„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 20. April 2014

Figuren: Konstellation oder Struktur?

(„Subjekte der Geschichte“. Nebulosa – Figuren des Sozialen, 05/2014, hrsg.v. Eva Holling, Matthias Naumann, Frank Schlöffel, Berlin 2014)

1. Konstellationen
2. Strukturen

Verschiebungen sind gefährlich. Sie führen zu Veränderungen in der Statik und in der Optik und dadurch können Gleichgewichte ins Wanken oder Prioritäten aus dem Blick geraten. Auch bei „Nebulosa“, der bisherigen „Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität“, hat so eine Verschiebung stattgefunden: „Ab der vorliegenden Ausgabe trägt Nebulosa den neuen Untertitel Figuren des Sozialen.“ – Und daraus ergibt sich, wie die Herausgeber hinzufügen, eine Verschiebung und Konkretisierung der thematischen Ausrichtung, bei der „jedoch das Verhältnis von Sichtbarkeit und Sozialität als entscheidende Frage für Nebulosa weiterhin zentral“ bleiben soll. (Vgl. Nebulosa 05/2014, S.15)

Ich habe meine Zweifel. Die Herausgeber wollen mit dem neuen Untertitel „soziale Akteur_innen mit ihren Praxen und Funktionen, seien es politische, kulturelle, künstlerische, diskursive oder andere“, in den Blick rücken. (Vgl. ebenda) Doch tritt genau an dieser Stelle schon eine Verschiebung des Blicks ein. Es wird nicht differenziert zwischen Subjekten und Strukturen, zwischen einer Phänomenologie, die mit den ‚Sichtbarkeiten‘ der bisherigen Nebulosa-Ausgaben immer zugleich auch den subjektiven Blick, dem sich etwas zeigt, impliziert, und einem Funktionalismus und Strukturalismus, dem Ordnungen und Diskurse, gerne auch jenseits dessen, was sich zeigt, allemal interessanter sind als plane Oberflächen. Soziale Akteure sind dann nicht mehr unbedingt Individuen oder ‚Menschen‘ mit ihren „Interessen und Bedürfnissen“ (Nebulosa 05/2014, S.7), sondern z.B. auch Texte, als „festgestellte, unausgesprochene parole“ (Nebulosa 05/2014, S.11); oder mit anderen Worten: Strukturen.

Die Verschiebung, die hier droht, möchte ich an zwei Stellen der aktuellen Ausgabe von Nebulosa aufzeigen: am Vorwort der Herausgeber, Eva Holling, Matthias Naumann und Frank Schlöffel (vgl Nebulosa 05/2014, S.7-16), und an dem Aufsatz von Matthias Koch und Christian Köhler, „Aufschreibsysteme bestimmen unsere Lage: Kittlers verteiltes Subjekt der Geschichte“ (vgl Nebulosa 05/2014, S.75-88). Im Vorwort der Herausgeber, die sich gleich zu Beginn auf Adorno beziehen, stehen bei der Frage nach dem „Subjekt der Geschichte“ noch die Menschen selbst, als individuelle Subjekte, im Vordergrund des Blicks. Bei Matthias Koch und Christian Köhler, die sich vor allem auf Kittler beziehen, geht es nur noch um Systeme und Funktionen – also „Techniken der Lenkung und Programmierung von Leuten“ –, während die Menschen selbst, wie bei Kittler üblich, als „Leute“ im Hintergrund bis zur Unsichtbarkeit verblassen. (Vgl. Nebulosa 05/2014, S.79)

Der neue Untertitel der Zeitschrift, „Figuren des Sozialen“, ist ambivalent. ‚Figuren‘ kann zweierlei meinen: sinnhafte Gestalten, subjektive Bedeutsamkeit auf der einen Seite und subjektlose, strukturelle Konfigurationen auf der anderen Seite. Mit Adorno können wir ‚Figuren‘ als Konstellationen verstehen und mit Kittler und den französischen Strukturalisten als ‚Systeme‘ oder als ‚Strukturen‘. Aus dem einen ergibt sich eine Hermeneutik, aus dem anderen ein Strukturalismus.

Begreifen wir das Verhältnis von Subjekt und Geschichte als Konstellation, so haben wir es im Plessnerschen Sinne mit einer Doppelaspektivität zu tun, als Verhältnis „des Unterworfenseins des Subjekts unter die Geschichte bzw. der Gestaltung jener durch dieses“: „Letzteres Verhältnis lässt sich ohne ersteres nicht denken, vergäße es doch sonst die geschichtliche Gewordenheit eines jeden potentiellen Subjekts der Geschichte.“ (Nebulosa 05/2014, S.7)

Trotz aller geschichtlichen Gewordenheit bleibt die Subjektivität des Subjekts durch ein „Bruchmoment der Freiheit“ gewahrt. (Vgl. ebenda) ‚Die‘ Geschichte greift nicht durch die Subjekte hindurch, sondern sie bricht sich in ihnen. Es sind deren „Interessen und Bedürfnisse“, an denen sich die „Vernünftigkeit der Geschichte“, wie die Herausgeber Adorno zitieren, zu erweisen hat. Geht die Geschichte ‚blind‘ über sie hinweg, verwandelt sie sich in Unvernunft. (Vgl. ebenda) Dabei ist zu beachten, daß Adorno nicht von der „Vernunft“ der Geschichte spricht, sondern von ihrer „Vernünftigkeit“. ‚Die‘ Geschichte ‚hat‘ keine ‚Vernunft‘, als wäre sie selbst ein individualisierbarer Akteur, sondern sie ist „vernünftig“ in Bezug auf die Interessen und Bedürfnisse eines Subjekts. Dieses „Für etwas“ macht die Geschichte wesentlich zu einem Prädikat in Bezug auf ein Subjekt und nicht selbst zu einem Subjekt. Sie ist konstellativ, d.h. sie ergibt Sinn von Subjekten her, wer auch immer diese konkret sein mögen.

So sehr die Herausgeber also dem Subjekt der Geschichte auf der Spur zu bleiben versuchen, verschiebt sich schon ihr Blick, wenn sie im Anschluß an Adorno an die Stelle eines „Subjekts der Geschichte“ eine „Vernunft der Geschichte“ setzen wollen: „... d.h. eines (Subjekts), für das (die) Geschichte vernünftig sei.“ (Neblosa 05/2014, S.7) – Die Vernunft kann und darf aber kein Subjekt sein; sie hat ihm – nämlich den „Interessen und Bedürfnisse(n) der Einzelnen“ (vgl. ebenda) – zu dienen.

Letztlich lassen die Herausgeber keinen Zweifel daran, daß es ihnen genau darum geht und „dass es ein Subjekt der Geschichte ‚an sich‘ nicht geben kann“. (Vgl. Nebulosa 05/2014, S.8) Doch gerade wenn es darum geht, sich den Blick auf die eigentlichen Subjekte der Geschichte, die „in einem Bezug des ‚für sich‘ zu(r) Geschichte stehen“ (vgl. ebenda), nicht trüben zu lassen, kommt alles auf entsprechende sprachliche Genauigkeit an, also auf eine ‚vernünftige‘ Geschichte und nicht auf die ‚Vernunft‘ der Geschichte.

Wenn nämlich die Geschichte, wie die Herausgeber festhalten, als eine Erzählung verstanden werden sollte, so deshalb, weil sie einen Prozeß bildet, der auf  vielen verschiedenen Ebenen verläuft. Dabei verlieren wir die historischen Zusammenhänge nur allzuleicht aus den Augen. Für Michael Tomasello ist die Narrativität ein kommunikatives Mittel, das uns dabei hilft, gemeinsamen Sinn zu stiften, der zu komplex ist, um ihn mit einfacher gemeinsamer Aufmerksamkeit zu organisieren. (Vgl. meinen Post vom 27.04.2010) Dazu bedarf es einer „extravaganten Syntax“, eben der Narrativität.

Sobald sich ‚Sinn‘ auf mehrere Ereignisebenen verteilt – und das ist bei historischen Ereignissen ohne Zweifel der Fall –, reicht die rekursive Kapazität unseres Gehirns nicht mehr aus, ihn im Blick zu behalten. Die Erzählung führt Erzähler, Zuhörer und die erzählten Ereignisse zusammen und stiftet Gemeinsamkeit: „Neben dem erzählenden und den erzählten Subjekten von Geschichte(n) erscheinen als weitere Position noch diejenigen, denen erzählt wird. Keine Geschichte ohne diese Zuhörer_innen, wobei sich mehrere Subjektpositionen – erzählend, erzählt, rezipierend – in einem/einer Einzelnen durchaus treffen können, oftmals treffen werden.“ (Nebulosa 05/2014, S.8f.) – Genau das nennt Tomasello Rekursivität.

Erzählungen, so Tomasello, erleichtern die Referenzverfolgung. Sie bilden, mit Adorno ausgedrückt, ‚Konstellationen‘, in denen sich die verschiedensten Subjekte mit ihren Interessen und Bedürfnissen wiederfinden können. Erzählte Geschichte erweist sich in diesem Sinne als ‚vernünftig‘. Das wäre die eine mögliche Bedeutung sozialer Figuren.

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