„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 21. April 2014

Figuren: Konstellation oder Struktur?

(„Subjekte der Geschichte“. Nebulosa – Figuren des Sozialen, 05/2014, hrsg.v. Eva Holling, Matthias Naumann, Frank Schlöffel, Berlin 2014)

1. Konstellationen
2. Strukturen

Matthias Koch und Christian Köhler befassen sich in ihrem Nebulosa-Beitrag mit Friedrich Kittlers „Aufschreibsysteme“ (1985/2003). (Vgl. Nebulosa 5/2014, S.75-88) Dabei vertreten sie den Standpunkt, daß es Kittler mit diesem „Startschuss für die deutsche Medienwissenschaft“ nicht nur nicht um Menschen geht – zu Kittlers Antihumanismus habe ich mich in diesem Blog schon mehrfach ausgiebig geäußert (vgl.u.a. meinen Post vom 27.04.2012) –, sondern auch nicht in erster Linie um Medien als solche, sondern um „Netzwerke“ von Medien. (Vgl. Nebulosa 05/2014, S.76) Allerdings ist auch in späteren Schriften von Kittler ausdrücklich immer wieder vom „Medienverbund“ die Rede, so daß ich Kochs und Köhlers Differenzierung zwischen Kittlers früheren und späteren Schriften an dieser Stelle nicht ganz nachvollziehen kann.

Wichtig ist hier vor allem die Betonung des systemischen Moments als einem „Apriori gerade auch der Medien“. (Vgl. Nebulosa 5/2014, S.80) Aufschreibsysteme sind eben nicht einfach nur einzelne ‚Medien‘ wie das Buch oder die Kamera oder das Grammophon oder der Rundfunk oder der Computer. Sondern ein Medium wie das ‚Buch‘ wird erst in einem bestimmten zeitgenössischen Umfeld zum Medium. Um 1800 war das zeitgenössische Umfeld des Buches die Romantik, und die ‚mediale‘ Umgangsform mit dem Buch war die Hermeneutik. (Vgl. Nebulosa 05/2014, S.76) Um 1900 hatte sich das zeitgenössische Umfeld geändert, und die ‚mediale‘ Umgangsform mit Texten war jetzt die Psychoanalyse, wobei die Bücher selbst gar nicht mehr als Medien fungierten. (Vgl. Nebulosa 05/2014, S.77)

Aber unabhängig davon ob wir es nun mit Büchern zu tun haben, die aufgrund der allgemeinen Alphabetisierung zu Medien werden, oder einfach nur mit Texten, die als Filter im „kontingenten Rauschen der Signifikanten“ (Nebulosa 05/2014, S.76) fungieren, sind es die Strukturen, die „durch Praktiken zusammengehaltenen Netzwerke“ (Nebulosa 05/2014, S.76) mit ihren verteilten Subjekten (vgl. Nebulosa 05/2014, S.77, 88), um die es eigentlich geht. Dabei macht es gar keinen Unterschied, ob man nun von ‚Systemen‘, ‚Netzwerken‘ oder ‚Strukturen‘ spricht und ob sich daraus eine Systemtheorie oder ein Strukturalismus ergibt. Der Effekt ist derselbe: der Mensch hat als Bezugsgröße ausgedient.

Es geht hier nicht einfach nur um einen bestimmten Blickwinkel, den man einnehmen kann und den man auch wieder wechseln kann, um ein bestimmtes Problem aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Kittler läßt da keinen Zweifel, wenn er der „großartigen Idee“ eines gewissen Oliver Wendell Holmes applaudiert, daß man die realen Gegenstände, sobald wir sie informationstechnisch erfaßt haben und sie simulieren können, anzünden und verbrennen könne. Und Kittler scheut sich nicht, die Parallele bis zu Hiroshima zu ziehen, wo ein gewaltiger Photoblitz von den Menschen nur noch Schatten an den Wänden hinterlassen hatte. (Vgl. meinen Post vom 28.04.2012)

Bei der medialen und informationstechnologischen Erfassung (und endgültigen Beendigung) alles Menschlichen wird ausdrücklich nur das Äußere des Menschen und der Dinge erfaßt, ohne Berücksichtigung eines Sinngehalts oder sonstiger subjektiven Bezüge. Wir haben es mit einem „informationstheoretischen Materialismus“ zu tun: „Dieser Materialismus beschreibt – als technifizierte Archäologie – Aussagen in ihrer Äußerlichkeit als Teil von Nachrichtennetzen und deren Verbund als Aufschreibsystem, das tatsächlich das Bewusstsein der Schreibenden und Lesenden bestimmt.“ (Nebulosa 05/2014, S.82)

Mit anderen Worten: Wenn Informationstechniker den Informationsgehalt von Walgesängen messen, kommen sie auf einige Millionen ‚Bits‘. Aber davon verstanden haben sie kein einziges ‚Wort‘.

Es geht hier, wie gesagt, nicht einfach nur um eine bestimmte Methode, um eine Technik, die man anwendet wie einen Schraubenzieher oder eine Zange. Mit dieser Methode ist vielmehr ein fundamentales Desinteresse am Menschen verbunden; ein Desinteresse, das sich bei Kittler bis zur Verachtung steigern kann.

Im Strukturalismus kommt der ‚Mensch‘ nur noch als eine ‚Größe‘ vor, als eine Funktion. Innerhalb einer Struktur bzw. eines Systems müssen bestimmte Funktionen ausgefüllt werden. Es ist wie mit den Knoten und Kanten eines Netzwerkes. Die Knoten bilden Durchgangsstationen, an denen Vorgänge umgeleitet und weitergeleitet werden. ‚Menschen‘ sind nur noch solche Knoten innerhalb eines Netzwerkes. Um 1800, als Bücher noch Medien waren, bildeten ‚Mütter‘, ‚Dichter‘ und ‚Leser‘ solche Knoten und konnten innerhalb dieses Netzwerkes wechselseitig ihre Positionen vertauschen, solange nur die Funktionen aufrechterhalten blieben. Französische Strukturalisten bezeichnen dieses Spiel mit Positionen innerhalb eines Netzwerks als „Metonymie“, die es ermöglicht, daß „Mütter“ zu „Lesefibeln“ werden, und Frauen werden zur Muse, zum „transzendentalen Signifikat“ und erschaffen so den Autor, der über sie schreibt. (Vgl. Nebulos 05/2014, S.86)

Auch hier haben wir es mit einem rekursiven Spiel zu tun – „Kittlers Kulturtechniken sind rekursiv aufeinander bezogen.“ (Ebenda) –, in dem Leser(innen) Romanfiguren halluzinieren, die (männliche) Autoren erdacht haben. Aber die gemeinsame Wirklichkeit, die dieses rekursive Spiel stiftet, ist keine narrative mehr, sondern eine mediale. Es ist nicht mehr die subjektive Vernunft, die sie bündelt, sondern die Subjekte sind strukturell ‚verteilt‘ und in ihrer rekursiven Funktion austauschbar.

Das strukturelle Spiel lebt von der Manipulierbarkeit von Relaisstationen, von Schaltungen. Diese Technik ist gemeint, wenn Koch und Köhler von „Kulturtechniken“ sprechen, „als Techniken“, wie Kittler es auf den Punkt bringt, „der Lenkung und Programmierung von Leuten“. (Vgl. Nebulosa 05/2014, S.79) Das ist die andere Bedeutung sozialer Figuren.

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