„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 22. Oktober 2016

Margarete Stokowski, Untenrum frei, Reinbek/Hamburg 2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Verstand
2. Sprache

Im letzten Post hatte ich zwei Strategien erwähnt, mit denen Margarete Stokowski die Frauen aus ihrer Opferrolle und von der Gleichsetzung von Sex und Frau befreien will: den Gebrauch des eigenen Verstandes und die Sprache. In diesem Post möchte ich jetzt auf die Sprache eingehen. Die Sprache ist zunächst einmal ein wichtiger Faktor im Sexleben des Menschen. Dann aber bildet auch der Sex selbst einen Ausdruck unserer Menschlichkeit, also eine Art Sprache. Das zeigt sich besonders krass an einem YouTube-Video, auf das Stokowski zu sprechen kommt, in dem Jugendliche dermaßen herabsetzend und verächtlich über ihr Sexleben sprechen, daß es einem beim Lesen dieser Textpassagen wehtut. Da werden Gleichaltrige, gleichviel ob Mädels oder Jungs, die man aus irgendeinem Grund ablehnt, als „behindert“ bezeichnet. Mädchen sind ‚Tussen‘, die ‚man‘ zu Hause ‚hat‘ wie einen Hund oder ein Kaninchen; und wenn ‚man‘ Sex mit ihnen hat, dann werden sie ‚gepflügt‘. (Vgl. Stokowski 2016, S.69)

Zugleich weist die Autorin darauf hin, daß diese Jugendlichen keineswegs ‚cooler‘ sind als frühere Generationen von Jugendlichen. Sie sind genauso verletzlich und suchen genauso nach Orientierung:
„Was das richtige Verhalten Gleichaltrigen gegenüber betrifft, sind Jugendliche heute nicht so viel sicherer als früher, sie stellen dieselben Fragen wie eh und je: Woher weiß ich, ob er /sie mich mag? Wie zeige ich ihm/ihr, dass ich ihn/sie mag und was machen wir dann zusammen? Habe ich eine Chance? Und, verdammt, wer bin ich?“ (Stokowski 2016, S.70)
In dem menschenverachtenden, sich selbst herabsetzenden Verhalten dieser YouTube-Jugendlichen spiegelt sich einerseits die Marktförmigkeit der gesellschaftlich prostituierten Sexualität. Zugleich wird aber deutlich, wie sehr die pubertierenden Jugendlichen im Sex nach Selbstbestätigung suchen, nach Selbstausdruck. Jungs haben dabei den Vorteil, daß sie ihre Bedürfnisse offen artikulieren dürfen, während Mädchen mit ihrem Körper so sehr mit Sex gleichgesetzt werden, daß sie nur als Projektionsfläche der männlichen Selbstbestätigung dienen, ohne eigene Bedürfnisse artikulieren zu können:
„Wer angeschaut wird, darf nicht automatisch sprechen.“ (Stokowski 2016, S.105)
Gerade im Darüber-Sprechen, im Artikulieren eigener Bedürfnisse liegt aber die Möglichkeit, zwischen Subjekt und Objekt zu wechseln, denn die Sprache, mit der ich spreche, bin nicht ich. Indem ich mich in fremden Worten ausdrücke, werde ich frei gegenüber der Grenze zwischen Innen und Außen. Ich kann mich exzentrisch zu mir und zur Welt mir gegenüber positionieren. Stokowski beschreibt mit Plessnerscher Genauigkeit die expressive Natur der Sprache:
„Sobald wir anfangen, das Wort zu ergreifen und unsere eigene Geschichte öffentlich zu erzählen, geschieht etwas. Wir geben etwas nach außen, das in uns war. Damit werden wir etwas los, und gleichzeitig werden andere etwas mit unseren Erzählungen anfangen: Sie werden sie hören, fortsetzen, kommentieren oder ignorieren. Alles ist möglich. Es ist ein paradoxer Akt. Einerseits ist es sehr intim, von sich zu sprechen: Meine Erlebnisse, meine Gefühle, alles ist meins, meins, meins. Aber die Sprache, mit der ich das alles formuliere, ist nicht meine, ich habe die Wörter nicht erfunden, ich leihe sie mir nur aus und gebe sie an die Welt zurück. Weil es diese unüberbrückbare Differenz gibt, muss ich Worte finden, die sich richtig anfühlen. Aber gerade weil Sprache das ist, was wir teilen, kann sie der Zugang sein, durch den wir erkennen: Andere haben ähnliche Erfahrungen.“ (Stokowski 2016, S.195f.)
Die „unüberbrückbare Differenz“, von der die Autorin spricht, entspricht der Differenz des Begehrens, der Seele, wie sie Helmuth Plessner beschreibt, als ein Verhalten auf der Grenze zwischen Sich-Zeigen und Sich-Verbergen. Wir versuchen unser Begehren auszudrücken, aber die Worte bleiben ‚fremd‘. Sie sind Versuche, Anfragen an die Welt, ob da etwas ist, das wir miteinander teilen können. Indem wir uns sprechend jemandem zuwenden, beginnen wir die gemeinsame Welt zu gestalten. (Vgl. Stokowski 2016, S.196) Indem wir zu sprechen beginnen, so Stokowski, „ent-opfern“ wir uns. (Vgl. Stokowski 2016, S.197)

Letztlich entscheidet es sich an unserer Sprache, ob Sex etwas ist, das „eklig“ und „pervers“ ist oder eine Erfüllung, befreite Individualität oder Unterwerfung und Sklaverei. Insofern machen Unterstriche und großgeschriebene Is Sinn:
„Sie sagen, Wörter wie ‚Studierende‘, ‚BürgerInnen‘ oder ‚Arbeiter-innen‘ seien nicht schön. Solche Argumente sind, gelinde gesagt, verdächtig, wenn sie nicht gerade von Dichtern kommen. Leuten, die sich nie im Leben um die Schönheit von Sprache geschert haben, bemühen ein plötzlich erwachendes ästhetisches Empfinden bezüglich der Armut von Wörtern?“ (Stokowski 2016, S.205f.)
Da kann ich nichts gegen einwenden. Die Hauptsache ist aber, daß wir zu einer Sprache finden, in der das Reden über Sex nicht mehr wehtut. Ich habe den Eindruck, daß Margarete Stokowski mit ihrem Buch ein wenig dazu beizutragen vermag.

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