„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. Oktober 2016

Friedo Ricken, Sterblichkeit – Gerechtigkeit – Freundschaft. Zum Menschenbild der Antike (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.13-30)

Friedo Ricken, Jesuit und emeritierter Philosoph der Hochschule der Jesuiten in München, leitet mit seinem Beitrag zum „Menschenbild der Antike“, „Sterblichkeit – Gerechtigkeit – Freundschaft“ (2015), den Herausgeberband „Orientierung am Menschen“ ein. Der Titel seines Beitrags verspricht mehr, als der Beitrag hält. Der erste Begriff im Begriffsdreiklang des Haupttitels taucht nur auf der ersten Seite des Beitrags auf. Dabei handelt es sich bei der Sterblichkeit um den interessantesten und für die Klärung des antiken Menschenbildes ergiebigsten Begriff, während es sich bei den anderen beiden Begriffen, so fundamental sie auch zu sein scheinen, um Spezialthemen handelt, die Ricken zu keiner Klärung des antiken Menschenbildes nutzt und ihm letztlich bloß Anlässe zu Sentenzen und Plattitüden liefern.

Zu Beginn seines Beitrags verweist Ricken auf einen Vers von Epicharm (um 540 bis um 460 v.Chr.): „Sterbliches soll der Sterbliche, nicht Unsterbliches der Sterbliche denken.“ (zitiert nach Ricken 2015, S.13). Noch im selben Absatz hebt Ricken, ohne weiter auf diesen Vers einzugehen, hervor, daß sich Aristoteles (384 bis 322 v.Chr.) in seiner „Nikomachischen Ethik“ „mit aller Entschiedenheit“ gegen Epicharms Maxime gewendet habe. (Vgl. ebenda) Auf der nächsten Seite verweist Ricken auf Platon (um 428/427 bis um 348/347 v.Chr.), der schon vor Aristoteles dem Vers des Epicharm widersprochen habe (vgl. Ricken 2015, S.14), was Ricken ein paar Seiten später nochmal wiederholt (vgl. Ricken 2015, S.17). Das ist alles, was Ricken zum ersten Begriff im Titel seines Beitrags zu sagen weiß.

Dafür ist die Auseinandersetzung mit den anderen beiden Begriffen um so umfänglicher, wenn auch in weiten Teilen nicht gerade gründlicher. Rickens Beitrag wimmelt von Plattitüden und Kuriosa, die allesamt wenig bis nichts zum Menschenbild der Antike beitragen. So zitiert Ricken z.B. eine Ermahnung Hesiods (vor 700 v.Chr.) an seinen Bruder, von dem er sich beim Erbe des Vaters hintergangen fühlt:
„Hesiod mahnt seinen Bruder zu arbeiten. Gefährte des Trägen ist der Hunger. Wer nicht arbeitet, über den sind Götter und Menschen unwillig, denn er lebt auf Kosten anderer Menschen; er ist zu vergleichen mit den Drohnen, die das verzehren, was die fleißigen Bienen gesammelt haben; dagegen ist wer arbeitet den Göttern lieb. ‚Arbeit ist keine Schande, aber Nichtstun ist Schande‘ .... . Arbeit schafft Reichtum, und den Reichtum begleiten Würde und Ansehen.“ (Ricken 2015, S.22)
Das ist alles. Ricken zitiert diese Binsenwahrheit ohne weiterführende und tiefergehende Analyse. Dem Leser bleibt es überlassen, sich dabei „Aha!“ zu denken und nachdenklich mit dem Kopf zu nicken.

Zu Platon paraphrasiert Ricken u.a. folgende Bemerkungen zu den „Krankheiten der Seele“:
„Wer unter ihnen leidet, kann nichts richtig sehen noch hören und ist zu keiner vernünftigen Überlegung fähig. Platon verweist auf die körperliche Ursache. ‚Wem sich um sein Mark herum in Menge flüssiger Samen bildet, wie wenn ein Baum über das Maß Früchte hervorbringt, der bekommt in seinen Begierden und in den Folgen, die sich aus ihnen ergeben, viele und jeweils heftige Schmerzen, aber auch heftige Lustempfindungen‘ ... .“ (Ricken 2015, S.17f.)
Diese ‚Einsichten‘ in die medizinischen Kenntnisse der Antike mögen den Leser vielleicht amüsieren, und er wird sich nun mit einem Lächeln den nächsten Anekdoten, von denen Ricken zu berichten weiß, zuwenden. Aber was trägt das alles bitteschön zu unserem Wissen über das Menschenbild der Antike bei?

Noch ein letztes Beispiel. Die Weisheiten des Aristoteles, was die Freundschaft betrifft, verdichtet Ricken zu folgender Nullaussage: „Das Gute ist für den Guten von Natur aus als Freund wählenswert; was von Natur aus gut ist, ist für den Guten als solches gut und angenehm.“ (Ricken 2015, S.29) – Mehr Tautologie geht nicht! Der Informationswert dieser Sätze grenzt an Dadaismus.

Es gibt tatsächlich zwei bis drei Stellen, die etwas mehr bringen, als der Rest des Beitrags. So bestimmt Ricken den Begriff der Gerechtigkeit als ein Selbst- und Weltverhältnis des Menschen und kommt damit dicht an den Bereich heran, den man als ernstzunehmende Anthropologie bezeichnen könnte. Ricken bestimmt anhand von Platons Dialog „Der Staat“ den Begriff der Gerechtigkeit anhand dessen, was Ungerechtigkeit ist:
„Sie“ – also die Ungerechtigkeit – „macht die Gemeinschaft, in der sie sich findet, sei es ein Heer oder ein Staat, erstens ‚unfähig als Ganzes zu handeln wegen der Zwietracht und Uneinigkeit‘, und zweitens ‚verfeindet (sie) mit sich selbst, mit allem Entgegengesetzten und so auch mit dem Gerechten‘ ... .“ (Ricken 2015, S.25)
Diese Auswirkungen der Ungerechtigkeit gehören Ricken zufolge zu ihrem „Wesen“ (vgl. ebenda), und er ergänzt:
„Wie die Ungerechtigkeit, so ist auch die Gerechtigkeit ein Verhältnis des Menschen nicht nur zum anderen, sondern auch zu sich selbst; vor dem äußeren betrifft sie sein inneres Wirken.“ (/Ricken 2015, S.26)
Das ist durchaus interessant. Aber das ist auch schon alles. Wir erfahren lediglich, was das ‚Wesen‘ der Gerechtigkeit ist. An dieser Stelle hätte sich eine weitere Diskussion anschließen müssen, ob das ‚Wesen‘ der Gerechtigkeit überhaupt und wenn, wie genau das ‚Wesen‘ des Menschen ‚betrifft‘. Diese Diskussion wird uns vom Autor vorenthalten.

So verfährt Ricken auch beim Begriff der Freundschaft. Wir erfahren vieles darüber, was Aristoteles zum ‚Wesen‘ der Freundschaft zu sagen weiß. Vieles davon mündet wiederum in die bereits erwähnten Plattitüden. Aber auch hier erfahren wir noch etwas Interessantes; auch die Freundschaft bildet für Aristoteles wie die Gerechtigkeit für Platon ein Selbst- und Weltverhältnis:
„Die Merkmale der Freundschaft sind aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst abgeleitet; nur die Guten können im vollen Sinn Freunde sein, und der Gute lebt in Freundschaft mit sich selbst.“ (Ricken 2015, S.28)
Darüberhinaus erfahren wir, daß Aristoteles den Begriff der Freundschaft für fundamentaler hält als den Begriff der Gerechtigkeit:
„Wenn Menschen Freunde sind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit; hingegen bedarf es, wenn sie gerecht sind, zusätzlich der Freundschaft ...“ (Zitiert nach Ricken 2015, S.26; eine aufgeschlüsselte Quellenangabe fehlt.)
Hier wäre eine eingehenderende Diskussion des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Freundschaft mit den entsprechenden Implikationen für das Menschenbild der Antike wünschenswert gewesen. Aber es fehlt jeder Verweis auf die Humanitas, die hier eigentlich nahegelegen hätte. Stattdessen bleibt es wie schon beim Begriff der Gerechtigkeit dabei, daß wir Vieles über das ‚Wesen‘ der Freundschaft und des ‚Guten‘ erfahren, aber wenig bis nichts über das ‚Wesen‘ des Menschen.

Bei all dem ist der Begriff des ‚Wesens‘ durchaus immer in Anführungszeichen zu setzen, und das nicht nur aus heutiger Sicht, sondern gerade auch aus Sicht der Antike selbst. Der eingangs angesprochene Begriff der Sterblichkeit stellt jeden Wesensbegriff in Frage und widersteht auch selbst jedem Versuch, ihn auf ein definierbares ‚Wesen‘ einzudampfen. Der zitierte Vers von Epicharm über die Sterblichkeit versetzt den Menschen nicht weniger in ein Selbst- und Weltverhältnis als die Begriffe der Gerechtigkeit und der Freundschaft. Hans Blumenberg (1920–1996) verweist in „Höhlenausgänge“ (1989) auf die begrenzte Lebenszeit des Menschen, für den ein überzeitlicher Wahrheitsbegriff nicht erlebbar und deshalb auch nicht lebbar ist. Der Begriff der Sterblichkeit eröffnet keinen Ausblick auf ein Wesen des Menschen, auch deshalb nicht, weil die Sterblichkeit selbst keine Wesensdefinition, auch nicht im Sinne der Heideggerschen Eigentlichkeit, ermöglicht.

Diese Einsicht findet sich auch bei Pindar (um 522 oder 518 bis 446 v.Chr.) wieder, und Ricken faßt sie mit folgenden Worten zusammen:
„Die Frage, was jemand ist, d.h. die Frage nach seinem Wesen, kann nicht beantwortet werden. Sie ist sinnlos, denn dieser Jemand hat kein Wesen; er ist das, was der Gott ihm jeweils zuschickt, und das unterscheidet sich wie ein Tag vom anderen.“ (Ricken 2015, S.13f.)
Das ist eine bemerkenswerte anthropologische Einsicht, auf die Ricken in der Folge nicht mehr zurückkommen wird.

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