„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 21. Oktober 2016

Margarete Stokowski, Untenrum frei, Reinbek/Hamburg 2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Verstand
2. Sprache

Margarete Stokowski geht es in ihrem Buch „Untenrum frei“ (2016) darum, zu zeigen, „wie die Freiheit im Kleinen mit der Freiheit im Großen zusammenhängt“. (Vgl. Stokowski 2016, S.7) Die Autorin meint mit klein und groß sicher zunächst die individuelle und die gesellschaftliche Ebene. Man könnte das aber auch auf ‚untenrum‘ und ‚obenrum‘ beziehen, und wie sich ‚klein‘ und ‚groß‘ da verteilen, können Leserin und Leser selbst entscheiden, je nach dem, welchen Stellenwert sie dem Sex und dem Verstand in ihrem Leben einräumen. – Hauptsache frei!

Eine weitere These ihres Buches ist, daß das, was wir im Alltag Sex nennen, gar kein Sex ist: „Es ist ein diffuses Versprechen einer Möglichkeit, die mit tatsächlichem Sex nur sehr wenig gemeinsam hat.“ (Stokowski 2016, S.9)

Tatsächlich werden in der Öffentlichkeit mit Sex – und das heißt vor allem mit Frauen, da Sex und Frausein gleichgesetzt werden (vgl. Stokowski 2016, S.72) – Produkte beworben. Sex bildet also vor allem eine Verkaufsstrategie, und genauso leben wir auch den sogenannten ‚Sex‘ im Alltag, wo, wie Stokowski an einer Stelle schreibt, Männer Frauen, mit denen sie eine feste Beziehung eingehen wollen, ‚vom Markt nehmen‘.

Obwohl also über weite Passagen des Buches vor allem von meist mißlingendem Sex die Rede ist, handelt es sich dabei eigentlich gar nicht um Sex. Das zeigt die Autorin nirgendwo so deutlich wie an den Stellen, wo Jugendliche über das jeweils andere ‚Geschlecht‘ reden. Da wird in einer Sprache gesprochen, die, wie in Stokowskis Beschreibung eines YouTube-Videos, auf mich so abstoßend und unmenschlich wirkt, daß es mich gruselt:
„Sie (die Jugendlichen – DZ) benutzen das Wort ‚behindert‘ im Sinne von ‚scheiße‘ und stellen fest: ‚Wenn ’ne Frau nicht kochen kann, ist es keine Frau.‘ Sie finden es geil, wenn sie ‚so ’ne Tusse‘ zu Hause haben und sie am nächsten Tag ein T-Shirt von einem ausleiht, ‚das ist ein Indiz dafür, dass man die Frau gepflügt hat‘.“ (Stokowski 2016, S.69)
Es macht keinen Unterschied, ob hier Jungs über Mädels oder Mädels über Jungs sprechen. Denn es gibt genug Mädels, die sich durch eine solche ‚Anerkennung‘ geehrt fühlen.

Zugleich aber hat sich an der pubertären Befindlichkeit dieser Jugendlichen gegenüber vorangegangenen Generationen nicht das Geringste geändert. Tatsächlich sind sie unterhalb ihres übercoolen Gefasels genauso orientierungslos und verletzlich wie vorangegangene Generationen:
„Was das richtige Verhalten Gleichaltrigen gegenüber betrifft, sind Jugendliche heute nicht so viel sicherer als früher, sie stellen dieselben Fragen wie eh und je: Woher weiß ich, ob er /sie mich mag? Wie zeige ich ihm/ihr, dass ich ihn/sie mag und was machen wir dann zusammen? Habe ich eine Chance? Und, verdammt, wer bin ich?“ (Stokowski 2016, S.70)
Was ist also „eklig“ bzw. „pervers“ an Sex? (Vgl. Stokowski 2016, S.122) Und inwiefern hat Sex etwas mit Freiheit zu tun? Stokowski zufolge hat der Unterschied zwischen gutem Sex und schlechtem Sex bzw. zwischen Sex im eigentlichen Sinne und einer „Illusion von Sex“ (Stokowski 2016, S.70) etwas mit Subjekt und Objekt zu tun; also damit, „allen Menschen zuzugestehen, dass sie Subjekte und Objekte sein können, wenn sie wollen“. (Vgl. Stodowski 2016, S.8)

Vor allem Frauen sind hauptsächlich Opfer, wenn es um Sex geht. Sie haben nicht die Freiheit, zwischen beiden Rollen, zwischen Subjekt und Objekt, zu wechseln. Aus diesem Grund bezeichnet sich Stokowski als Feministin. Mit diesem ‚Label‘ will sie die Geschichte des Feminismus, die Mühe und die Arbeit vieler Generationen von Frauen ehren und zugleich fortsetzen. (Vgl. Stodowski 2016, S.14) Mit diesem Label will sie aber nicht eine Gruppe von Menschen von anderen Gruppen absondern. Vielmehr soll der Feminismus, den sie meint, das gemeinsame Anliegen aller Menschen vertreten:
„Eine politische Einstellung, die andere Menschen bevormundet, ausgrenzt oder beleidigt, hat mit dem, was ich unter Feminismus verstehe, nichts zu tun – dasselbe gilt für die Frage, ob Frauen sich so kleiden dürfen, dass sie Männern gefallen. Natürlich dürfen sie das, denn so ziemlich alle Sätze, die mit ‚Im Feminismus dürfen Frauen nicht ...‘ anfangen, sind falsch. Für mich bedeutet Feminismus, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität und ihrem Körper dieselben Rechte und Freiheiten haben sollen.“ (Stokowski 2016, S.12f.)
Es geht also darum, die Frauen aus der Opferrolle und ineins damit von der Gleichsetzung von Sex und Frau zu befreien. Es sind vor allem zwei Strategien, die die Autorin für besonders geeignet hält: den Gebrauch des eigenen Verstandes (vgl. Stokowski 2016, S.146 und S.171) und die Sprache (vgl. Stokowski 2016, S.195ff.). Schon als kleines Mädchen hat sich Stokowski ganz selbstverständlich nach der Kantischen Maxime gerichtet. Als die Großmutter einmal von ihr verlangte, vor dem Rausgehen warme Strumpfhosen anzuziehen, weigerte sie sich mit der Begründung: „Każdy sobą rządzi“, jeder regiert sich selbst. (Vgl. Stokowski 2016, S.15) Genau hier zeigt sich aber auch schon die Komplexität des Problems: zwar galt Stokowski als kleines Mädchen und später als Schülerin als frech und undiszipliniert (vgl. Stokowski 2016, S.38). Aber das betraf nur ihre Neugier, den Drang nach Wissen. Sobald es um ihre Frauenrolle ging, arbeitete sie schon vom Kindergarten an eifrig daran, ein richtiges, perfektes Mädchen zu sein. Sie war also frech und brav zugleich.

Für solche Paradoxien hat Stokowski ein Wort, das sich durch ihr ganzes Buch hindurchzieht und wie ein Brennglas die Problematik des eigenen Verstandesgebrauchs fokussiert: „Es ist kompliziert.“ (Stokowski 2016, S.12; vgl. auch S.14, 43, 140, 159) Immer wenn die Autorin konstatiert, daß etwas kompliziert bzw. komplex sei, markiert sie die Grenze, an der der Gebrauch des eigenen Verstandes zu scheitern droht. Daß unser Verstand begrenzt ist, ist nicht das Problem. Das Problem ist, wer die Grenzen unseres Verstandesgebrauchs zieht! Es sind immer wieder irgendwelche selbsternannten Autoritäten, die anderen Menschen vorschreiben wollen, was denkbar ist und was nicht. Dabei berufen sich diese Autoritäten heutzutage nicht mehr auf metaphysische Wesenheiten, sondern konstatieren einfach nur schlicht, daß ein bestimmtes Thema zu kompliziert bzw. zu komplex sei, um von einem Amateur oder Laien, der sich nicht in jahrelanger Arbeit eingearbeitet hat, verstanden zu werden. Wo es kompliziert wird, hört das Fragen auf, wie Stokowski die dänische Popsängerin und Songwriterin Tina Dico zitiert:

„Somewhere along the line you gave up asking
When it got a little too complex ...“ (Vgl. Stokowski 2016, S.158)

Es sind immer auch die Männer, die den ihre Rechte einklagenden Frauen entgegenhalten, daß sie ja gerne ihren Forderungen nachkommen wollten, aber es sei eben alles so kompliziert. Und auch der Feminismus ist deshalb kompliziert, weil es um Gerechtigkeit und Diskriminierung geht, um ein Thema also, das den Frauen nicht nur von den Männern angetan wird, sondern das sie sich selbst und einander antun (vgl. Stokowski 2016, S.184); und zwar immer dann, wenn sie darauf verzichten, ihren eigenen Verstand zu gebrauchen.

Wo es kompliziert wird, neigen wir dazu, uns zu entschuldigen und den eigenen Verstand abzuschalten. Alexander der Große hat gezeigt, was man stattdessen machen sollte: man nimmt sein Schwert und haut den gordischen Knoten mit einem Hieb durch!

Es geht also immer darum, am eigenen Verstandesgebrauch festzuhalten und notfalls die Dinge auch mal zu vereinfachen; wenn wir uns nur dessen bewußt sind, was wir da tun:
„Wir müssen Probleme ausblenden und Fragen ignorieren, spätestens seit es Massenmedien gibt. Wir wären handlungsunfähig, wenn uns alles Leid der Welt stets präsent wäre, oder wenn wir ständig alles anzweifeln würden, denn dann wüssten wir nicht mal, ob die Straße noch da ist, wenn wir das nächste Mal vor die Tür treten, und das wär ein schlechtes Gefühl.“ (Stokowski 2016, S.162)
Weil die Dinge nunmal meistens so fürchterich kompliziert sind, können wir nicht alles wissen. Und es geht darum, genau das auszuhalten.

Stokowski beschreibt, wie sie als Schülerin am Physikleistungskurs teilgenommen hatte und wie sie es geliebt hatte, in der Freizeit, nur so aus Spaß, Gleichungen zu lösen: „Ich könnte den ganzen Tag Gleichungen lösen, so befriedigend finde ich das.“ (Stokowski 2016, S.145) – Dabei war sie in dem Kurs das einzige Mädchen und wurde von den Jungs als Fremdkörper wahrgenommen.

An der Universität hat sich Stokowski aber nicht für Physik entschieden, sondern für Philosophie. Sie stellte fest, daß man in der Philosophie nie so genau weiß, ob das, was am Ende eines Denkprozesses herauskommt, auch wahr ist. Außerdem gefiel ihr der einzige Satz von Immanuel Kant, den sie damals kannte: ‚Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – „Gleichungen zu lösen“, schreibt Stokowski, erschien ihr dagegen „immer mehr wie masturbieren“. (Vgl. Stokowski 2016, S.146)

Stokowski entschied sich also für die Unwissenheit: für die Philosophie und dafür, es auszuhalten, daß die Dinge so kompliziert sind, daß man sie nicht in Gleichungen auflösen kann.

Der Gebrauch des eigenen Verstandes ist so wichtig für die Autorin, daß sie die Ziele des Feminismus mit den Zielen des Anarchismus gleichsetzt. Es geht ihr um die Abschaffung der Weltherrschaft. (Vgl. Stokowski 2016, S.160f.) Sich selbst beschreibt Stokowski als jemand, die sich schon immer in politischen Gruppen und auf Massenveranstaltungen unwohl fühlte:
„In den allermeisten Fällen gruselt es mich, mich einer Gruppe anzuschließen, und wenn ich eine ideale Gesellschaft zeichnen müsste, wäre das vor allem eine, in der ich meine Ruhe habe.“ (Stokowski 2016, S.13f.)
Ich teile Stokowskis zugrundeliegende Intuition. Gruppenzugehörigkeiten sind mir immer schon suspekt gewesen, und als junger Mann war ich ebenfalls Anarchist, wie es sich für einen jungen Menschen gehört. Aber inzwischen habe ich eine ganze Portion Mißtrauen gegenüber den Menschen entwickelt. In jeder Generation werden Menschen geboren, die sich zu so etwas wie einem Arschloch entwickeln. Diese Möglichkeit besteht unabhängig von der Gesellschaftsform, da die Entwicklung des Menschen weder planbar noch steuerbar ist. Um diese Arschlöscher unter Kontrolle zu halten, bedarf es einer zivilisierten Gesellschaft, die den Menschen vor sich selbst schützt. Ob es dazu eines Staatsapparates bedarf, ist wieder eine andere Frage. Es ist eben kompliziert.

Genau hier verwickelt sich Stokowski in einen Widerspruch, denn gegen Ende ihres Buches plädiert sie für ein Gruppen-Wir, im Sinne des gemeinsamen Anliegens, die Weltherrschaft abzuschaffen. Sie bezeichnet die Grundform dieses Gruppen-Wirs als Liebe:
„Liebe erweitert unser Selbst, sie lässt uns mit einem anderen Menschen so nah zusammenkommen wie nur möglich: Es entsteht ein Wir.“ (Stokowski 2016, S.217)
Dafür ist der Mensch nicht gemacht. Zwar weist die Autorin zurecht darauf hin, „dass wir nicht wissen, wie der Mensch als natürliches Wesen wäre, denn er ist es qua Definition nicht: Der Mensch ist das Tier, das Kultur hat und in absehbarer Zeit auch nicht mehr darauf verzichten wird“. (Vgl. Stokowski 2016, S.181) – Aber was die Gefühle betrifft, bin ich mir ziemlich sicher, daß Liebe auf Gruppenebene nicht funktioniert, sondern nur unter zweien oder dreien, also im privaten und intimen Bereich.

Ich glaube schon, daß wir es hier mit etwas zu tun haben, was man als Natur des Menschen bezeichnen könnte. Liebe ist kein Massenphänomen! Auch Stokowski hält übrigens die Wut für ein ‚natürliches‘ Gefühl, das man niemandem beibringen muß. (Vgl. Stokowski 2016, S.41) Natürlich muß man hier immer noch differenzieren, denn der gesellschaftlich-kulturelle Einfluß ist enorm. Eben deshalb gilt es wachsam zu sein: wir sollten intime Gefühle wie die Liebe nicht zu Gruppenphänomenen machen.

Obwohl Stokowski also ein starkes Unbehagen bei Gruppenbildungen empfindet, sollen die Menschen unter dem Zeichen des Feminismus und des Anarchismus bzw. der ‚Liebe‘ zusammenfinden und eine Mehrheit bilden, die die Minderheit der Rechthaber und Machthaber dominieren kann:
„Wir nehmen etwas in die Hand. Es wird Leute geben, die sagen: Lass das wieder los. Aber wir lassen nicht los. Wir sind viele, die nicht loslassen.“ (Stokowski 2016, S.196)
Da möchte ich widersprechen: Nein! Wir sind nicht viele! Es kommt nämlich überhaupt nicht darauf an, ‚viele‘ zu sein. Das Recht, an irgendwas und auch an sich selbst festzuhalten, ist unabhängig davon, wie viele es tun! Und das ist der Grund, warum Anarchie nicht funktioniert. Denn die wenigen, die ihren eigenen Verstand gebrauchen, brauchen nicht nur Mut, wie Kant zurecht festhält. Sie brauchen auch Schutz. Und noch leben wir glücklicherweise in einem Land, dessen Verfassung diesen Schutz garantiert.

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