„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 26. September 2012

Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, hrsg.v. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Berlin 2012

1. Bewußtseinsstrom versus Pulsschlag
2. Probleme des Gestaltenwandels
3. Die Einheit des Zeiterlebens
4. Im Strom oder auf dem Ufer
5. Unter der Oberfläche

Das Kapitel zur Eisbergmetapher (vgl. Blumenberg 2012, S.205-261) scheint mir das am wenigsten ergiebige in Blumenbergs Buch zu sein. Seinen eigenen Worten zufolge handelt es sich um eine recht junge Metapher, die erst zu Beginn des 20. Jhdts. gebräuchlich wurde, in Verbindung auch mit dem Untergang der Titanic, die ja selbst wiederum zu einer das 20. Jhdt. prägenden Metapher geworden ist.

Dennoch verdeutlicht der Eisberg mit seiner materiellen „Homogeneität“ (Blumenberg 2012, S.244) und seiner phänomenalen Differenz ober- und unterhalb der Wasserlinie eine spezifische antimetaphysische Grundeinstellung der Phänomenologie. Unterschied man vor dem Gebrauch der Eisbergmetapher noch im Sinne der Kantischen Differenz zwischen Erscheinung und Ding an sich und damit zwischen trügerischem Schein und dahinter verborgener Wahrheit, so verweist der Eisberg darauf, daß sich sichtbare und verborgene Aspekte von Phänomenen materiell und damit auch substantiell nicht unterscheiden müssen, so wie ja auch die Vorderseite eines Hauses nicht von seiner Rückseite her widerlegt werden kann. (Vgl. Blumenberg 2012, S.248)

Die antimetaphysische Tendenz der Phänomenologie, die die Phänomene als das nimmt, was sie zu sein scheinen, ohne nach einem hinter ihnen verborgenen Sinn zu suchen, macht Blumenberg auch daran fest, daß es keine phänomenologische Ethik gebe: „Es gibt nicht nur zufällig und aus Ungeschmack keine phänomenologische Ethik; es gibt sie aus Unmöglichkeit nicht.“ (Blumenberg 2012, S.186)

Ein bißchen verwundert diese Behauptung schon, denn dann hätte es auch keinen Levinas geben können, einen vom „Antlitz“ her philosophierenden Ethiker, den ich immer als Phänomenologen eingeordnet habe. Das Antlitz verweist allerdings nicht auf die hinter ihr verborgene Person zurück, sondern in Form eines Appells auf diejenigen, auf die es sich richtet. So steht das Antlitz also für eine ethisch gehaltvolle Intersubjektivität, die ja selbst wiederum immer schon ein genuin phänomenologisches Thema bildet.

Es gibt sie also durchaus, die phänomenologische Ethik. Allerdings bleibt auch sie an der Oberfläche des Phänomens und differenziert nicht zwischen Wahrheit und Unwahrheit oder zwischen gut und böse, wenn auch durchaus zwischen richtig und falsch. Der Unterschied läßt sich vielleicht am besten an der Differenz zwischen Phänomenologie auf der einen Seite und Physiognomik und Phrenologie auf der anderen Seite verdeutlichen. Auch die Physiognomiker und Phrenologen befaßten sich mit Phänomenen wie dem Gesicht oder der Schädelform, um von dorther auf die inneren Charaktereigenschaften der Menschen zu schließen. So glaubten sie auch, Verbrecher an solchen Körpermerkmalen erkennen zu können. Man konnte also nach ihrem Verständnis ein Verbrecher sein, auch wenn man ‚noch‘ keine Verbrechen begangen hatte.

Die Physiognomiker und Phrenologen waren also der Meinung, die Oberfläche von Gesichtern, Schädelformen und Körperbau mit den verborgenen Eigenschaften von Menschen in Verbindung bringen zu können. Phänomenologen verweigern sich einer solchen ‚flachen‘ Moralisierung von Phänomenen. Insofern trifft Blumenbergs Feststellung zu.

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