„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 11. März 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

  7. Immanente Kritik?
  8. Von Phänomenen und ihrer Maßlosigkeit
  9. Der Satz vom Sein
10. Anthropologische Genesis

Adorno, so Engster, „misstraute nicht nur dem bürgerlichen Fortschrittsoptimismus und dem geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenken des Marxismus-Leninismus, sondern dem affirmativen Wesen positiver Bestimmung überhaupt.“ (Vgl. Engster 2014, S.326) Die Positivität der Hegelschen (und Marxschen) Dialektik bestand für Adorno darin, das Besondere und Vielfältige der realen Welt ‚aufzuheben‘ und als Begriff bzw. als Ware zu behandeln. Ihm ging es deshalb vor allem darum, diesem Aufhebungs- bzw. „Identitätszwang“ (Engster 2014, S.329f.) des ‚Begriffs‘ gegenüber an einem Nicht-Identischen festzuhalten, das der dialektischen Bewegung bzw. der Verwertung immer äußerlich bleiben muß und sich so seiner ‚Aufhebung‘ entzieht.

Inwiefern aber ist das Nicht-Identische, das Adorno der Hegelschen und Marxschen ‚Positivität‘, dem Identitätszwang, entgegenhält, etwas Äußeres, das nicht in deren dialektische Kritik eingeht? Engster bestreitet übrigens energisch, daß es sich bei Hegels Dialektik in irgendeiner Weise um etwas Positives handelt. Im Gegenteil sei deren ‚Negativität‘ noch radikaler angesetzt als die Negativität der Adornoschen Dialektik: „So beginnen die Seinslogik und die Wertformanalyse ja statt mit der positiven Bestimmung des Daseins damit, das Scheitern dieser Bestimmung zu bestimmen, insofern sie zeigen, dass jede Bestimmung nur Bestimmung ebenso durch wie für Anderes ist und dass diese Form der Bestimmung des Daseins in eine schlechte Unendlichkeit führt.“ (Engster 2014, S.451)

Indem Adorno Hegel (und Marx) immanent überwinden will, kommt es zu einem absurden Überbietungswettbewerb in Sachen ‚Negativität‘. Tatsächlich geht Adorno selbst aber gar nicht von etwas Negativem, sondern ganz naiv von etwas Positivem aus: davon, daß dem menschlichen Verstand – und für diesen menschlichen Verstand steht vor allem der individuelle Verstand (vgl. Engster 2014, S.343) – ‚etwas‘ gegeben wird. Adorno geht also von einer Anschauung aus, von Phänomenen und nicht von Maßen und ihrer angeblichen Maßgeblichkeit. Er verhält sich also dem ‚Etwas‘, dem ‚Objekt‘ gegenüber wie ein Phänomenologe, auch wenn er mit dem Wort ‚Phänomenologie‘ nicht viel anzufangen weiß und stattdessen lieber von ‚Mimesis‘ und von ästhetischer Erfahrung spricht. Adorno, so Engster, „geht auf Distanz durch ein ‚Nicht-Identisches‘, das ebenso an ein Anderes des Denkens wie an ein anderes Denken gemahnen soll; an ein Denken, das de(s) Anderen nicht um der Identität willen bewusst werden will, sondern das mimetisch mit dem Anderen umgeht und es allenfalls konstellativ oder ästhetisch erschließt.“ (Vgl. Engster 2014, S.343)

Mimetisch, ästhetisch, konstellativ, – das sind Worte für einen meditativen Umgang mit Phänomenen und Situationen, die sich einer Messung entziehen und deren ‚Ort‘ die individuelle Sensibilität ist und nicht das Geld. Adorno spricht vom „beschädigten Leben“, das „durch kein kollektives Gattungsinteresse und durch keine blind wirkende Kraft der Vernunft errettet werden (kann)“ und dessen „Heilung“ durch „keine andere Kraft“ mobilisiert wird, als durch „die des beschädigten Individuums selbst“. (Vgl. Engster 2014, S.341)

Da Adorno aber am immanenten Verfahren seiner Kritik festhält, kann Engster ihm nun vorwerfen, daß das Nicht-Identische zu einer schlechten Unendlichkeit führt, bei der Adorno es – im Unterschied zu Hegel und Marx – „bewenden lassen“ will. (Vgl. Engster 2014, S.344) Dadurch wird das Nicht-Identische zu einem „Mittel, Identität ständig zu verschieben und aufzuschieben“ (vgl. Engster 2014, S.353), woraus sich, so Engster, „bei Adorno aus der Rücksicht auf eine fraglos gegebene qualitative Besonderheit des Daseins die schlecht unendliche Notwendigkeit eines sich unabgeschlossen und konstellativ haltenden Denkens (ergibt)“ (vgl. Engster 2014, S.452).

Adorno entgeht deshalb, so Engsters Vorwurf, die Hegelsche und Marxsche Überwindung der schlechten Unendlichkeit in der wahren Unendlichkeit, die das beständige Anderssein des Etwas als absolute Negativität begreift und ihr die Form von Zahlenverhältnissen verleiht: die qualitative bzw. phänomenale Bestimmtheit des Etwas schlägt um in Quantität. Dadurch, daß Etwas immer wieder Anderes ist, bzw. ökonomisch: dadurch, daß Ware A durch Ware B und Ware C usw. ‚bestimmt‘ ist, woraus sich eine Serie ergibt, in der sich alle ‚Glieder‘ allein dadurch unterscheiden, daß sie sich unterscheiden, erweist sich die wahre Unendlichkeit als eine arithmetische Konfiguration: „Als vollkommen durchgeführte und vollständig durch sich bestimmte bleibt der Qualität auch gar nichts anderes übrig, als einerseits kontinuierlich mit sich anzufangen, mit der eigenen Negativität wie mit der eigenen Identität, und sich andererseits in diesem tautologischen Selbstbezug einzig von sich zu unterscheiden.“ (Engster 2014, S.430) – Mit anderen Worten: was da kontinuierlich anfängt und sich schlecht unendlich fortsetzt, ist in Wahrheit eine Zahlenreihe, also 1, 2, 3, 4 usw.

Wir haben es also bei den vielen Etwassen, die immer wieder Anderes sind, mit lauter Einsen zu tun, mit Zählbarkeiten, die sich völlig gleich sind, ob wir nun sieben davon haben oder nur zwei oder eben eins, und dieses Eins viele, viele Male: „Das Dasein, das sein Werden und seine Bestimmung in sich zurücknimmt und darin seine unveränderliche Bestimmung hat, wird von Hegel als Eins, viele Eins und Leere gefasst und als Beziehung der Beziehungs-losigkeit entwickelt, nämlich als Repulsion und Attraktion.()“ (Engster 2014, S.420)

In „Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna“ (1974) diskutiert Anna mit einem Erwachsenen darüber, wie sich die ganze Vielfalt der Gestalten auf einen Punkt reduzieren läßt. Man muß nur irgendwas gegen eine Wand halten, so daß sich darauf ein Schattenriß bildet. Wenn man dann diesen Schattenriß senkrecht zur Wand richtet, wird er als Linie abgebildet. Wenn man wiederum diese Linie senkrecht gegen die Wand richtet, wird dort ein Punkt abgebildet. Kurz: Qualität ist in Quantität umgeschlagen! Dieser Punkt, dieses Quantum, zu dem alles wird, wenn man es oft genug wendet (reflektiert), ist die Vielheit der Eins bei Hegel.

So wird Marxens Ausspruch, den Engster immer wieder zitiert, daß in den Wert kein „Atom Naturstoff“ eingeht (vgl.u.a. Engster 2014, S.96), zur platten, eindimensionalen Quantität. Denn an die Stelle des vielgestaltigen Naturstoffs treten lauter Einsen, die sich arithmetisch aneinanderreihen lassen und sich dabei repulsiv und attraktiv verhalten, eben wie Atome. Man sollte übrigens auch nicht vergessen, daß Repulsion und Attraktion zu den drei bis vier Grundprinzipien jeder Schwarmintelligenz gehören. (Vgl. meinen Post vom 02.08.2011) – Das ist die wahre Unendlichkeit, die Engster zufolge Adorno entgeht, weil er es lieber mit der schlechten Unendlichkeit des Nicht-Identischen hält, in dem die Dinge sich geben, in ihrer Maßlosigkeit, und die nicht ein Maß abgeben, mit dem sie sich messen lassen.

Die Objektivität, die Hegel voraussetzt, ist eine Objektivität, die auf andere Weise ‚sein gelassen‘ werden will als das Adornosche Etwas. Engster spricht hier vom „Unterschied ums Ganze“. (Vgl. Engster 2014, S.457) Dabei entgeht aber wiederum ihm, worin die Pointe bei Adorno liegt. Das Grundprinzip der Adornoschen ‚Phänomenologie‘ besteht darin, die Dinge, die sich uns geben, sein zu lassen. (Vgl. Engster 2014, S.342) Nun hält Engster Adorno entgegen, daß Hegel (und Marx) genau das tut: „Denn betrachtet man die WdL, so nimmt bei Hegel der Begriff gar keine Identifikation einer irgendwie gegebenen Objektivität vor: stattdessen verwirklicht er die Vernunft, die in der radikalen Trennung in Subjektivität und Objektivität liegt. Durch diese Trennung reflektiert und identifiziert der Begriff die Objektivität so, dass er sie ein Selbstverhältnis sein lassen muss und gerade nicht, wie Adorno unterstellt, irgendwie überwältigt und subsumiert. Hegel entwickelt in der WdL eine Objektivität, die, wie noch zu zeigen sein wird, einerseits maßgeblich für sich selbst ist, und andererseits wird genau das dem Begriff zum Gegenstand.“ (Engster 2014, S.349)

Wir haben es bei der Objektivität ganz offensichtlich mit einer Verallgemeinerung zu tun, nicht mit den konkreten Gegenständen, also „einer irgendwie gegebenen Objektivität“, sondern mit der Gegenständlichkeit als solcher. Diese Verallgemeinerung beinhaltet schon als solche eine Blickabwendung von den konkreten Phänomenen. Diese Verallgemeinerung zur Gegenständlichkeit bzw. Objektivität als solchen bringt nun wiederum eine dialektische Bewegung hervor, die in ihrem beständigen Anderswerden eine ebenso beständige Abwendung vom konkreten sich gebenden Etwas beinhaltet. Das ist in der Tat wesentlich negativer als es Adornos negative Dialektik, der genau an diesem Etwas ja festhalten will, jemals sein möchte.

Was Adorno also sein lassen will, ist etwas völlig anderes als Hegels Seinlassen. Der „Unterschied ums Ganze“, von dem Engster spricht, besteht darin, daß Hegels Objektivität aufgrund dieses Seinlassens ihr objektives Maß ohne subjektive Zutat abgibt: „Obwohl es die Subjektivität ist, welche die Objektivität im Reflektieren realisiert und identifiziert, wird von Hegel und Marx eine Objektivität entwickelt, die gleichsam sich selbst überlassen und auf sich gestellt ist, sodass sie auf bewusstlose Weise in-sich übergehen und dadurch unmittelbar an-sich bestimmt sein muss – also ohne Subjektivität.“ (Engster 2014, S.357f.)

Adornos Etwas hingegen bedarf des Subjekts, dem es sich gibt, als Gabe, um als Anderes sein gelassen werden zu können. Es ist eben nicht dasselbe, ob ich ein „Etwas“ sein lasse oder ob ich ‚die‘ Objektivität, also Gegenständlichkeit überhaupt, sein lasse. Das Andere ‚gibt‘ sich mir, und deshalb bin ich ihm verpflichtet, auch dazu, es sein zu lassen. Dafür braucht es ein ‚Subjekt‘ bzw. einen individuellen Verstand. Es bzw. er wird geradezu durch das Andere allererst konstituiert. Lambert Wiesing (2009) spricht deshalb vom „Mich“ der Wahrnehmung. (Vgl. meinen Post vom 04.06.2010)

Die Objektivität als solche ‚gibt‘ sich aber niemandem, sondern lediglich ein Maß für sich selbst, denn die Subjektivität ist ja ausgeschaltet. Die Maßgeblichkeit qua Objektivität wird auf subjektlose Weise konstituiert und ist von nun an die identifizierende Vernunft hinter allen Trennungen, die dieser Konstitution folgen.

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