichkeit auszudrücken, nicht um zu sprechen, etwas zu sagen, sondern um verschiedene Wesen kommunizieren zu lassen.“ (Vgl. Coccia 2018, S.137)
Damit wird die Intelligenz bzw. das Bewußtsein von jeder Notwendigkeit ‚sich auszudrücken‘, also von der Expressivität als wiederum der paradigmatischen Form der spezifisch menschlichen Intentionalität, befreit. An ihre Stelle treten ‚Algorithmen‘ wie der „Gencode“, den Coccia dann sogar als „Wissen“ mit dem „Wesen“ zusammenfallen läßt, womit er vollends in eine ontologische Redeweise zurückfällt, die er an anderer Stelle eigentlich schon als obsolet und reformbedürftig dargestellt hatte:
„Während das Bewusstsein beim Menschen oder beim Tier ein akzidentelles, vergängliches Faktum ist, fällt im Samen (und man könnte sagen auch im Gencode) das Wissen mit dem Wesen zusammen, dem Leben, mit Kraft und Tat an sich.() Die Gene sind das Gehirn der Materie, sein Geist.“ (Coccia 2018, S.132)
Trotz seiner ‚radikalen‘ Haltung hinsichtlich des tierisch-menschlichen Chauvinismusses verträgt sich Coccias Pflanzenphilosophie erstaunlich gut mit dem aktuellen technisch-naturwissenschaftlichen Mainstream. Auch was die anscheinend unausrottbaren reproduktionsmedizinischen ‚Irrtümer‘ betrifft: denn es ist nicht der Gencode, der das neue Leben ‚produziert‘ und auf den Coccia den Samen zu reduzieren versucht, sondern die Zelle.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen