„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 29. März 2015

Lew Semjonowitsch Wygotski, Denken und Sprechen. Mit einer Einleitung von Thomas Luckmann, Stuttgart 1964/1969 (1934)

1. Prolog: Tomasello und Rousseau
2. Zusammenfassung
3. Experimentelle Methode
4. Innerer Dialog und Egozentrismus
5. Strukturen der Verallgemeinerung
6. Folien und Meridiane
7. Rekursivität?
8. Wortbedeutung
9. Situationsbegriff
10. Subjekte und Prädikate
11. Gesetz der Bewußtwerdung

Im letzten Post hatte ich festgehalten, daß es das simultane Enthalten von Aspekten und Perspektiven nur in unserer dreidimensionalen Wahrnehmung von Gegenständen und auf Bildern gibt. Letztendlich ist die konkrete Dingwahrnehmung und die Wahrnehmung von Bildern immer ‚synkretistisch‘. Piagets Wort für das kindliche Wahrnehmen und Denken, der Synkretismus, meint letztendlich nichts anderes als das, was Plessner als „komplexqualitativ“ und als  „Feldverhalt“ bezeichnet, womit er auf die enge Verflechtung der tierischen Wahrnehmung mit einer aktuellen Erlebnissituation verweist. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010)

Im Zentrum der Gestaltwahrnehmung steht also der Situationsbegriff. Die jeweils aktuellen Situationen, wie sie sich uns tagtäglich ungeplant und überraschend aufdrängen, sind vor allem durch einen Konflikt zwischen Kognition und Affektion gekennzeichnet. Frans de Waal berichtet von einem besonders ergreifenden Beispiel für so einen Konflikt, wo eine Orang-Utan-Mutter verzweifelt versucht, ihre Tochter aus einer Seilschlinge zu befreien, in die die Tochter sich verwickelt hat, und sie bei diesem Versuch erwürgt. In einem vergleichbaren Fall bewahrt ein älterer Schimpanse die Ruhe und geht so besonnen und überlegt vor, daß es ihm tatsächlich gelingt, einen jüngeren Schimpansen aus seiner Schlinge zu befreien. (Vgl. meinen Post vom 16.05.2011) Die überwältigenden Affekte hatten also die Orang-Utan-Mutter an einem ähnlich besonnenen Vorgehen gehindert. – Ich denke, man kann davon ausgehen, daß es sich hier nicht um ein Experiment handelt, sondern um Erlebnisberichte.

Wygotski verweist auf entsprechende Untersuchungen von Wolfgang Köhler (1887-1967), die zeigen, „wie eine affektive Reaktion das intelligente Handeln des Schimpansen zerstört“. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.85f.) Es ist also vor allem der affektive Anteil, der die das Nachdenken behindernde Situationsbefangenheit bewirkt. Affekte bilden zugleich auch den Kern der Expressivität, die Wygotski als phylogenetische Wurzel der Sprache bezeichnet und die die Menschen mit allen Tieren gemeinsam haben: „Der Zusammenhang der Sprache mit emotionalen Ausdrucksgebärden, der im Augenblick einer starken affektiven Reizung des Schimpansen besonders deutlich wird, ist nicht für den Menschenaffen spezifisch. Es ist vielmehr ein gemeinsamer Zug aller Tiere, die über einen Stimmapparat verfügen. Die gleiche Form stimmlicher Ausdrucksreaktionen liegt zweifellos auch der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Sprache zugrunde.“ (Wygotski 1964/1969, S.85)

Diese affektbezogene, animalische Expressivität, die anders als die Plessnersche Expressivität nicht auf die spezifisch menschliche Grenze von Meinen und Sagen, von Innen und Außen bezogen ist, ist also auch der Grund dafür, daß Wygotski zufolge das Denken eine andere Wurzel hat als das Sprechen, nämlich den Werkzeuggebrauch. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.87) Der vor allem Emotionen transportierende Klang der Stimme verdrängt dagegen besonnene, alle Umstände einer Situation berücksichtigende Überlegungen und löst vor allem Instinktreaktionen der Angst oder der Aggression aus: „Das schnelle Tempo der mündlichen Sprache ist kein Faktor, der den Ablauf der Sprachtätigkeit als komplizierte volitionale Handlung, d.h. mit Überlegung, Kampf der Motive, Auswahl usw. fördert; im Gegenteil, das schnelle Tempo der Sprache setzt eher ihren Ablauf als elementare volitionale Handlung voraus. ... Der Dialog ist eine aus Stichwörtern bestehende Sprache, eine Reaktionskette.“ (Wygotski 1964/1969, S.337)

Das akustische Sinnesorgan steht also gerade bei Tieren nicht für Intellektualität und Kognition. Deshalb waren die Versuche, Schimpansen eine an die Stimmorgane gebundene Sprache zu lehren, zum Scheitern verurteilt. Wygotski weist darauf hin, daß Schimpansen anders als Papageien und andere zur akustischen Imitation befähigte Vögel vor allem durch visuell basierte Imitation lernen. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.80) Deshalb ist es erfolgversprechender, ihnen nicht das mündliche Sprechen, sondern eine Zeichensprache beizubringen. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.81)

Was mich an Wygotskis Überlegungen besonders interessiert, ist in diesem Fall nicht die Differenz oder der Zusammenhang von Hand und Wort, wie Leroi-Gourhan ihn beschrieben hat. (Vgl. meine Posts vom 01.03. bis zum 24.03.2013) Mich interessiert an dieser Stelle vielmehr die besondere Leistung des optischen Sinnesorgans für die Situationswahrnehmung von Schimpansen und Menschen. Offensichtlich liefert unser Gesichtssinn weniger affektiv gefärbte Eindrücke von einer Situation, und er liefert auch wesentlich mehr Informationen. Tatsächlich liefert der Gesichtssinn geradezu eine Überfülle an Informationen, und die Speicherkapazität unseres Bildgedächtnisses übertrifft die der anderen Wahrnehmungsbereiche. (Vgl. meinen Post vom 19.01.2014) Es ist also wohl vor allem der Gesichtssinn, der festlegt, was zu einer Situation gehört und was nicht. Und eine potentielle Grenze könnte in dieser Hinsicht die zwischen sichtbar und nicht-sichtbar sein.

Wie weit sich so eine situative Grenzziehung in den nicht-sichtbaren Bereich hinein ausdehnen läßt, hängt vom jeweiligen intellektuellen Niveau der Beteiligten ab. Schimpansen sind z.B. trotz ihrer komplexqualitativen Wahrnehmung durchaus dazu in der Lage, bei einem aktuellen Problem, wie sie etwa an eine von der Decke eines Zimmers herabhängende Banane herankommen können, andere nicht-sichtbare Gegebenheiten wie etwa in einem anderen Zimmer befindliche, als Werkzeug in Betracht kommende Gegenstände, in ihre Überlegungen miteinzubeziehen. Ihr optisches Gedächtnis reicht also durchaus weiter als die aktuell sichtbaren Gegenstände des Zimmers, in dem sie sich gerade aufhalten. Dennoch hält Wygotski fest: „Köhler hat durch exakte experimentelle Analysen nachgewiesen, daß besonders der Einfluß einer aktuellen optischen Situation für das Verhalten der Schimpansen maßgebend ist.“ (Wygotski 1964/1969, S.79)

Auch hier geht es mir jetzt weniger um eine exakte Bestimmung der Reichweite einer „aktuellen optischen Situation“ bei Schimpansen. Für Menschen hat Jan Assmann die extreme Reichweite ihrer Situationswahrnehmung mit dem Begriff der „zerdehnten Situation“ zum Ausdruck gebracht, womit die Fähigkeit des Menschen gemeint ist, vermittelt über schriftliche Dokumente mit anderen räumlich und zeitlich weit entfernten Menschen Kontakt aufzunehmen.  (Vgl. meinen Post vom 05.02.2011) Die Reichweite einer Situation kann man auch als „Situationswert“ bezeichnen. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.84)

Wichtig ist mir hier vor allen Dingen, daß wir es auch bei der Gedächtnisleistung vor allem mit Bildwahrnehmungen, also mit visuellen Erlebnissen zu tun haben. Die Situationswahrnehmung ist also vor allem durch die „Struktur des optischen Feldes“ (Wygotski 1964/1969, S.79)  bestimmt. Während Wygotski aber nun vor allem die Unabhängigkeit der menschlichen, stimmlich vermittelten Sprache von dieser optischen ‚Struktur‘ hervorhebt und damit auf einen intellektuellen Bruch zwischen Gesichtssinn und Gehörsinn hindenkt (vgl. Wygotski 1964/1969, S.83) – die visuelle Wahrnehmung ist sinnlos, erst ihre Verbalisierung macht sie sinnvoll (vgl. Wygotski 1964/1969, S.205) –, hebt dazu im Gegensatz Leroi-Gourhan den sinnhaften Zusammenhang von Gesichtfeld und Gehörfeld hervor. Das entspricht auch wesentlich besser der „Einheit der affektiven und intellektuellen Prozesse“, von der Wygotski an anderer Stelle spricht. (Vgl. Wygotski 1964/1969, S.15)

So sehr die Beobachtung, daß die Affekte die Kognition behindern, auch zutreffen mag, so gilt dies doch nur auf einer Ebene, wo sie sich unmittelbar in unserem Verhalten auswirken. Das ist die eine Seite der Expressivität; und zwar ihre animalische. Die spezifisch menschliche Expressivität hat aber noch eine andere Seite, die in der Unterbrechung des Reflexbogens besteht, so daß im Verhalten eine Zeitverzögerung eintreten kann und Umwege möglich werden. Diese Umwege führen dann sicherer zum Ziel als unser unmittelbares Reagieren, wie das Beispiel von de Waal zeigt. Dennoch bleiben die Affekte bedeutsam. Denn, darauf weist de Waal ebenfalls hin, ohne Empathie käme auch der besonnenste Schimpanse seinem vom Erstickungstod bedrohten Artgenossen gar nicht erst zur Hilfe.

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