„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. April 2016

Graham Harman, Vierfaches Objekt, Berlin 2015

(Merve Verlag, 17,00 €, 176 Seiten)

1. Naivität und Kritik
2. Vervierfachung der Objekte
3. Gestalt
4. Autonomie (oder auch nicht)
5. Lebenswelt und Seele
6. Karikaturen statt Expressionen

Vor etwa sechs Jahren hatte ich die Nase voll! Immerzu redeten die Philosophen vom Wesen: vom Wesen des Stuhls, vom Wesen der Gerechtigkeit, vom deutschen Wesen etc. Und immer gerieten sie dabei in Sphären, in denen ich ihnen mit meinem begrenzten Verstand nicht mehr folgen konnte. Schließlich hatte ich eine Idee. Beim ‚Wesen‘ ging es immer darum, daß es irgendwie ‚geschaut‘ werden mußte, mit all den mystischen Implikationen, die mit so einer Schau einhergehen. Ich wollte von nun an nicht mehr schauen, sondern an-schauen, und alles was darüber hinausgeht, sollte mich nicht mehr interessieren. An die Stelle des ‚Wesens‘ setzte ich die ‚Gestalt‘. (Vgl. meinen Post vom 21.06.2010)

Alles was die Philosophen als Merkmale des Wesens anführen, trifft auch auf den Begriff der Gestalt zu. Nur eines nicht: die Gestalt ist niemals verborgen, sondern sie liegt offen zutage. Man muß nur hinsehen. Auf sie trifft zu, was Helmuth Plessner das „Gesetz der Wesensphänomenalität“ nennt: „Die Geheimnisse der Natur liegen nicht hinter ihr oder in ihr wie geheimer Text in Chiffren versteckt, sie liegen öffentlich zutage.“ („Stufen des Organischen“ (1928/1975), S.226) – Es gibt jedenfalls gute Gründe dafür, warum es für Husserl „tatsächlich überhaupt keine Verborgenheit“ gibt (vgl. Harman 2015, S.35), und nicht der geringste besteht in der Autonomie des menschlichen Verstandes. In diesem Post soll es noch einmal detailliert darum gehen, inwiefern Graham Harman hinter diesen Erkenntnisstand zurückfällt.

Obwohl Harman selbst explizit auf seine Wertschätzung der phänomenologischen „Bewegung“ verweist (vgl. Harman 2015, S.170), zeigt ein Beispiel, das er wählt, um den Eidos bzw. das Wesen eines Objekts zu veranschaulichen, daß es ihm tatsächlich um etwas ganz anderes geht: „Wenn wir jedoch von den realen Qualitäten sprechen, die ein sinnliches Objekt haben muss, um das zu sein, was es ist, geht es nicht um einen Überzug, sondern um etwas, das man ‚Submersion‘ nennen könnte. Die notwendigen Qualitäten eines sinnlichen Objekts sind unter seiner Oberfläche versunken wie der Rumpf einer venezianischen Galeere, der für den Beobachter unsichtbar bleibt ...“ (Harman 2015, S.40)

Der Rumpf der Galeere ist der Galeere wesentlich bzw. „entscheidend“, wie Harman schreibt, da sie sonst im Wasser versinken würde, und er ist unseren Blicken entzogen. Der ganze über die Wasserfläche hinausragende obere Teil der Galeere hingegen mit seiner „Fülle an Fahnen und Emblemen“ (ebenda) ist nur akzidentell bzw. ‚sinnlich‘.

Es kommt immer auf die Beispiele an, die man wählt. Hans Blumenberg (1920-1996) wählt ein anderes Beispiel: Eisberge; und diese weisen, wie man weiß, einen gewissen Mangel an Fahnen und Emblemen auf. (Vgl. meinen Post vom 26.09.2012) Umso deutlicher zeigt sich an diesem Beispiel, daß sich der Eisberg oberhalb der Wasserfläche in keiner Weise von dem Eisberg unterhalb der Wasserfläche unterscheidet. – Je nach dem, welches Beispiel man wählt, kommt man also zu dem Ergebnis, daß sich das Wesen eines Objekts von dessen Oberfläche unterscheidet oder auch nicht.

Blumenbergs Beispiel macht darüberhinaus deutlich, daß Phänomene nicht von allen Seiten gleichermaßen sichtbar sind. Sie haben Rückseiten. Rückseiten kann man allerdings sichtbar machen, indem man die Perspektive wechselt. Außerdem sind sie nicht jederzeit in gleicherweise sichtbar. Manchmal sind sie im Hintergrund verborgen, und es bedarf eine besonderen Aufmerksamkeit, um sie zu erkennen. Husserl bezeichnet das als Lebenswelt, und diese Lebenswelt entspricht dem Heideggerschen „Zeug“, mit dem sich auch Harman ausführlich auseinandersetzt (vgl. Harman 2015, S.47ff. und meinen Post vom 15.03.2016), ohne ein einziges Mal auf Husserls Lebenswelt zu sprechen zu kommen.

Die Stichworte ‚Hintergrund‘ und ‚Lebenswelt‘ deuten ein weiteres Problem an, für das das Galeerenbeispiel denkbar schlecht gewählt ist. Husserl z.B. bezieht sich immer gerne auf Teetassen, die er vor seinem geistigen Auge hin und herwendet. Husserl nennt das „eidetische Variationen“ und dabei geht es immer darum, die eidetischen Merkmale eines Phänomens bzw. Objekts von seinen akzidentellen Merkmalen zu trennen. Die eidetischen Merkmale sind notwendig und bilden das ‚Wesen‘ bzw. das ‚Eidos‘ eines Phänomens. Durch Hin- und Herwenden einer Teetasse vor unseren Augen oder durch versuchsweise Manipulationen an der Tasse in unserer Vorstellung stellen wir fest, welche Merkmale wechseln bzw. weggelassen werden können – das sind die akzidentellen Merkmale – und welche Merkmale nicht wechseln oder welche nicht weggelassen werden können, ohne daß aus der Teetasse etwas anderes wird, und das sind die eidetischen Merkmale.

In dieser Hinsicht führt Harmans Galeerenbeispiel gleich in zweifacher Hinsicht in die Irre. Erstens ist es schwer vorstellbar, die Galeere in die Hand zu nehmen und hin und herzuwenden, es sei denn es handelt sich um das handliche kleine Modell einer Galeere. Zweitens – und das ist der eigentliche Knackpunkt – befindet sie sich im Wasser! Das bedeutet, daß wir hier keine Meditation vollziehen, in der wir die Realität der Galeere einklammern. Indem wir die Realität, nämlich das Wasser, zur Galeere hinzudenken, entsteht überhaupt erst das Problem, daß sich ein Teil der Galeere unseren Blicken entzieht. Dieser Umstand wird dann als Argument dafür benutzt, daß es sich bei diesem Teil der Galeere um ihr Wesen handelt.

Hinter der Unterscheidung zwischen Eidos und Akzidenzien, zwischen sinnlichen und realen Qualitäten verbirgt sich im Grunde nur eine simple Differenzierung von Vordergründen und Hintergründen, wie sie mit der Wahrnehmung von Gestalten einhergeht. Die Gestalt ist immer das, was in der Wahrnehmung aus einem Hintergrund heraus in den Vordergrund rückt. In dieser fokussierten Sichtbarkeit liegt ihr ‚Wesen‘ bzw. ihr ‚Eidos‘. Die Akzidenzien hingegen bilden Eigenschaften des Hintergrunds, der aus ständig wechselnden Licht- und Raumverhältnissen und einer unbestimmten Farben- und Formenvielfalt besteht. Wenn der Phänomenologe bestimmte ausgewählte Phänomene aus diesem Hintergrund heraushebt und sie eidetisch variiert, macht er im Grunde nichts anderes als wir alle in unserem Lebensalltag, nur bewußter und reflektierter: er trennt die Gestalt von ihrem Hintergrund.

Harmans vierfaches Objekt trennt also letztlich nur, was in unserer Wahrnehmung schon immer zusammengehört. Die realen Qualitäten sind weder rätselhaft noch verborgen, sondern bilden nur das Eidos, die Gestalt eines Gegenstandes, den wir in unserer Wahrnehmung fokussieren, und die sinnlichen Qualitäten, die ganze „verwirbelte() Oberfläche“, bilden seinen Hintergrund.

Alle diese Sachverhalte lassen sich hervorragend mit den Mitteln der Gestaltpsychologie beschreiben, ohne daß man irgendwo auf ein prinzipiell verborgenes Wesen zurückgreifen müßte. Harman bezweifelt das aber. Er beharrt darauf, daß es noch mehr geben muß als das, was man sehen kann oder auch nur sehen könnte, wenn man entsprechend hinschaut:
„Es wird stets Aspekte von Phänomenen geben, die mir entgehen; stets kann mich Unerwartetes erwarten. So sehr ich mich auch anstrenge, um mir Dinge bewusst zu machen, es wird immer noch weitere Bedingungen geben, die mir nie völlig bewusst werden. Wenn ich mit meinem Blick einen Fluss, einen Wolf, eine Regierung, eine Maschine oder eine Armee fixiere, erfasse ich nicht das Ganze ihrer Realität. Diese Realität verschwindet aus meinem Blickfeld in eine fortwährend verborgene Unterwelt und überlässt mir nur die frivolsten Simulacra dieser Entitäten. Kurzum, die phänomenale Realität der Dinge für das Bewusstsein erschöpft nicht ihr Sein.“ (Harman 2015, S.50f.)
Harman bezweifelt also die Relevanz des „Blickfelds“ und denunziert die Phänomene als ein Feld von phänomenologischen „Simulacra“, denen sich das Sein (Wesen) der realen Objekte grundsätzlich entzieht.

Aber es gibt noch ein weiteres Moment, das mit der Gestaltwahrnehmung verbunden ist und das Harman mit der indirekten Art und Weise verbindet, mit der seiner Ansicht nach reale Objekte miteinander in Kontakt treten. Harman verteidigt die ‚Autonomie‘ der realen, jeder Relation mit sinnlichen oder anderen Qualitäten entzogenen Objekte, indem er behauptet, daß reale Objekte über den Umweg über die sinnliche Oberfläche interagieren, in Form von indirekten ‚Berührungen‘:
„Wenn Kontakt im Bereich des Realen völlig unmöglich ist, Kontakt im sinnlichen Bereich jedoch eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, dann ist offensichtlich der sinnliche Bereich der Erfahrung der Ort, an dem jegliche Verursachung stattfindet. Die realen Objekte, die sich jedem Kontakt entziehen, müssen irgendwie in die sinnlichen Karikaturen ihrer selbst übersetzt werden, und diese übertriebenen Profile müssen jene kausalen Relationen befördern, die zwischen verborgenen realen Dingen unmöglich sind. Irgendwie müssen die Ereignisse, die in der sinnlichen Sphäre vorkommen, die Realität rückwirkend beeinflussen, die außerhalb jeder Erfahrung liegt.“ (Harman 2015, S.95)
Ein Beispiel für eine solche indirekte Verursachung ist das Feuer, das Baumwolle verbrennt. Zwar interagieren das reale Feuer und die reale Baumwolle nicht miteinander, aber indem die sinnlichen Qualitäten des sichtbaren Feuers die sinnlichen Qualitäten der sichtbaren Baumwolle verzehren, wird über diesen Umweg auch die reale Baumwolle vernichtet, ohne daß das reale Feuer mit der realen Baumwolle Kontakt haben muß: „... womöglich denkt das Feuer nicht an die Baumwolle, die es verbrennt, und womöglich empfindet es keine Schuld oder Mitleid hinsichtlich seiner Gewalttaten. Jedoch ist der Kontakt des Feuers mit der Baumwolle ein indirekter, da ein direkter Kontakt unmöglich ist.“ (Harman 2015, S.149)

Auf diese Weise können also sinnliche Qualitäten auf reale Objekte indirekt ‚anspielen‘: „Daher können die eidetischen Merkmale eines jeden Objekts selbst durch den Verstand niemals präsent gemacht werden, sondern lassen nur indirekte Anschauungen durch Anspielungen zu, ob nun in der Kunst oder der Wissenschaft.“ (Harman 2015, S.38f.)

Das erinnert an den Blumenbergschen Begriff der Metapher. (Vgl. meine Posts vom 06.09. bis zum 10.09.2011) Auch die Gestalt eines Objekts ist etwas, das oft trotz seiner offensichtlichen Sichtbarkeit zunächst nicht begrifflich, sondern nur metaphorisch erschlossen werden kann. Martin Wagenschein (1896-1988) verweist z.B. auf die Reflexe des Mondlichts auf einem Teich, die wir gleichermaßen mit einem Gedicht wie mittels mathematischer Formeln beschreiben können. Und Wagenschein weist ausdrücklich auf die Gleichwertigkeit dieser beiden Beschreibungsformen hin.

Dann gibt es aber Blumenberg zufolge noch absolute Metaphern, die sich niemals in Begriffe umformen lassen. Dazu zählen ‚Begriffe‘ wie Welt oder Geschichte, über die wir nur mithilfe von Metaphern sprechen können. Auch hier haben wir es mit einer Gestalt zu tun, die sich aber nicht an sinnlich-konkreten Merkmalen festmachen läßt. Dennoch ist die Weltanschauung oder der kulturelle Sinn einer geschichtlichen Epoche nichts Verborgenes, das sich unserer Anschauung prinzipiell entzieht.

Die Gestalt ist also zwar direkt anschaubar, aber immer nur in Form indirekter Beschreibungen mitteilbar, und diesen Aspekt der Gestaltwahrnehmung übernimmt Harman, um damit die Interaktion realer Objekte mit der sichtbaren Welt zu erklären. Harman verbindet damit auch einen Panpsychismus, den er selbst als „Polypsychismus“ bezeichnet. (Vgl. Harman 2015, S.150) Da er aber eine genauere Erläuterung, wo die Grenze zwischen Pan- und Polypsychismus verläuft, schuldig bleibt, kann man ihn vorerst guten Gewissens als einen Panpsychisten bezeichnen, für den alle Objekte mit einer primitiven Form von Bewußtsein ausgestattet sind.


Die indirekte Berührung realer Objekte mit der sinnlichen Oberfläche bedarf immer eines Mediums, und dieses Medium ist das Bewußtsein, das, wie eben erwähnt, alle realen Objekte beseelt. Ein reales Objekt besonderer Art bildet der Mensch. Wenn sich zum Beispiel Menschen gegenseitig Strandbälle zuwerfen, haben wir es mit verschiedenen, indirekt miteinander interagierenden realen Objekten zu tun, mit den werfenden und fangenden Menschen und mit den Strandbällen. Der Mensch selbst ragt als reales wie sinnliches Ich in beide Sphären gleichzeitig hinein: „Dabei handelt es sich, kurz gesagt, um ein reales Objekt, das in direktem Kontakt zu einem sinnlichen steht. Denn das ‚Ich‘, das in der Beschäftigung mit Bäumen, Wölfen oder Strandbällen wahrhaftig aufgeht, ist das reale Ich und kein sinnliches. Mein ganzes Sein wird durch die Beschäftigung mit diesen Objekten in Anspruch genommen.“ (Harman 2015, S.94)

Über das Bewußtsein des realen Ichs werden also alle die sinnlichen Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Menschen und dem Strandball miteinander vermittelt. Harman geht sogar so weit, zu behaupten, daß diese Wechselwirkungen erst durch das Bewußtsein ermöglicht werden. Ohne Bewußtsein keine sinnlichen Wechselwirkungen bzw. Berührungen und letztlich also auch keine Kausalität. Das ähnelt schon sehr an den von Harman sonst so sehr kritisierten Korrelationismus. (Vgl. Harman 2015, S.19)

Harmans Korrelationismus unterscheidet sich allerdings dadurch, daß er das Bewußtsein auf alle realen Objekte, ob nun menschlich oder nicht, ob belebt oder unbelebt, ausdehnt, wie sich am Beispiel des schon erwähnten ‚denkenden‘ Feuers oder des realen Hammers zeigt, der auf die „Sphäre der Präsenz sinnlicher Qualitäten“ (Harman 2015, S.62) ausstrahlt. Auch der reale Hammer ragt, wie das menschliche Ich, über sein ‚Bewußtsein‘ in beide Sphären hinein: „Denn die verschiedenen Qualitäten eines Hammers gehen nicht nur von dem sinnlichen Hammer aus, den ich im Blick habe. Sie gehen ebenso von dem realen Hammer aus, der sich in unterirdische, völlig unzugängliche Tiefen zurückzieht.“ (Harman 2015, S.98)

Nichts geschieht an der Oberfläche der sinnlichen Objekte ohne diese indirekte Vermittlung verborgener realer Objekte, und zwar in genau der Form, für die das reale Ich des menschlichen Bewußtseins steht: „Die einzige Form von direktem Kontakt, die wir bislang kennen, ist der zwischen dem realen Objekt, das die Welt erfährt, und den verschiedenen sinnlichen Objekten, denen es begegnet. Da sind sie, unmittelbar vor mir: ich werde von ihrer Realität eingenommen. ... Und im Falle zweier sinnlicher Objekte wissen wir, dass sich Vertreter ihrer Art nicht berühren, sondern bloß in der Erfahrung eines realen Objekts, das ihnen als Brücke dient, aneinander angrenzen.“ (Harman 2015, S.97)

Auch die naturwissenschaftliche Kausalität ist also nur Ausdruck einer indirekten Berührung realer Objekte über die „Akzidenzien“ einer „verwirbelten Oberfläche“ (vgl. Harman 2015, S.29), eine Berührung, die durch die panpsychische Wahrnehmung entweder des experimentierenden Naturwissenschaftlers oder der realen Objekte selbst ermöglicht wird.

Harman betreibt viel Aufwand, um die Autonomie der Objekte gegenüber der Autonomie des menschlichen Verstandes durchzusetzen. Ich bezweifle, daß sich dieser Aufwand lohnt. Dazu mehr im nächsten Post.

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