„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 31. März 2015

Lew Semjonowitsch Wygotski, Denken und Sprechen. Mit einer Einleitung von Thomas Luckmann, Stuttgart 1964/1969 (1934)

1. Prolog: Tomasello und Rousseau
2. Zusammenfassung
3. Experimentelle Methode
4. Innerer Dialog und Egozentrismus
5. Strukturen der Verallgemeinerung
6. Folien und Meridiane
7. Rekursivität?
8. Wortbedeutung
9. Situationsbegriff
10. Subjekte und Prädikate
11. Gesetz der Bewußtwerdung

Von Helmuth Plessner kennen wir in diesem Blog bereits den Begriff des Hiatus, der eine Unterbrechung des Intentionsstrahls, des Reflexbogens bezeichnet, durch die sich der Mensch, dem sich die Dinge nicht fügen wollen, seiner selbst bewußt wird. (Vgl.u.a. meinen Post vom 24.10.2010) Wygotski verweist nun auf den französischen Psychologen Édouard Claparède (1873-1940), der denselben Sachverhalt als „Gesetz der Bewußtwerdung“ bezeichnet, „das besagt, daß Schwierigkeiten und Störungen einer automatisch ablaufenden Tätigkeit dazu führen, daß diese Tätigkeit bewußt wird“. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.37f.) – Wo es keine Schwierigkeiten bei der Ausführung eines Vorhabens gibt, gibt es, so Wygotski, auch „kein Bedürfnis, und folglich auch kein Bewußtsein.“ (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.57)

Diesem Gesetz der Bewußtwerdung entspricht wiederum ein interessantes entwicklungspsychologisches Phänomen, das zuerst von Claparéde beschrieben worden ist: „Kinder nehmen die Verschiedenheiten zwischen Dingen eher wahr als ihre Ähnlichkeiten: Tatsächlich verhält sich das Kind gegenüber Dingen, die einander ähnlich gemacht werden können, in gleicher Weise, ohne die Notwendigkeit zu empfinden, sich dieser Gleichheit seines Verhaltens bewußt zu werden. Es handelt sogar früher nach der Ähnlichkeit, als es darüber nachdenkt. Andererseits wird der Unterschied bei Dingen durch das Unvermögen, sich anzupassen, geschaffen, was dann zu einem Bewußtwerden führt.“ (Wygotski 1964/1969, S.193)

Wygotski zieht Claparédes Gesetz in Zweifel: „Entsteht die höchste Stufe der Begriffsentwicklung, die mit der bewußten Erfassung der Begriffe verbunden ist, wirklich nur aus Mißerfolgen und Niederlagen?“ (Wygotski 1964/1969, S.194) – Er glaubt nicht daß die Entstehung des Bewußtseins durch das Bedürfnis nach einem Bewußtsein erklärt werden könnte und verweist auf den Vogelflug. Es sei so, als wollte „man den Ursprung der Flügel bei den Vögeln damit erklären ..., daß sie ihrer bedürfen, weil sie fliegen müssen.“ (Wygotski 1964/1969, S.194)

Diese Geringschätzung gegenüber der nicht nur evolutionären, sondern auch individuell-biographischen Motivationsleistung von Bedürfnissen widerspricht Wygotskis kluger Kritik an Piagets Bedürfnisanalysen. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.26ff.) Piaget unterscheidet zwischen realen und imaginierten Bedürfnissen. Dabei unterstellt Piaget, daß das Kind die imaginierte Bedürfnisbefriedigung jederzeit der realen Bedürfnisbefriedung vorzieht, weil sich die imaginierte Bedürfnisbefriedigung leichter und widerstandsfreier umsetzen lasse – etwa wie im Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Hähnchen in den Mund fliegen –, während man bei der realen Bedürfnisbefriedigung eben jederzeit mit Hindernissen und Schwierigkeiten rechnen müsse. Weitergedacht könnte Piagets Analyse auch die Beliebtheit von virtuellen Welten im digitalen Zeitalter erklären. Unter Technik verstehen viele unserer Zeitgenossen nur noch die Verwirklichung eines Schlaraffenlandlebens.

Wygotski widerspricht Piaget aber entschieden. Würde ein Kind vor die Wahl gestellt, sich zwischen einer imaginierten und einer realen Süßigkeit zu entscheiden, würde es niemals zögern, sich für die reale Süßigkeit zu entscheiden. Die Bedürfnisbefriedigung ist also ein Realitätsprinzip, das sich nicht durch Imagination außer Kraft setzen läßt. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.28)

Im Grunde geht es hier wiedermal um einen Problemzusammenhang, den schon Rousseau in seinem „Emile“ ins Zentrum der Entwicklung des Kindes gestellt hatte. Dabei geht es um die Differenz zwischen echten und falschen Bedürfnissen und um die Rolle, die die Dinge als Lehrmeister des Kindes dabei spielen. Ähnlich wie Piaget spricht Rousseau von ‚imaginierten‘ Bedürfnissen, und er meint damit die Suggestionen der Erwachsenenwelt, denen das Kind ausgesetzt ist. Es übernimmt die falschen Bedürfnisse seiner sozialen Umwelt als seine eigenen, die seine eigenen, wirklichen Bedürfnisse verdrängen. Seine eigenen Bedürfnisse kann es nur im Umgang mit den Dingen kennenlernen, die seinen Bedürfnissen Widerstand entgegensetzen. Sie sind ihm nicht zu Diensten. Es muß ihren Widerstand überwinden und lernen, sie sich dienstbar zu machen. Anders als in der Erwachsenenwelt entspricht der Widerstand der Dinge dabei immer seinen organischen ‚Kräften‘, also dem Stand seiner jeweiligen organischen Entwicklung, und das Kind kann sich so nach und nach weiterentwickeln und am Widerstand der Dinge wachsen. Das entspricht dem, was Claparéde das „Gesetz der Bewußtwerdung“ nennt.

Grundlage dieser Entwicklung sind aber die realen Bedürfnisse des Kindes. Ohne diese Bedürfnisse würde sich das Kind nicht entwickeln. Sie sind der Motor seiner Entwicklung. Deshalb liegt Wygotski falsch, wenn er meint, daß das Bewußtsein nicht durch das Bedürfnis nach einem Bewußtsein erklärt werden könne. Es ist sicher nicht so, daß das Kind direkt nach mehr Bewußtheit verlangt. Aber es verlangt nach mehr Wissen, wie jeder genervte Erwachsene bestätigen wird, dem auf die Fragen eines Kindes keine Antworten mehr einfallen. Denn ‚Wissen‘ bedeutet für das Kind ‚Stärke‘: größeren Erfolg also bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse.

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2 Kommentare:

  1. Ich vermisse den "Spieltrieb". Reale Bedürfnisse werden durch die Brutpflege beantwortet. Ein Kind hat somit endlos "freie Zeit" und somit Langeweile.

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    1. Und Langeweile ist heutzutage, wo jeder jederzeit sein Smartphone griffbereit hat, rar, wie die neueste Forschung herausgefunden hat. Nicht nur Blumenberg hielt die Langeweile für ein menschliches Monopol. Sie soll eine wichtige Quelle für Kreativität sein. – Natürlich hast Du Recht: der Spieltrieb darf nicht vergessen werden. Aber nicht minder wichtig ist seine Kehrseite: die Langeweile!

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