„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 3. März 2016

Rüdiger Safranski, Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015

1. Phänomenologie und Zeit
2. Räumliche und zeitliche Grenzen
3. Zeiterleben als Apperzeption
4. Die ‚Zeit‘ der Gestaltwahrnehmung
5. Der kurze Weg der Technik

Die Weltraumzeit steht der subjektiven Eigenzeit des individuellen Bewußtseinslebens nicht völlig fremd gegenüber. Es liegt nicht nur an Safranski, wenn er beides miteinander vermengt, indem er die Dauer eines Lichtstrahls von den Rändern des Universums bis zu uns auf der Erde mit der Dauer eines Licht- oder Schallreizes vom verursachenden Gegenstand bis zu unseren Sinnesorganen und von dort aus durch die Nervenbahnen bis in die zuständigen Zentren unseres zentralen Nervensystems vergleicht. (Vgl. Safranski 2015, S.195f.) Tatsächlich gibt es eine tiefer reichende Gemeinsamkeit zwischen beiden Ebenen: den Beobachterstandpunkt.

Nicht nur in unserem persönlichen Leben gibt es die Zeit als Problem nur, wenn wir auf sie aufmerksam werden. Auch in Einsteins Relativitätstheorie gibt es Zeit nur als Beobachtungsphänomen. (Vgl. Safranski 2015, S.160ff.) Dieser Beobachter ist so essentiell, daß selbst physikalische Ereignisse nur dann stattfinden können, wenn man sich einen Beobachter hinzudenkt: „Wenn aber ein zeitbewusster Beobachter vorausgesetzt werden muss, falls von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Rede sein soll, so hat das die paradoxe Konsequenz, dass man von der kosmischen Vergangenheit vor dem Auftauchen eines Beobachterbewusstseins eigentlich sagen müsste, es handele sich dabei um eine Vergangenheit, die nie eine Gegenwart gehabt hat, weil es keinen Beobachter gab. Wir denken uns den Beobachter immer dazu.“ (Safranski 2015, S.139)

Damit aber beginnt die Unentwirrbarkeit der Vermengung physikalischer und subjektiver Zeit. Schon Kant hatte für die subjektive Wahrnehmung postuliert, daß sie nur dann einen Bewußtseinsakt bildet, wenn ich ihr ein „Ich denke“ hinzufügen kann, und er bezeichnete das als „Apperzeption“. Dieses „Ich denke“ entspricht dem „Ich beobachte“ des Beobachters, von dem Safranski spricht. Safranski vergleicht unsere ‚Beobachtungen‘ mit der Aussage eines Zeugen, der bestätigt, daß ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat. Dabei geht die Zeugenschaft des Beobachters aber noch darüber hinaus, insofern Safranski zufolge ein Ereignis, das nicht beobachtet wurde, auch nicht stattgefunden habe. So wird jede Wahrnehmung jedes Menschen zu einem letzten Zeugnis von Geschehnissen, die im Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit kurz einmal aufscheinen, um dann für immer zu verschwinden: „Die singulären Vorkommnisse brauchen, um ihren Platz im Wirklichen zu behaupten, Zeugen. ... Jeder ist ein letzter Zeuge für Dinge, Menschen, Erlebnisse, die mit ihm unweigerlich verschwinden werden.“ (Safranski 2015, S.189)

Safranski beschreibt das Auftauchen von Gegenständen im Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit und ihr anschließendes Verschwinden ähnlich wie der krebskranke Henning Mankell in „Treibsand“ (2015). Er bezeichnet diesen „Moment“, „da man plötzlich an den Rändern des Lichtkegels der Gegenwart in jenen Schattenbereich eintaucht, wo das Flüchtige der Zeit, das Entschwinden und Verschwinden der Dinge und Menschen eigens erfahren wird“, als „Schattenzone des Entschwindens“. (Vgl. Safranski 2015, S.185) – Mankell findet dafür das Bild von einem „einsamen Hund“, der kurz im Lichtkegel einer Straßenlaterne auftaucht, „auf leisen Pfoten von Dunkelheit zu Dunkelheit“ laufend. (Vgl. Mankell 2015, S.253)

Die Apperzeption erstreckt sich hier also nicht nur auf unsere subjektive Bewußtheit, sondern auch auf die objektiven Ereignisse in der äußeren Welt. Wie sehr die Physik der Weltraumzeit mit dem subjektiven Zeiterleben vermengt ist, wird am Paradox einer Lichtgeschwindigkeit deutlich, die absolut konstant ist, während die Bewegungen der Objekte, die sich zur Lichtgeschwindigkeit nicht einfach hinzuaddieren lassen, zu ihr relativ sind: Je schneller sich die Objekte bewegen, desto langsamer verläuft ihre Zeit im Vergleich zu einem sie beobachtenden Beobachter, so daß letztlich die Lichtgeschwindigkeit immer konstant bleibt. Safranski erklärt dieses Paradox damit, daß sich nicht die Lichtgeschwindigkeit ändert, sondern nur die (erlebte?) Dauer der verstreichenden Sekunden: „Die Lichtgeschwindigkeit ist absolut, variabel dazu ist die je nach Eigenbewegung unterschiedliche Dauer einer Sekunde.“ (Safranski 2015, S.165)

Bedeutet das nicht letztlich, daß sich auch unbelebte Objekte langweilen können? – Jedenfalls scheinen unsere sonst so objektiven physikalischen Theorien durchsetzt von Subjektivität.

Noch etwas anderes frage ich mich: Bedeutet die unterschiedliche ‚Dauer‘ von Sekunden nicht auch, daß die Drei-Sekunden-Intervalle, die Safranski zufolge unser Gegenwartserleben umfassen (vgl. Safranski 2015, S.137), unterschiedlich lang sein können? Wenn Ereignisse im Weltraum relativ sind zu einem Beobachterstandpunkt, dann finden sie erst in dem Moment statt, in dem uns das Licht nach Milliarden von Jahren erreicht. Streng genommen dehnt sich also die Gegenwart eines Ereignisses von dem Moment an, wo es einen Lichtstrahl aussendet, bis zu dem Moment, an dem dieser Lichtstrahl ‚bei uns‘ ankommt. Das sind wirklich lange drei Sekunden.

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