„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 28. März 2016

Düzen Tekkal, Deutschland ist bedroht. Warum wir unsere Werte verteidigen müssen, Berlin 2016

(Berlin Verlag, 16.99 €, Klappbroschur, 224 S.)

1. Wo stehst du?
2. Lügenpresse
3. Alternativlosigkeiten
4. Wir und Ihr
5. Werte

Die Kanzlerin hatte vor einiger Zeit ihre Politik als „alternativlos“ bezeichnet, was ihr viel Kritik und Häme eingebracht hat. Merkels unbedachte Äußerung wurde sogar zum Unwort des Jahres 2010 gekürt. Es ist gerade die Aufgabe der Politik, Alternativen aufzuzeigen und umzusetzen. Die Kanzlerin hat es wohl seither bitter bereut, jemals von Alternativlosigkeit gesprochen zu haben, zumal sie inzwischen selbst einige bemerkenswerte Schwenks in ihrer Politik vollzogen hat. Besonders bitter dürfte ihr aber die Ironie schmecken, daß einige Jahre später eine Partei entstand, die sich selbst als „Alternative“ zu ihrer und jeder anderen etablierten Politik bezeichnete: die AfD.

Gerade mit der AfD verbindet sich für mich aber ein besonders krasses Beispiel für die Verschiedenheit patriotischer Gefühle bei ‚alten‘ und ‚neuen‘ Deutschen. Von Björn Höcke haben wahrscheinlich noch viele die peinlichen (wenn auch nicht für alle peinlichen) Fernsehbilder im Kopf, wie er mit seiner Deutschlandfahne in der Talkshow bei Günter Jauch auftritt. Düzen Tekkal berichtet nun in ihrem Buch von einem deutschen Jesiden, der in den Kampf gegen den IS-Staat zieht: „Kurz bevor er losfuhr, holte er eine Deutschlandfahne aus seiner Tasche. Er sagte: ‚Wenn ich sterbe, könnt ihr diese Fahne auf mein Grab legen.‘ So patriotisch denken und handeln die meisten deutschen Jesiden. Sie haben Deutschland als ein Land erfahren, in dem sie erstmals frei und ohne Unterdrückung leben können.“ (Tekkal 2016, S.29)

Wenn Freiheit ein Grundwert ist, dann gehören Alternativen und die Möglichkeit, zwischen ihnen zu wählen, zu den Grundmerkmalen des menschlichen Lebens. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß unsere Möglichkeiten tatsächlich begrenzt sind, einerseits weil wir sterblich sind und nicht beliebig viele Alternativen in unserem Leben umsetzen können und andererseits weil unsere Lebensumstände verschieden und die Chancen nicht gleich verteilt sind. Immer wieder kommt Düzen Tekkal darauf zu sprechen, wie sie Entscheidungen treffen mußte, weil sie nicht anders konnte, und wie wiederum andere von ihr verlangten, Entscheidungen zu treffen, die sie nicht treffen wollte und denen sie sich verweigerte.

Als sie am 5. August 2014 diesen Anruf aus dem Nordirak erhielt und sie sich entschied, dem Hilferuf Folge zu leisten, hatte sie vor der Wahl gestanden, hinzuschauen und die Konsequenzen zu ziehen oder wegzuschauen und so zu tun, als wäre nichts geschehen. (Vgl. Tekkal 2016, S.18) Sie hatte Angst, schreibt sie, aber sie hat sich gegen die Angst entschieden, denn: „Fear is no option“ (Tekkal 2016, S.54f.), Angst ist keine Alternative.

Aber auch die Alternative, die ihr die Gastarbeiterkinder in ihrer Kindheit gestellt hatten, sich für sie oder für ihre deutschen Freunde zu entscheiden – „Entweder-Oder“ (Tekkal 2016, S.92) – war für Düzen Tekkal keine Alternative gewesen. Der Zwang, sich einer Gruppe zuordnen zu müssen, war für sie keine Option. Auch der Schulunterricht war für Tekkal in diesem existenziellen Sinne alternativlos gewesen. Bildung war unverzichtbar für ihren Verstand – „das war mein Kompass“ (Tekkal 2016, S.133) – und sie war bereit, alles für diese Bildung zu geben: „Ich wollte lernen, um mir das fehlende Wissen anzueignen, Scheitern war keine Alternative.“ (Tekkal 2016, S.144)

Tekkals Leben war von vielen Alternativlosigkeiten gekennzeichnet, die im Zeichen der einen großen Alternative standen, selbst über das eigene Leben bestimmen zu dürfen: „Ich hätte mir ein anderes Leben aussuchen können, aber ich wäre unglücklich geworden.“ (Tekkal 2016, S.102) – So ist das wohl mit der Freiheit. Wer sich für sie entscheidet, hat keine Wahl und muß kämpfen. Dabei gesteht sich Tekkal eine gute Ausgangsposition zu. Sie ist Jesidin: „Jesiden müssen von Geburt an kämpfen. Ich finde das nicht schlecht, weil sich diese Erfahrung als nützlich erweist in der Leistungsgesellschaft, in der wir leben.“ (Tekkal 2016, S.100f.)

Einen weiteren Bonus sieht die Autorin in ihrer Familie: da gibt es gleich zwei starke Frauen, die ihr als Vorbild und Sparringpartner dienen: ihre Großmutter und ihre Mutter. Die Großmutter hatte schon in der südostanatolischen Heimat den eigenen Besitz mit dem Stock in der Hand verteidigt, und setzte diese Gewohnheit später in Deutschland fort. Wenn Freunde die alte Frau mit einem Stock in der Hand vor dem Haus auf dem Bürgersteig sitzen sahen, um das Haus zu verteidigen, und Düzen fragten, wer das sei, leugnete sie, sie zu kennen. Genau wie umgekehrt ihre Mutter ihre Tochter verleugnete, wenn sie nach ihr gefragt wurde: „Die kenne ich nicht, die ist von den Nachbarn.“ (Tekkal 2016, S.133)

So sehr diese Frauen gelegentlich einander gegenseitig peinlich waren, so sehr profitierte Tekkal von ihren starken Persönlichkeiten. Von der Großmutter lernte sie, die deutsche Sprache wie einen Stock zu benutzen: „Meine Waffe war das Wort.“ (Tekkal 2016, S.127) – Von der Mutter lernte sie, sich gegen ihren Machtanspruch zu behaupten. Und von der ganzen Familie lernte sie, sich gegen die jesidischen Rollenvorstellungen durchzusetzen: „Manchmal denke ich mir: Ich habe diese Familie überlebt, ich habe diese Dynastie überlebt, ich habe die Jesiden überlebt.“ (Tekkal 2016, S.129) – Und heute hält sie um so entschlossener die „Fahne der Tradition“ hoch, wie Tekkal schreibt: „Heute kann ich mich als Jesidin bekennen, weil ich die geworden bin, die ich bin. Dafür musste ich mir die Freiheit nehmen, über mein Leben selbst zu bestimmen.“ (Tekkal 2016, S.126)

Als so sehr fremdartig nehme ich diese Familiengeschichte gar nicht wahr. Tatsächlich scheint sie mir in vielerlei Hinsicht auch für deutsche Familien typisch zu sein. Die „Distanz“, die Tekkal zufolge in Gastarbeiterfamilien „zwischen den Generationen liegt“ (vgl. Tekkal 2016, S.151), also zwischen den Eltern und ihren in Deutschland geborenen Kindern, zieht sich, wenn auch möglicherweise nicht so kraß, auch durch deutsche Familien, und ich habe den Anspruch meiner Eltern an mich ebenfalls als bedrückend und als unerfüllbar erlebt. Das scheint wohl eher eine universelle Konstante zu sein, die sich allerdings kulturell spezifisch auswirkt.

So heftig also die Kämpfe ausfielen, in denen sich Tekkal für ihr späteres Leben übte, hält sie dennoch daran fest, daß ihr Freiheitsbedürfnis nicht einfach nur etwas Individuelles gewesen ist: „Das Bedürfnis nach Freiheit, das meine Großmutter zeitlebens für mich verkörperte, ist typisch für die Jesiden. Meine Großmutter erklärte es mir einmal mit der generationenübergreifenden Unterdrückung, der die Gemeinschaft ausgesetzt war. Großmutter war überzeugt: Wer so verfolgt und ausgegrenzt wird, dessen Sinne schärfen sich, der entwickelt ein starkes Bewusstsein für die Freiheitsrechte des Menschen. Die Jesiden mussten sich als Gemeinschaft erst emanzipieren. Freiheitsdrang und Gleichberechtigung gingen dabei Hand in Hand.“ (Tekkal 2016, S.112)

Letztlich zeichnet sich hier aber vor dem Hintergrund der Notwendigkeiten kultureller und individueller Selbstbehauptung noch ein anderer Grundkonflikt zur deutschen Gesellschaft ab. Tekkal hat den Wert erfahren, den erfolgreich bestandene Kämpfe für die eigene Persönlichkeitsentwicklung haben. Sie hat Schwierigkeiten und Herausforderungen schätzen gelernt, wie ihr Hinweis auf die „Leistungsgesellschaft, in der wir leben“, zeigt. An „Multikulti“ kritisiert sie vor allem die Toleranz und den Relativismus, die fehlende Bereitschaft, sich für die eigenen Werte einzusetzen und so den Einwanderern die kritische Konfrontation mit der Kultur des Gastlandes zu verweigern. (Vgl. Tekkal 2016, S.194ff.) Damit trifft Tekkal wohl tatsächlich eine bestimmte Befindlichkeit, es sich mit der ‚Integration‘ leicht zu machen, möglicherweise aus der Angst heraus, etwas falsch zu  machen.

Nicht zuletzt aus diesem Grund werden Konflikte in vielen alt-deutschen Familien als etwas Negatives wahrgenommen. Auch das kann zu einer Gesprächsverweigerung führen: „Es amüsiert mich, wenn mir Leute erklären: Wir streiten nie. Dann denke ich: Ihr Armen, dann stimmt bei euch etwas nicht. Ich habe den Konflikt nie gescheut. Meine Mutter und mein Vater hatten großen Respekt davor, dass ich darüber diskutiert habe, wenn ich anderer Meinung war als sie.“ (Tekkal 2016, S.131)

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