„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 4. April 2016

Graham Harman, Vierfaches Objekt, Berlin 2015

(Merve Verlag, 17,00 €, 176 Seiten)

1. Naivität und Kritik
2. Vervierfachung der Objekte
3. Gestalt
4. Autonomie (oder auch nicht)
5. Lebenswelt und Seele
6. Karikaturen statt Expressionen

Zum naiven Ausgangspunkt des Harmanschen Denkens gehört die Gewißheit, daß die Dinge, die wir sehen, real sind. Und ‚real‘ bedeutet wiederum, daß wir sie weder gemacht haben noch beliebig verändern können. Die Dinge entziehen sich dem menschlichen Zugriff. Harman bezeichnet das als „Autonomie“. (Vgl. Harman 2015, S.13) Harmans Gegner sind die Korrelationisten, die er auch als Idealisten bezeichnet, und er wirft ihnen vor, daß sie „die Welt ohne Menschen oder Menschen ohne die Welt nicht denken (können), sondern nur eine ursprüngliche Korrelation oder Beziehung zwischen beiden“. (Vgl. Harman 2015, S.19)

Um der Autonomie der realen Objekte gerecht zu werden, vollzieht Harman einen radikalen Schnitt: jede Qualität und jede Relation – Harman verwendet beide Begriffe synonym – bildet eine Minderung der Autonomie. Folglich dürfen reale Objekte überhaupt keine Qualitäten haben und in keiner Relation zu irgendeinem anderen Objekt stehen, weder zu sinnlichen noch zu anderen realen Objekten: „Vielmehr ist das Objekt eine von Mauern umgebene Insel, die sich von Relationen sowohl in einem unter- wie übergeordneten Sinne unterscheidet. Denn während der Hammer sich jedem spezifischen Kontakt entzieht, den Menschen oder andere Entitäten zu ihm haben könnten, geht er auch (nicht) aus den Komponenten hervor, aus denen er angefertigt wurde.“ (Harman 2015, S.138) – Es gibt also zwar viele reale Objekte – Harman geht an keiner Stelle darauf ein, ob es genauso viele reale wie sinnliche Objekte gibt –, aber jedes reale Objekt ist im monadologischen Sinne eins und isoliert von allen anderen.

Ein weiteres Kennzeichen der Autonomie eines Objekts besteht darin, daß ein Objekt von vielen verschiedenen Qualitäten umgeben ist, daß es aber trotzdem immer dasselbe Objekt bleibt. Das gilt zunächst gleichermaßen für reale wie für sinnliche Objekte: „Objekte sind Einheiten, die eine Vielzahl von Eigenschaften sowohl zur Schau stellen als auch verbergen.“ (Harman 2015, S.13) – Und: „Der simpelste Briefkasten oder Baum bleiben für uns über einen gewissen Zeitraum dieselbe Einheit, auch wenn ihre Oberflächen immer wieder neue Profile ausstrahlen.“ (Harman 2015, S.122) – Ausdrücklich heißt es zu intentionalen (sinnlichen) Objekten: „Es lohnt sich hervorzuheben, dass das intentionale Objekt kein Bündel von Abschattungen ist.“ (Harman 2015, S.34)

In diesem Sinne gilt also die Autonomie auch für sinnliche Objekte, auch wenn sie in anderer Hinsicht nicht autonom sind, sondern auf ein menschliches Bewußtsein angewiesen sind. Dann aber spricht Harman den sinnlichen Objekten genau aus diesem Grund doch wieder jede Autonomie ab und reserviert diese ganz und gar für die realen Objekte: „Das sinnliche Objekt hat keine Wahl, als in einem Spannungsverhältnis zu seinen sinnlichen Qualitäten () und seinen realen Qualitäten () zu existieren, da das sinnliche Objekt nie etwas wirklich Autonomes ist.“ (Harman 2015, S.156) – Wenn aber das sinnliche Objekt nicht wirklich autonom ist, dann fällt es mit seinem Eidos zusammen und von einer vierfachen Struktur des Objekts kann eigentlich keine Rede mehr sein.

An anderer Stelle weist Harman darauf hin, daß nicht alle Objekte gleichermaßen real sind. „Trotz wiederholter Behauptungen von Anhängern wie von Kritikern meiner Arbeit habe ich jedoch nie die Position vertreten, dass alle Objekte ‚gleich real‘ seien. Denn es ist falsch, dass Drachen dieselbe autonome Realität haben wie ein Telefonmast. Mein Argument lautet nicht, dass alle Objekte gleich real sind, sondern dass sie alle gleichermaßen Objekte sind.“ (Harman 2015, S.11)

Daß Harman behauptet, daß nicht alle Objekte gleichermaßen real sind, ist irritierend. Denn inwiefern „Drachen“ weniger real sein sollen als z.B. komplexe Objekte wie Armeen oder Nationen, wird durch den Vergleich mit dem „Telephonmast“ nicht erklärt. (Vgl. Harman 2015, S.11) Genauso gut hätte Harman auch behaupten können, daß Armeen und Nationen weniger real seien als Telephonmasten. An anderen Stellen tritt er dafür ein, daß diese komplexen Objekte genauso real sind wie einfache physische Objekte. (Vgl. Harman 2015, S.24 und S.175) Hier aber wählt er das Beispiel des Drachen und macht damit einen Unterschied zwischen bloßen Gedankendingen und physischen Objekten, den er eigentlich nicht mehr machen will. Denn seine Ontologie soll ja alle Objekte umfassen, also auch Gedankendinge. (Vgl. Harman 2015, S.12) Und gerade für Gedankendinge wie z.B. eben Drachen gilt Harmans Postulat, „dass jede Relation unmittelbar ein neues Objekt erzeugt. Wenn gewisse Komponenten so angeordnet werden, dass sie ein Ding hervorbringen, das sie übersteigt, dann sind sie miteinander eine echte Relation als reale Objekte eingegangen, statt bloß die sinnliche Fassade des jeweils anderen zu streifen.“ (Harman 2015, S.144)

Nirgendwo sind wir fleißiger dabei, neue, in diesem Sinne reale Objekte zu schaffen, als in unseren Vorstellungen, aus denen Armeen und Nationen hervorgehen. Einziges Kriterium ist Harman zufolge, daß das neue Gebilde von den Teilen, aus denen es zusammengesetzt ist, unabhängig, also autonom ist. Und deshalb kann eigentlich ein Drache auch nicht weniger real sein als ein Telephonmast, denn die physischen Eigenschaften des Telephonmastes sind Harmans ganzer Argumentation zufolge eben auch nur Eigenschaften und unterscheiden sich als solche nicht von den narrativen Eigenschaften eines Drachen.

Um mehr zu sein als seine Teile muß ein Objekt in gewisser Weise von ihnen unabhängig sein. Es ist zwar nichts ohne seine Teile, aber es kann innerhalb bestimmter Grenzen Veränderungen in ihrer Zusammensetzung unbeschadet überstehen. Besonders offensichtlich ist das bei einem Gebilde wie der Europäischen Union. Sie ist aus vielen Elementen zusammengesetzt, aus organischen wie anorganischen: „Es gibt zahllose unterschiedliche Mengen und Anordnungen von Teilchen, die man miteinander kombinieren könnte, ohne dass sich die Union selbst ändern würde. Dieses Prinzip wird manchmal als ‚redundante Verursachung‘ bezeichnet. Zahlreiche unterschiedliche Ursachen können dasselbe Objekt ergeben, was nahelegt, dass das Objekt etwas ist, das über seine fundamentaleren Elemente hinausgeht.“ (Harman 2015, S.24)

Ein anderes Beispiel für redundante Verursachung bietet das menschliche Gehirn, das Bewußtsein ermöglicht, ohne daß das Bewußtsein auf einzelne Prozesse im Gehirn zurückgeführt werden könnte. Man nennt das auch ‚multiple Realisierung‘. Den verschiedenen Bewußtseinsqualitäten können unterschiedliche neuronale Verknüpfungen zugrundeliegen. Jedes Gehirn ist individuell und funktioniert auf individuelle Weise. Der wissenschaftliche Materialismus bzw. Naturalismus glaubt aber, ganz bestimmte neuronale Schalkreise für ganz bestimmte Bewußtseinsphänomene wie Denken oder Liebe dingfest machen zu können, und versucht so, „die Subjekt-Objekt-Relation auf die Objekt-Objekt-Relation des Gehirns und sogar auf die noch kleinerer Entitäten zu reduzieren, statt zuzulassen, dass Neuronen auf einer Ebene der Realität wirksam sind und das Bewusstsein als Ganzes auf einer anderen Ebene operiert“. (Vgl. Harman 2015, S.172)

Autonomie bedeutet Harman zufolge auch, daß reale Objekte technisch weder rekonstruiert noch simuliert werden können: „Auf diese Weise würden wir bestenfalls ein äußerlich überzeugendes Simulacrum des Dings erhalten, nicht das Ding selbst. Deshalb ist keine Form von Wissen, geschweige denn irgendeine Übersetzung in der Lage, etwas angemessen nachzubilden. ... Es gibt keine Rekonstruktion dieses Objekts, die im Kosmos an seine Stelle treten könnte.“ (Harman 2015, S.93)

Dieser Aspekt einer Autonomie gefällt mir überaus gut, und ich glaube, er läßt sich auch sehr gut mit dem Begriff der Gestalt verbinden, ohne daß wir dafür ein verborgenes Sein von realen Objekten in Anspruch nehmen müßten. Zwar behauptet Harman genau das, und er bestreitet mit aller Entschiedenheit, daß „die phänomenale Realität der Dinge für das Bewusstsein“ ihr „Sein“ jemals erschöpfen könnte (vgl. Harman 2015, S.51), aber um eine erschöpfende Erfassung des realen Seins von Dingen soll es ja auch gar nicht gehen. Es reicht, daß sich das menschliche Bewußtsein auf der Grenze zwischen Innen und Außen befindet und sehr wohl zu unterscheiden weiß, ob es gerade mit realen Gegenständen außerhalb des Bewußtseins befaßt ist oder mit inneren Erlebnissen und Narrationen. Der reale Widerstand und die objektive Fremdheit der äußeren Welt sollten Grund genug sein, um uns davon zu überzeugen, daß wir sie niemals vollständig simulieren können und der ontologische Status unserer virtuellen Computerwelten immer fragwürdig bleiben wird.

Der Begriff der Autonomie ist bei Harman insgesamt nicht schlüssig. Mal will Harman zu viel im Sinne einer radikalen Trennung des realen Objekts von der Welt und vom Bewußtsein, dann will er wieder unterschiedliche Realitätsgrade zulassen, was jener radikalen Trennung widerspricht. Ein anderes Mal wiederum sollen alle Objekte gleichermaßen real sein, gleichgültig ob geistiger oder physischer Art. Letztlich kann es auf der Objektseite nur eine Form der Autonomie geben: die der Einheit in der Vielfalt, wie wir sie aus der Gestaltwahrnehmung kennen. Und diese Autonomie muß die Autonomie des menschlichen Verstandes ermöglichen, anstatt sie in Frage zu stellen, nämlich in Form von Wahrnehmungen; sonst gäbe es nur Halluzinationen und Delirien, wie sie durch Drogen und Wahnvorstellungen hervorgerufen werden.

Dessen ungeachtet ist es aber selbstverständlich so, daß die Realität unsere fragmentarischen Einsichten immer unendlich übersteigt. Mehr können wir nicht wissen. Aber das müssen wir wissen. Denn nur so wird es weiterhin eine Welt mit Menschen geben, und eine Welt ohne sie mag ich mir nicht vorstellen.

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