„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 29. März 2014

Herfried Münkler, Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 3/2013

1. Methode
2. Kontingenz
3. Rolle der Intellektuellen
4. Paradoxien
5. Lernen aus der Geschichte

Die insgesamt 924 Seiten von Herfried Münklers Buch „Der große Krieg“ (2013) enthalten eine solche Fülle militärgeschichtlicher Details zu den Schlachten an den verschiedenen Fronten des Ersten Weltkriegs, der Westfront, der Ostfront, dem Balkan und dem Nahen Osten, daß sie einen alten Kriegsdienstverweigerer wie mich regelrecht ‚erschlagen‘ und letztlich zu ermüden drohen. Allerdings beschränkt sich Münkler keineswegs auf diese strategischen, taktischen und waffentechnischen Details. Er liefert darüberhinaus geopolitische, sozialpolitische, sozialpsychologische, wissenschaftspolitische, ökonomische und kulturpolitische Analysen, die immer wieder überraschende Einsichten in Zusammenhänge eröffnen, die bis in unsere 2014er Tage hinein längst noch nicht abgegolten sind, wie insbesondere der Putinsche Griff nach der Krim zeigt. Den allerdings hatte Münkler nicht auf dem ‚Schirm‘, trotz seiner Hinweise auf den Balkan. Ob die Ukraine noch zum ‚Balkan‘ gehört, weiß ich nicht. Statt um Rußland sorgt sich Münkler jedenfalls eher um den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, das er mit dem Wilhelminischen Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg vergleicht.

Ich will die Reihe meiner Besprechungen mit einigen Bemerkungen zur Methode beginnen. Zu diesem Zweck möchte ich einen Begriff aufgreifen, den ich in diesem Blog schon verschiedentlich diskutiert habe: den Begriff der Kasuistik (Vgl. meine Posts vom 07.09. bis zum 10.09.2013) Wenn Münkler von den Quellen spricht, auf die er sich bezieht, um die „zeitgenössische() Reflexion“ des Ersten Weltkriegs zu thematisieren, handelt es sich vor allem um literarische Zeugnisse und um „Feldpostbriefe einfacher Soldaten“. (Vgl. Münkler 2013, S.18f.) Dabei spricht Münkler ein spezifisches Problem hinsichtlich der Glaubwürdigkeit dieser ‚Quellen‘ an, das wir schon von Blumenberg kennen, der die geschichtswissenschaftliche Quellengläubigkeit als letzte, unbezweifelbare Autorität hinterfragt. (Vgl. Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, Berlin 2012, S.42f.u.ö.)

Auch Herfried Münkler problematisiert die ‚Autorität‘ seiner Quellen, insbesondere der Feldpostbriefe „als authentische Zeugnisse“, insofern „das, was in ihnen erzählt wird, in hohem Maße durch sprachliche Stereotype geprägt ist“. (Vgl. Münkler 2013, S.19) Im Vergleich zu solchen scheinbar unmittelbaren Erlebnisberichten hebt Münkler sogar den Vorzug von Werken von „Literaten wie Jaroslav Hašek, Ernst Jünger oder Robert von Ranke-Graves“ hervor (vgl. Münkler 2013, S.18), weil wir bei ihnen von vornherein wissen, daß deren Darstellungen stilisiert sind, was uns gegenüber ihrem „Autoritätsgestus“ weitgehend immun macht (vgl. Münkler 2013, S.19).

Trotz der grundsätzlichen Fragwürdigkeit literarischer Quellen einschließlich der erwähnten Feldpostbriefe hält Münkler diese Schriftzeugnisse für unverzichtbar, wenn man als Historiker dem Sinn auf die Spur kommen will, den die Menschen als Zeitgenossen und als Betroffene den historischen Vorgängen um sie herum zu geben versuchen. Damit aber haben wir es genau mit der Kasuistik zu tun, auf deren Notwendigkeit ich auch schon für die Pädagogik, für die Medizin und für die Jurisprudenz hingewiesen habe. Dabei wird allerdings auch gleich der entscheidende Unterschied zu einer pädagogischen Kasuistik deutlich: Für den Pädagogen und Erziehungswissenschaftler ist das entscheidende Kriterium für den Wert einer Beispielerzählung nicht deren empirische Validität, sondern deren intersubjektive Plausibilität. Erst wo eine Beispielerzählung für den Zuhörer anschlußfähig ist – wo er seine eigenen Erfahrungen in ihr gespiegelt findet –, kann sie ihre die Erkenntnis fördernde und die Handlungskompetenz bereichernde Potenz entfalten.

Der Geschichtswissenschaftler hingegen steht der scheinbaren Plausibilität von historischen Dokumenten (Quellen) skeptisch gegenüber. Der Erkenntniswert historischer Erlebnisberichte erhöht sich im Gegenteil gerade dort, wo diese Quellen selbst den Hinweis auf ihre Künstlichkeit schon an sich tragen, wie es eben bei literarischen Werken der Fall ist: „Die Präferenz für literarische Zeugnisse begründet sich auch daraus, dass sie schon viele Male kritisch analysiert wurden und ihnen so der Authentizitätsgestus abhanden gekommen ist.“ (Vgl. Münkler 2013, S.19) – Die geschichtswissenschaftliche Kasuistik bedarf also einer anderen Ausbalancierung von Naivität und Kritik, mit einer stärkeren Gewichtung des zweiten Bestandteils in dieser Verhältnisbestimmung.

Eine solche Kasuistik ist auch gegen die Gefahr einer „retrospektive(n) Besserwisserei“ des Nachgeborenen gegenüber den unmittelbar Beteiligten weitgehend gefeit. (Vgl. Münkler 2013, S.15) Gegen eine entsprechende moralische Kontaminierung historischer Geschehnisse durch die Geschichtswissenschaft wenden sich z.B. auch Sönke Neitzel und Harald Welzer in „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ (5/2011). (Vgl. meinen Post vom 01.06.2011) Mit ihrer ehrenwerten Selbstbegrenzung schießen sie aber weit über das Ziel hinaus. Mit ihrem unmoralischen, also sich moralischer Wertungen enthaltenden Blick auf Gewaltdelikte am Rande des eigentlichen Kampfgeschehens entgeht ihnen die Opferperspektive, die ja schließlich auch zum historischen Geschehen gehört und ohne die der Gewaltbegriff, um den es ihnen ja geht, nicht vollständig ist.

Im Unterschied dazu will Münkler also ausdrücklich die zeitgenössische Perspektive, einschließlich ihrer ‚moralischen‘ und sozialpsychologischen Hintergründe in seinen Analysen berücksichtigen. Wenn Münkler dabei die politischen und militärischen Entscheidungen der verschiedenen Kriegsparteien gewichtet und bewertet, geht es um eine ‚Zukunft‘, die für uns schon vergangen ist und deshalb eben zu der erwähnten retrospektiven Besserwisserei verführt. Der Vergangenheitsbezug dieser Zukunft – das möchte ich im Anschluß zu den politisch-ökonomischen Analysen von Frank Engster ergänzen (vgl. meine Post vom 15.02 bis zum 25.03.2014) – bildet gewissermaßen ein Futurum III. Im Grunde unterliegt die Geschichtswissenschaft dem Prinzip eines analog zum die Ökonomie beherrschenden Futurum II zu bildenden dritten Futurs. Bildet das Futurum II einen in die Zukunft projizierten Vergangenheitsbezug, so bildet das Futurum III einen in die Vergangenheit projizierten Zukunftsbezug. Die Geschichtswissenschaft rekonstruiert also den Zukunftsbezug des Handelns früherer Generationen.

Es ist dieser rekonstruierte Zukunftsbezug, der Münklers Skepsis gegenüber Authentizität beanspruchenden Quellen begründet und in dem die Spezifik einer geschichtswissenschaftlichen Kasuistik besteht.

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