„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 29. März 2016

Düzen Tekkal, Deutschland ist bedroht. Warum wir unsere Werte verteidigen müssen, Berlin 2016

(Berlin Verlag, 16.99 €, Klappbroschur, 224 S.)

1. Wo stehst du?
2. Lügenpresse
3. Alternativlosigkeiten
4. Wir und Ihr
5. Werte

Es gibt nicht nur starke Frauen in Tekkals Familie. Ihr ganzes Buch bildet unter anderem auch eine Hommage an ihren Vater. Die Lebensaufgabe von Tekkals Vater bestand darin, für die Integration und die Selbstbehauptung der jesidischen Gemeinschaft in Deutschland zu sorgen. Seine Tochter trat insofern in seine Fußstapfen, als sie es sich zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hat, für die Selbstbehauptung des Individuums in der Gemeinschaft und für seine Integration in der Gesellschaft zu kämpfen. An ihrem Beispiel läßt sich das ganze Drama von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft, wie es Helmuth Plessner beschrieben hat, veranschaulichen. (Vgl. meine Posts vom 14.11.-17.11.2010)

Dieses Drama wird immer wieder an Tekkals ambivalenten Formulierungen sichtbar. So schreibt sie über die Jesiden: „Ein wesentliches Element in der jesidischen Glaubensvorstellung ist die Eigenverantwortlichkeit jedes Einzelnen.“ (Tekkal 2016, S.38) – Dazu im Widerspruch steht folgende Textstelle: „Die Jesiden sind sehr auf die Gemeinschaft ausgerichtet, Individualität ist verpönt. Ein guter Ruf gründet sich auf moralische Werte wie Ehre und Würde.“ (Tekkal 2016, S.134) – Tatsächlich widmet Tekkal eine ihrer Reportagen einem jesidischen Ehrenmord.

Auch folgende Textstelle bringt diese Ambivalenz sehr schön zum Ausdruck: „Die Jesiden sind resilient, weil sie sich an gemeinsamen Werten orientieren und kollektivistisch geprägt sind.“ (Tekkal 2016, S.39) – Resilienz, also eine zutiefst individuelle Fähigkeit, den schlimmsten Widrigkeiten zu trotzen, wird von Tekkal auf eine gelungene Gemeinschaftserfahrung zurückgeführt.

Schon von Kindesbeinen an kämpft Tekkal für ihre Selbstbehauptung, vor allem mit Hilfe der Sprache. Schon früh fällt ihr gutes Deutsch auf, von dem keiner weiß, woher sie es hat: „Meine Eltern tun sich bis heute schwer mit der deutschen Sprache, meine Mutter hat nie Lesen und Schreiben gelernt.“ (Tekkal 2016, S.88) – Für die kleine Düzen wird die deutsche Sprache zum wichtigsten Mittel ihrer Selbstbehauptung, und ich vermute, daß dies der Grund ist, warum sie auch noch als erwachsene Journalistin ihren Beruf vor allem expressiv versteht, als Möglichkeit, denjenigen, die nicht gehört werden, eine Stimme zu geben: „Ich habe die Menschen vor die Kamera bekommen, weil ich offen bin für Menschen, die ihre Geschichte erzählen wollen.“ (Tekkal 2016, S.149)

Immer wieder fordert Tekkal ihre Leser dazu auf, ihre Meinung zu sagen: „Viele in diesem Land trauen sich nicht mehr, ihre Meinung zu äußern. Andere müssen unter Einsatz ihre Lebens zu ihr stehen. ... Wir müssen vielmehr wieder sprechen lernen.“ (Tekkal 2016, S.10)

Düzen Tekkal war keine einfache Tochter. In der Familie hatte sie einen Spitznamen, die „Anwältin“ (Tekkal 2016, S.127), weil sie den Eltern gegenüber nicht nur ihre eigenen ‚Rechte‘, sondern auch die ihrer Geschwister verteidigte. Ich selbst habe in meiner Zeit als Interner in einem Internat unter solchen Mädchen gelitten. Da war ein Mädchen, das regelmäßig, wenn ich um 22:00 die Bettzeiten in der Gruppe, für die ich zuständig war, durchsetzen wollte, dazu kam und mit mir über die Menschenrechte und das Grundgesetz diskutieren wollte, und die jeden Abend zu einem gesellschaftspolitischen Drama werden ließ, so daß ich froh war, wenn ich irgendwann gegen Mitternacht endlich Feierabend hatte und selbst zu Bett gehen konnte. Der nächste Tag begann dann wieder um 7:30 am Frühstückstisch, und selbst die Nächte waren in erster Linie eine Form des Bereitschaftsdienstes. Ich weiß es deshalb zu schätzen, daß Düzens Eltern ihre Tochter nicht ins Internat abgeschoben hatten, um diese Tortur an professionelle Pädagogen zu delegieren.

Düzen Tekkal erzählt von einem jugendlichen Straftäter, der sich bereit erklärte, sich der Polizei freiwillig zu stellen. Allerdings stellte er die Bedingung, daß die Verhaftung ein ganz bestimmter Polizist vornehmen sollte, dem er vertraute. Und das tat er bestimmt nicht, weil dieser Polizist dafür bekannt gewesen war, gerne zu diskutieren. Er galt vielmehr – Düzen Tekkal weist eigens darauf hin – „als hart, aber gerecht“: „Diese Polizisten sind bei jugendlichen Tätern zwar gefürchtet, sie werden aber auch respektiert und erreichen deshalb oft mehr.“ (Vgl. Tekkal 2016, S.182) – Wir Internatspädagogen wissen schon lange, daß wir in dem Moment, wo wir uns auf eine Diskussion einlassen, das Spiel verloren haben.

Doch zurück zur Selbstbehauptung des Individuums in der Gemeinschaft. Düzen Tekkals Lehre aus ihren innerfamiliären Dramen ist eine tiefe Skepsis gegenüber Gruppenrechten, die oft und gerne als Menschenrechte mißverstanden werden: „Kultursensibilität aber über die gemeinsamen Werte zu stellen ist falsch und für das Desaster der Multikulti-Idee mitverantwortlich. Multikulturalismus hat unsere Gesellschaft blind gemacht.“ (Tekkal 2016, S.194f.)

Multikulturalismus bedeutet Tekkal zufolge, daß „einzelne Kulturen wichtiger (sind) als individuelle Menschen mit ihren Rechten und Pflichten“: „Die relativistische Idee des Multikulturalismus interessiert sich aber gar nicht für den Einzelnen, sondern nur für die ‚Kulturen‘.“ (Tekkal 2016, S.195)

Mit Blick auf den Untertitel des Buches zur Verteidigung ‚unserer‘ Werte stellt sich hier natürlich die Frage, welche bzw. wessen ‚Werte‘ es eigentlich sind, die hier verteidigt werden sollen. Düzen Tekkal wäre nicht die, die sie ist, legte sie nicht selbst den Finger auf diesen im Doppelsinne ‚wunden‘ Punkt ihres Buches: „Ich habe mich immer bemüht, über der Gegenüberstellung von ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ zu stehen.“ (Tekkal 2016, S.155) – Zugleich aber soll ihrem Verständnis zufolge, „(g)elungene Integration“ im „Bewusstsein eines ‚Wir‘“ bestehen, „dem man sich zugehörig fühlt“: „Wir brauchen ein gesellschaftliches Bewusstsein, ein gemeinsames ‚Wir‘, das alle einschließt.“ (Tekkal 2016, S.184)

Am Beispiel ihrer eigenen Person führt sie vor, wie das paradoxe Unterfangen gelingen kann: „Heute kann ich mich als Jesidin bekennen, weil ich die geworden bin, die ich bin. Dafür musste ich mir die Freiheit nehmen, über mein Leben selbst zu bestimmen.“ (Tekkal 2016, S.126)

Die Rechte des Einzelnen, des Individuums, bilden sich also an der Bruchlinie der Generationen im Familienzusammenhang heraus, indem die nachwachsende Generation lernt, sich gegenüber den Anforderungen der Gemeinschaft zu behaupten. Das ist die Antwort der Moderne gegenüber traditionellen Gesellschaftsformen mit ihren Initiationsriten. Es ist wahrscheinlich die einzig mögliche Antwort, deren Alternative im Rückfall in die Barbarei bestünde. Aber es ist zugleich ein permanenter Krisenzustand. Es geht beileibe nicht nur um die Integration von Einwanderen. Es sind auch die Alt-Deutschen selbst, die immer wieder der Integration bedürfen: „Spätestens wenn in Deutschland geborene Menschen mich wegen meines demokratischen Engagements angreifen, ist das auch ein deutsches Problem. Diese Menschen bedrohen die Demokratie. Nicht nur islamistische Hardliner und organisierte Neonazis, die ich die bösen Zwillinge nenne, bedrohen unsere Demokratie, sondern auch die vielen, die unsere demokratischen Werte nicht akzeptieren und dagegen öffentlich Propaganda machen.“ (Tekkal 2016, S.57f.)

Genau an dieser Stelle tut sich also noch ein anderes Problem auf: die Frage wer ‚wir‘ eigentlich sind und wen ‚wir‘ meinen, wenn wir ‚wir‘ sagen. Ich kann mich an zahllose Streitereien mit meinen Eltern erinnern, die immer an der Bruchlinie der Generationen entlang geführt wurden. Wir sprachen uns dabei nie mit ‚Du‘, sondern immer nur mit ‚Ihr‘ an. Düzen Tekkal verweist immer wieder auf ihre bedingungslose Gesprächsbereitschaft. Sie wäre sogar bereit, mit jugendlichen IS-Kämpfern zu sprechen, um sich ihre Geschichte erzählen zu lassen: „Ich würde ein Gespräch niemals verweigern, vor allem wenn es wichtig ist. ... Man muss in der Sache hart sein, aber in der Kommunikation offen, um seine eigenen Argumente darlegen zu können. ... Aber ich habe ihnen (den Schülern – DZ) gesagt, dass ich offen sei dafür, mit einem IS-Kämpfer zu sprechen, weil ich das Feindbild nicht bestätigen wolle.“ (Tekkal 2016, S.80f.)

Hier stellt sich mir die Frage, wie ich mit der Haßpropaganda umgehen soll, wenn ich ihr in meinem Alltag begegne. Dabei geht es immer um diese leidige Gegenüberstellung von ‚Wir‘ und ‚Ihr‘. Sollten ‚wir‘ als verantwortungsbewußte Bürger bei diskriminierendem, menschenverachtendem Verhalten und verbalen Exzessen nicht sofort einschreiten und klare Position beziehen? Würde das aber andererseits nicht jedes Gespräch unmöglich machen?

Tatsächlich muß hier zwischen Gesprächen ‚unter vier Augen‘ und zwischen Gruppenauseinandersetzungen unterschieden werden. ‚Wir‘ und ‚Ihr‘, das sind immer Gruppen, die gegeneinander antreten. (Vgl. meinen Post vom 24.08.2015) Hier hat der Einzelne keine Chance. Es geht bei solchen Gesprächen, wie sie Düzen Tekkal sucht, niemals um ein ‚Wir‘ in Gruppengröße, sondern um die Begegnung zwischen Zweien. Die ‚Werte‘, um die es ihr geht, spielen sich auf dieser Ebene ab. Das Grundgesetz kann dafür nur den Rahmen bieten und solche Begegnungen unterstützen und fördern. Dazu im nächsten Post mehr.

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3 Kommentare:

  1. Deine Besprechung bereitet mir ziemlich Schwierigkeiten. Ich empfinde sie als distanzlos, geradezu schwärmerisch, ohne zu sehen, dass Düzen Tekkal sich um den Erhalt ihrer Identität bemüht und dieses "Bekenntnis" im gegenwärtigen Prozess des Identitätswandels und -verlustes zu sehen wäre. Damit ist auch Tekkals Identität als Repräsentantin der Medien und des Journalismus gemeint. Dies unterliegt ja gegenwärtig einen besonderen und auch berechtigten Bedeutungsverlust und die Kritik an den Medien ist begründet. Dieses Wir der Medien, gegenüber dem Ihr der Konsumierer ist geradezu im Zerfall begriffen.
    "Wir" ist eine Kategorie der Macht, wie es mal Capurro bei Scobel sagte und dessen Missbilligung damit erregte. Das "Wir" braucht gemeinsame "Werte",die eine gemeinsame Identität erschaffen, auf die das Wir sich beziehen kann und muss, da es eben auch zur Abgrenzung, zum Ihr, gebraucht wird. Plessner hat mit "Grenzen der Gemeinschaft" hier einen passenden kritische Beitrag verfasst und man kann das mit dem Problem der Integration ergänzen. Nur geht es bei der Frage der Integration heute um einzelne Personen, um Menschen, die in ihren Gemeinschaften nicht als Personen anerkannt sind, weil sie keine Rechte als Personen haben. Auch bei den Jesiden steht die Gemeinschaft über dem Einzelnen und eine Jesidin außerhalb der Gemeinschaft ist ein Denkkonstrukt, was letztlich Identität immer ist, sofern sie entkoppelt ist von der gemeinschaftlichen Praxis.
    http://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/jesidische-frauen-in-deutschland-aus-der-hoelle-des-is/13310236.html

    Aiko

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    1. Ich kann jeder Deiner Bemerkungen uneingeschränkt zustimmen, und ich hatte gedacht, ich hätte das auch in meiner Besprechug in diesem Sinne rübergebracht.
      Was die Distanzlosigkeit betrifft: ich hatte bei meiner Lektüre, die von einigen Gefühlsausbrüchen begleitet war, selber den Eindruck, zu eng dran zu sein. Aber ich wollte mich nicht disziplinieren müssen. Ich glaube, ich kann dazu stehen.

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    2. Ja, dazu kann man stehen. Bloß sollte man das auch reflektieren, denn das Buch hat einen falschen Ansatz. Aber Herrn Seehofer dürfte es gefallen.

      Aiko

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