„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 18. März 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

11. Denkformen und Gegebenheitsweisen
12. Lebenswelt, Gabe und Entzug

Ich hatte schon mein Befremden darüber angemerkt, wie Engster den Begriff der ‚Gabe‘ gebraucht. (Vgl. meine Posts vom 22.02. und vom 12.03.2014) Im Grunde täuscht Engsters Verwendung dieses Begriffs darüber hinweg, daß er mit ihm eigentlich gar kein Geben, sondern ein Nehmen meint. Der Begriff des „Entzugs“, den Engster in diesem Zusammenhang an anderer Stelle verwendet (vgl. Engster 2014, S.564f., 579), bringt das, was eigentlich gemeint ist, auf den Punkt. Vor allem in der immer wieder wiederholten Redewendung, daß uns das Geld etwas zu denken ‚gibt‘ (vgl. Engster 2014, S.563 u.ö.), wird die abgründige Dimension dieser ‚Gabe‘ besonders deutlich. Denn was auch immer uns das Geld zu denken gibt, so ist es letztlich doch nur ein ‚Denken‘, das durch das Geld gesteuert wird. Es ist nicht unser eigenes, sondern ein enteignetes ‚Denken‘.

Das gilt auch dort, wo Engster von einer „Übereinkunft zwischen dem individuellen und dem überindividuellen Rechnen mit der Identität der Zeit“ (Hervorhebung – DZ) spricht, wie in dem letzten Kapitel zur Ökonomie der Zeit. (Vgl. Engster 2014, S.668ff.) Denn die dem Geld „entsprechende (individuelle – DZ) Subjektivität“ wird vom Geld konstituiert. (Vgl. Engster 2014, S.669) Das „Rechnen des Geldes“ ist „stets früher“. (Vgl. Engster 2014, S.670)

Anstatt ein ‚Mittel‘ des Denkens zu sein, wie es die Formulierung suggeriert, daß das Geld „für das Denken da (ist)“ (vgl. Engster 2014, S.565), „‚denkt‘ das Geld für die Warenbesitzer“, indem es ihnen „erspart“, „das gemeinsame Verhältnis und den inneren Zusammenhang aller Arbeiten und Kapitale sowie all ihrer Resultate denken und im Denken ausrechnen zu müssen.“ (Vgl. Engster 2014, S.579) Anstatt uns also etwas zu denken zu geben, entzieht uns das Geld das Selberdenken: „Gerade dieser Entzug gehört aber zur kapitalistischen Bewegung des Geldes dazu; durch ihn wird das Geld erst zu einer überindividuellen, automatischen Subjektivität. ... Diese Verschränkung zwischen der Kapitalbewegung des Geldes und der Verwertung des Werts muss schließlich zur Überwindung einer Erkenntnistheorie führen, die das Denken und Reflektieren allein auf den individuellen Verstand beschränkt und auf eine ebenso individuelle Praxis zurückführt.“ (Engster 2014, S.579)

In der Phänomenologie (Husserl) wird diese ‚Subjektivität‘, wie sie Engster als ‚Geld‘, also als gesellschaftliches Verhältnis beschreibt, als Lebenswelt bezeichnet. Habermas differenziert zwischen Lebenswelt und Ökonomie, indem er der Lebenswelt eine symbolische Reproduktionsweise und der Ökonomie eine materielle Reproduktionsweise zuordnet. (Vgl. meine Posts vom 15.01. und vom 17.01.2013) Engster unterscheidet nicht mehr zwischen Lebenswelt und Ökonomie (Gesellschaft). Eine drohende Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systemimperative der Ökonomie und Bürokratie, wie sie Habermas beschreibt, wird bei ihm nicht thematisch. Eine andere überindividuelle Subjektivität als die „Kapitalform des Geldes Geld-Ware-Geld', G-W-G' “ (Engster 2014, S.585) oder gar eine eigenständige individuelle Urteilskraft zieht er nicht nur nicht in Betracht, sondern er hält deren Überwindung bzw., wie es im obigen Zitat heißt, die Überwindung einer „Erkenntnistheorie“ für wünschenswert, „die das Denken und Reflektieren allein auf den individuellen Verstand beschränkt und auf eine ebenso individuelle Praxis zurückführt“.

Das ist zwar vorsichtig formuliert, insofern sich diese Textstelle lediglich gegen eine ausschließliche Fixierung auf den individuellen Verstand richtet. Aber ich kenne bislang keine andere Textstelle in seinem Buch, die in irgendeiner Weise dem individuellen Verstand gegenüber dem Rechnen des Geldes irgendeine Chance einräumen würde. Und so wie dieses ‚Rechnen‘ an die Stelle der individuellen Verstandestätigkeit tritt, ist der Verdacht einer Schwarmintelligenz nicht von der Hand zu weisen.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen