„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 6. April 2014

Beinah ein Buddha

(Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens, Biographie, München 2013)

1. Der dritte Weg
2. Aperçu
3. Anthropologie
4. Karma
5. Nur beinahe

Rüdiger Safranski beschreibt in seiner Goethe-Biographie (2013) das Leben von Goethe als ein weitgehend gelungenes, das sich einer lebenslangen Disziplin verdankt. In Vielem erinnert Goethes Leben in dieser Darstellung an ein alternatives Projekt: alternativ zu den herkömmlichen, Lebenssinn garantierenden Religionsgemeinschaften, denen gegenüber sich Goethe dezidiert als Ungläubiger positionierte. Diese spezifisch Goethesche Kombination aus Disziplin und Gottlosigkeit erinnert an Buddha, dem anderen großen Gottlosen, der den gottgläubigen Religionsgemeinschaften seine eigene Heilsbotschaft entgegenstellte.

Es sind verschiedene Merkmale, die Goethes Lebenskunst mit Buddhas Weg vergleichbar machen: ihre bzw. seine Kennzeichnung als Mitte zwischen den Extremen; die spezifische Mischung aus Naivität und Kritik, aus Gläubigkeit und Ungläubigkeit; die Orientierung am eigenen ‚Verstand‘; die spielerische Distanz gegenüber einem freudlosen Lebensernst bzw. das tiefverwurzelte Mißtrauen gegenüber dem Karma; eine besondere Art des Bei-sich-Seins, des Neben-sich-Stehens; das Ernstnehmen des Scheins und das Haften an der Oberfläche.

Wenn ich mich in diesem und den nächsten Posts mit solchen Parallelen zwischen Goethe und Buddha befasse, so handelt es sich beim Letzteren natürlich um einen von mir zurechtgelegten Buddha. Um einen Buddha, wie ihn sich ein typisch westlicher Intellektueller so vorstellt. Da bin ich ganz naiv. Dabei handelt es sich aber hoffentlich um eine Naivität, die mit einem Gutteil Goethescher Ironie gepaart ist, also um eine, wenn schon nicht kritisch ausbalancierte, so doch wenigstens mit Kritik gewürzte Naivität, um „Geist“ im Goetheschen Sinne, als „freie(m) Gebrauch der Talente“. (Vgl. Safranski 2013, S.566)

Bei diesen ‚Talenten‘, mit denen wir im gut biblischen Sinne ‚wuchern‘ sollen, handelt es sich allererst um den freien Gebrauch unserer „Sinnesorgane“ – getreu der Kantischen Aufklärungsformel: ohne Anleitung durch einen Anderen –, um die „Natur am eigenen Leibe“, die uns mit der äußeren Natur verbindet. (Vgl. Safranski 2013, S.297f.) Die Goethesche Disziplin besteht darin, sich unseren sinnlichen Wahrnehmungen in aller Naivität zuzuwenden, sich ihnen hinzugeben, – und dann zu sehen, was sich aus ihnen machen läßt. Es geht um eine lebenslange Schulung der Wahrnehmung in Auseinandersetzung mit der Natur, wie sie schon Rousseau in den ersten drei Büchern seines „Emile“ als unverzichtbare Grundlage für den eigenen, von anderen unabhängigen Verstandesgebrauch beschrieben hat. Es geht um die Selbstverwandlung des Menschen in einen „Organismus“ zur „Erfassung der ihm begegnenden Natur“, einer Aufgabe, die Goethe zugleich der ganzen Menschheit zuweist, als einem „Großorganismus für das Verständnis dieser Natur, der eigenen und der äußeren“. (Vgl. Safranski 2013, S.490)

Der Buddha Goethe beschreibt diese sinnliche Anschauung als den dritten Weg zwischen den philosophischen Metaphysikern oder den religiösen Gottverstehern auf der einen Seite und den wissenschaftlichen Materialisten und Seelenleugnern auf der anderen Seite: „... in einem Brief an Schiller schrieb er: Ihn könnten weder die Naturphilosophen, ‚die von oben herunter‘, noch die gewöhnlichen Naturforscher, ‚die von unten hinauf leiten wollen‘, zufriedenstellen, er finde sein Heil ‚nur in der Anschauung, die in der Mitte steht‘.“ (Safranski 2013, S.450) – Die Begegnung mit der Natur, dem sinnlich gegebenen Objektiven, ist nicht nur eine Sache der bloß objektiven Erkenntnis, sondern es geht um eine Erkenntnis, durch die „der Erkennende sich verwandelt fühlt“. Ohne Gott vertikal nach außen und nach oben projizieren zu müssen, erkennt der nach Erkenntnis strebende Mensch in der Natur sich selbst als gottähnlich. (Vgl. Safranski 2013, S.450)

Um auf diese Weise sich selbst begegnen und verwandeln zu können, wird Goethe zum Phänomenologen. Seine Grundüberzeugung ist, daß sich hinter den Phänomenen nichts verbirgt, das eigentlicher und wahrer ist als die Phänomene selbst. Sie müssen auch nicht gezwungen werden, sich uns zu zeigen. Es bedarf keiner Apparate und keiner Labore. Wir müssen sie nicht sezieren und konstruieren, um sie zu verstehen. Wir müssen sie uns lediglich geben lassen, als Anschauung. Diese Erkenntnis ist eine meditative, passive, vernehmende, unendlich vertrauensvolle: „Er war überzeugt, man müsse nur genau genug hinschauen, das Wichtige und Wahre werde sich allemal zeigen. Nichts anderes, keine Geheimnistuerei. Er pflegte eine Wissenschaft, bei der einem Hören und Sehen nicht vergeht.“ (Safranski 2013, S.17)

Bei den Erkenntnissen und Einsichten des Buddha Goethe handelt es sich weder um eine Esoterik noch um eine autoritative Expertise. Das einzige, was zählt, ist das, was sich vor unseren Augen in all seiner Sichtbarkeit abspielt, die „Welt der Wirkungen“. Wir müssen weder dem Propheten glauben, der uns einen Gott verkündet, der sich vor uns verbirgt, noch dem Wissenschaftler, der Formeln präsentiert, die das prinzipiell Unanschauliche berechenbar machen wollen: „Die Beschränkung auf die Welt der Wirkungen bei Goethe weist einerseits die metaphysische Spekulation zurück. Zurückgewiesen aber wird auch die Verlockung, aus dem Kreis der Anschaulichkeit herauszutreten. Einspruch also zuerst gegen die metaphysische und dann gegen die mathematische Verflüchtigung der Wirklichkeit. Das eine Mal geht es gegen die ehrwürdige platonische Tradition, das andere Mal gegen den Geist der von Newton angestoßenen modernen Naturwissenschaft, die sich im Unanschaulichen verliert. Mit welcher gigantischen Reichweite man vom Unanschaulichen her, in das man sich in der Moderne hinausgedacht hat, machtvoll in die anschauliche Wirklichkeit zurückwirken kann, ahnte Goethe zu diesem Zeitpunkt noch nicht.“ (Safranski 2013, S.491)

So vertritt dieser Goethe, dieser abendländische Buddha mit seinem Weg der Mitte ein Konzept des Gleichgewichts aus Naivität und Kritik: „Er will einer Wissenschaft, die sich epochal modernisiert, auf ihrem eigenen Terrain Machtansprüche streitig machen. Er will nicht verteidigen, sondern mit seiner Art Phänomenologie den Angriff ins Herz des Gegners tragen. Dabei läßt er sich leiten von seinem Persönlichkeitsideal. Das Erkennen soll sich dem Einklang der vielfältigen Strebungen und Anlagen des Menschen einverleiben lassen, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand sollen zusammenwirken.“ (Safranski 2013, S.496)

„Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand“, also Naivität und Kritik, befinden sich, ergänzt Safanski an dieser Stelle, „eigentlich in einem ursprünglichen Gleichgewicht“. (Vgl. Safranski 2013, S.496) Mit diesem ursprünglichen Gleichgewicht ist sicher nicht die Lebenswelt gemeint mit ihrem Glauben ohne Kritik, – eine Lebenswelt, die sich so gern religiös einfärbt und dogmatisch gibt. Mit einem solchen Glauben ohne Kritik, ohne ‚Ironie‘, will Buddha Goethe nichts zu tun haben, wie Safranski am Beispiel von Friedrich Heinrich Jacobi zeigt. Jacobi ist so ein Vermenger und Vermischer von Lebenswelt und Religion. Ihm zufolge sind wir „tagtäglich und in der Kindheit sowieso, stets auf das angewiesen, was wir glaubend empfangen. Der Glaube ist das Primäre. Da wir selbst so wenig wissen, müssen wir an das Wissen der anderen glauben.“ (Vgl. Safranski 2013, S.296) – Und Safranski fügt hinzu: „Bei Goethe nun fand Jacobi mit seinem Kampf des Glaubens gegen die Anmaßungen des Wissens keine Zustimmung.“ (Safanski 2013, S.296f.)

Wenn Safranski also von einem „ursprünglichen Gleichgewicht“, von einer ursprünglichen Balance aus Naivität und Kritik spricht, so haben wir es eben nicht mit der undisziplinierten, unkritischen Lebenswelt zu tun, sondern mit einer biologischen, naturhaften Balance, eben mit der schon erwähnten „Natur am eigenen Leibe“. Von ihr muß jede Disziplin, jede Kritik ihren Ausgang nehmen. Und zu ihr muß jede Kritik zurückkehren. Wir dürfen unsere Sinnesorgane nicht durch eine Apparatetechnik ersetzen, durch eine Kritik ohne Naivität. Beides gehört zusammen. Das ist der Weg der Mitte, der dritte Weg.

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