„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 16. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Ich hatte in meinem gestrigen Post vom inneren Widerspruch in Habermasens „Theorie des kommunikativen Handelns“ gesprochen, den ich darin sehe, daß sowohl die Lebenswelt wie auch die systemischen Mechanismen der Gesellschaft an der Stabilisierung des von der doppelten Kontingenz von Erwartungserwartungen („Was denkt mein Interaktionspartner von mir, was ich von ihm erwarte?“) bedrohten kommunikativen Handelns beteiligt sind. Diesem Widerspruch ist auch eine seltsame Verkehrung in der Frage nach dem Unbewußten bzw. Unterbewußten geschuldet. Ich hatte in einem Post zwischen dem Unbewußten und dem Unterbewußten dahingehend unterschieden, daß das Unbewußte ein prinzipiell Unbewußtes darstellt und alle die körperleiblichen Mechanismen umfaßt, die Bewußtsein überhaupt erst möglich machen. (Vgl. meinen Post vom 20.04.2012) Im Merleau-Pontyschen und Meyer-Draweschen Sinne hat das Unbewußte einen Vollzugscharakter. Ich hatte in meinem Post vom 12.01.2012 davon gesprochen, daß die Lebenswelt so einen ‚Vollzug‘ darstellt: daß sie als Unbewußtes ‚fungiert‘, – im Unterschied zur systemtheoretischen Funktionalität. Das Unterbewußte hatte ich im Unterschied zum Unbewußten als potentiell Bewußtes beschrieben.

Nach Habermas haben wir es aber nun bei der Lebenswelt – in meiner Diktion – nicht mit einem Un-Bewußten, sondern mit einem Unter-Bewußten zu tun, also mit einem potentiell Bewußten, das dem kommunikativen Handeln von „Aktoren“ zur Verfügung steht. Sie bedienen sich dieses Untergrund- bzw. Hintergrund-Bewußtseins, um ihm situationsadäquate Handlungsorientierungen zu entnehmen: „Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt. Ihre Lebenswelt baut sich aus mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen auf. Dieser lebensweltliche Hintergrund dient als Quelle für Situationsdefinitionen, die von den Beteiligten als unproblematisch vorausgesetzt werden. Bei ihren Interpretationsleistungen grenzen die Angehörigen einer Kommunikationsgemeinschaft die eine objektive Welt und ihre intersubjektiv geteilte soziale Welt gegen die subjektiven Welten von Einzelnen und (anderen) Kollektiven ab. ... Die Lebenswelt speichert die vorgetane Interpretationsarbeit vorangegangener Generationen; sie ist das konservative Gegengewicht gegen das Dissensrisiko, das mit jedem aktuellen Verständigungsvorgang entsteht.“ (Bd.1: S.107)

Diese Lebenswelt hat keinen Vollzugscharakter mehr: sie fungiert nicht, sondern sie funktioniert. Sie ist „unproblematisch“. Zwar spricht Habermas der Lebenswelt immer auch vorrationale Prädikate zu und hält fest, daß in sie „individuelle Fertigkeiten“ eingehen, daß sie ein „intuitives Wissen“ beinhaltet, „wie man mit einer Situation fertig wird“ und daß sie aus „eingelebten Praktiken“ besteht (vgl.Bd.2: S.331), – allesamt Prädikate, die ich dem Bereich der ‚Haltung‘ zuordne (vgl.u.a. meine Posts vom 31.12.2010, 05.02.2011, 01.06.2011, 21.07.2011). Bei Habermas sind sie aber von jedem körperleiblichen Bezug losgelöst, weil er die „körperlichen Bewegungen“ nur als „unselbständige Handlungen“ kennzeichnet. (Vgl.Bd.1: S.145 (Anm.161)) Eine solche unkörperliche Lebenswelt hat natürlich keine Brunnentiefe. Sie reicht nicht hinab in die evolutionären Zeiträume, die diesen Körperleib geformt und geprägt haben. Sie bleibt alles in allem ein rekonstruierbares soziales Konstrukt.

An ihre Stelle tritt bei Habermas ein anderes Unbewußtes, das nun an den Kommunikatonssubjekten vorbei zu fungieren beginnt: das systemisch Unbewußte, das paradoxerweise im Unterschied zur Lebenswelt ganz und gar nicht ‚funktional‘ ist, sondern Anomien verursacht (vgl.Bd.2: S.222). Ich nenne dieses systemische Unbewußte ‚paradox‘, weil es ja eigentlich einen Systemmechanismus bildet und Systeme durch ihre Funktionalität definiert sind und nicht durch ihre Dysfunktionalität. Habermas zufolge greift aber das systemisch Unbewußte „durch Handlungsorientierungen hindurch“ und bewirkt eine latent bleibende „Integration“, eine „funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen“, die „über den Orientierungshorizont der Beteiligten hinausreichen kann.“ (Bd.2: S.302)

Die Ebene, über die diese latent bleibende systemische Integration sich auf die Lebenswelt auswirkt, ist deren materielle Reproduktion, die Habermas – mit einer weiteren überraschenden Wendung – als eine weniger „überschaubare Dimension“ als die symbolische Reproduktion der Lebenswelt darstellt. (Vgl.Bd.2: S.348) – Über diese Bemerkung sollte man nicht einfach so hinweglesen. Man muß sich nur einmal klarmachen, daß es sich bei der symbolischen Reproduktion um das kulturelle Wissensreservoir handelt, in dem individuelle Fertigkeiten, intuitives Wissen und eingelebte Praktiken zusammenströmen und sedimentieren, während es sich bei der materiellen Reproduktion der Lebenswelt lediglich um systemisch funktionalisierbare „Zwecktätigkeit“ (ebenda) handelt. Es bleibt Habermasens Geheimnis, wieso es sich bei der Ebene der materiellen Reproduktion um eine weniger überschaubare Dimension handeln soll als bei der symbolischen Reproduktion.

Erklären läßt sich eine solche Verdrehung in der Zuordnung unbewußter und unterbewußter Merkmale auf lebensweltliche und systemische Mechanismen nur einerseits durch den lebensweltlichen Charakter der Technik, die wir in unserer technisierten Zivilisation in ihrer Funktionalität längst nicht mehr durchschauen und beherrschen. (Vgl. meinen Post vom 07.08.2010; vgl. auch Habermasens Verweis auf Luhmanns „Technisierung der Lebenswelt“, Bd.2: S.394) Hinzu kommt Habermasens Abwertung der körperlichen Bewegungen. Beides könnte dazu geführt haben, daß die Lebenswelt von Habermas als ein rationales Element des kommunikativen Handelns beschrieben wird und er das Irrationale den systemischen Imperativen von Ökonomie und Bürokratie zuordnet.

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