„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 26. September 2012

Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, hrsg.v. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Berlin 2012

1. Bewußtseinsstrom versus Pulsschlag
2. Probleme des Gestaltenwandels
3. Die Einheit des Zeiterlebens
4. Im Strom oder auf dem Ufer
5. Unter der Oberfläche

Die Homunculusproblematik steckt auch in der Frage nach der Perspektive, die wir auf den Bewußtseinsstrom richten. Blumenberg spricht von der „Betrachtungsweise des Flusses“: „durch den Fluß hindurch“ oder „am Fluß entlang“. (Vgl. Blumenberg 2012, S.138) Mit anderen Worten geht es darum, ob wir als reflektierendes Selbstbewußtsein im Fluß schwimmen oder auf dem Ufer stehen bzw. am Ufer entlang gehen. Schwimmen wir im Fluß, so schwimmen wir gewissermaßen hinter dem Treibgut unserer Gedanken her, also mit dem Fluß, oder wir schwimmen gegen den Strom und versuchen so, unseren eigenen Verstand gegen den ‚Zeitgeist‘ (Lebenswelt) zu behaupten. (Vgl. Blumenberg 2012, S.174ff.)

Ob wir aber nun mit dem Strom oder gegen den Strom schwimmen: in beiden Fällen sind wir dem strömenden Vollzug unserer Gedanken gegenüber verspätet. Wir holen sie in unserem Denken bzw. Reflektieren nicht ein. Und indem wir unsere Gedanken nicht einholen können, holen wir uns selbst nicht ein. Wir sind letztlich uns selbst immer nur hinterher. (Vgl. zum Vollzug meine Posts 10.01.2012 und vom 11.02.2012)

Das Schwimmen im Strom verdeutlicht dabei aber noch einen weiteren Aspekt des Vollzugscharakters: auch wenn wir uns in unserem Denken nicht einholen können, sind wir doch immer dabei und mitten drin. Zwar nur auf eine vermittelte Weise, aber dennoch unmittelbar. Die Subjekt-Objekt-Differenz ist eine Differenz der Beteiligung und nicht der Distanzierung.

Befinden wir uns auf dem Ufer, sieht das etwas anders aus. Hier geht die Subjekt-Objekt-Differenz in eine Differenz der Distanzierung über. Vom Ufer aus befinden wir uns in der Position des unbeteiligten Beobachters unserer selbst. Wir sind in der Selbstbetrachtung gewissermaßen anästhesiert. Das ist die wissenschaftliche Perspektive seit Descartes. Und das ist die Perspektive des Homunculus, des verborgenen, an den physiologischen Prozessen unbeteiligten, diese aber dennoch steuernden Kybernators.

Wenn also das Bewußtsein mit der „Einheit des Stroms“ gleichgesetzt wird, so Blumenberg, bedarf es keines eigenen „Ichprinzips“ mehr, also keines Homunculus. Nur wenn das „Ich“ seinen Inhalten „polhaft“ gegenübergestellt wird und der Bewußtseinsstrom nur noch für die „Produktion der Zeit“ zuständig ist, entstehen die ganzen reflexionslogischen Dilemmata, mit denen sich die Philosophie und Phänomenologie seit Descartes herumschlägt. (Vgl. Blumenberg 2012, S.110f.)

Ich hatte schon im letzten Post auf Damasios geheimnisvollen Dirigenten hingewiesen, den wir nirgendwo anders auffinden können als in der Orchesteraufführung selbst. Blumenberg wiederum verweist auf Scheler, der die Einheit der Person am „Aktvollzug“ festmacht, „in dem lebend sie gleichzeitig sich erlebt.“ (Vgl. Scheler 1954; zitiert nach Blumenberg 2012, S.118f.) – Und Blumenberg fügt hinzu: „Man sieht, daß der Versuch gemacht ist, ohne die Mittel der Metaphorik, dafür aber mit reichlichem Ineinander von Leben und Erleben, die Situation zu veranschaulichen, von der Husserl immerhin noch sagt, das Erlebnis sei ein Fluß, in welchem schwimmend wir, den reflektiven Blick darauf richtend, doch wohl so etwas wie auch eine Wahrnehmung haben können.“ (Blumenberg 2012, S.119)

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