„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 18. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Mit ‚Inter-Disziplinarität‘ ist eine bestimmte Beziehungsstruktur wissenschaftlicher ‚Disziplinen‘ gemeint, in der die Gleichrangigkeit der einzelnen Fächer bzw. Fachgebiete im Zentrum steht. Bei diesen Fächern bzw. Fachgebieten handelt es sich prinzipiell um den gesamten universitären Wissensbestand. Die Gleichrangigkeit der einzelnen ‚Disziplinen‘ ist in ihren Gegenständen begründet. Von lat. ‚discipere‘ kommend bedeutet es soviel wie ‚aufnehmen‘, also aufnehmen bzw. lernen von Wissen. Wissenschaftliche Disziplinen beinhalten ein bestimmtes Wissen bzw. sie wenden sich besonderen Gegenständen zu, was sie von anderen Disziplinen, die sich anderen Gegenständen zuwenden, unterscheidet.

Da es innerhalb des Wissensbestandes prinzipiell keine Rangordnung zwischen besonders wichtigem und eher unwichtigem Wissen gibt – auch nicht über das Kriterium seiner Anwendbarkeit –, sind alle Disziplinen einander gleichwertig. Fragen hinsichtlich des interdisziplinären Zusammenhangs unterschiedlichen disziplinären Wissens müssen also auf ‚Augenhöhe‘ geklärt werden.

Ein Problem hinsichtlich dieser prinzipiellen Gleichwertigkeit allen Wissens entsteht an der Nahtstelle zwischen den Fachgebieten, die schon Kant als „Streit der Fakultäten“ (1798) thematisiert hatte. Lange Zeit bestand der klassische Dualismus des Wissens im deutschsprachigen Raum vor allem in der Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften. Genau diesen Dualismus und seine methodische Entsprechung im Gegensatzpaar „Erklären vs. Verstehen“ bezeichnet Habermas aber nun überraschenderweise als „heute nicht mehr aktuell“. (Vgl.Bd.1: S.160)

Das ist vor allem deshalb überraschend, weil Habermas ansonsten ganz unbekümmert zwischen den Grundbegriffen „Natur und Kultur“ unterscheidet (Bd1: S.78) und diese Unterscheidung sogar zu einem Rationalitätskriterium bei der Bewertung der kulturellen Entwicklung von ‚primitiven‘ und fortgeschrittenen Gesellschaften stilisiert (vgl.Bd.1: S.81ff.). Wenn aber Natur und Kultur grundverschiedene Objektbereiche bilden, dürfte die Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften wohl doch nicht so veraltet sein, wie Habermas behauptet.

Wahrscheinlich aber hat Habermas nur etwas gegen den Begriff der Geisteswissenschaft, weil das Wort ‚Geist‘ auf das Bewußtsein verweist, und Verweise auf das Bewußtsein werden von dem Sozialwissenschaftler Habermas gerne als bloß „egologisch“ abqualifiziert. (Vgl.Bd.2: S.196) Letztlich hält er aber dennoch an der Entgegensetzung von natur- und kulturwissenschaftlichen Fachgebieten fest. Er nennt sie nur anders und spricht von einem Dualismus der „Natur- und Sozialwissenschaften“ (Bd.1: S.161), den er aber nun vor allem methodologisch begründet, ähnlich übrigens wie Tomasello, der zwischen Natur- und Geisteswissenschaften dahingehend differenziert, daß die einen vor allem im Labor stattfinden und experimentieren, während die anderen vor allem im ‚Feld‘ stattfinden und beobachten (vgl. meinen Post vom 24.05.2011).

Es steht also nicht die disziplinäre Differenz vom Gegenstand her im Vordergrund, also die Differenz zwischen natürlichen und kulturellen bzw. künstlichen Gegenständen, sondern die Frage der methodischen Vorgehensweise. Hier ist wiederum besonders interessant, daß Habermas zwischen ‚Intersubjektivität‘ und ‚Objektivität‘ unterscheidet. Der Naturwissenschaftler ist deshalb objektiv, weil er gerade nicht intersubjektiv vorgeht: „Beobachtungen macht jeder für sich allein ... Sinnverstehen ist hingegen eine solipsistisch undurchführbare, weil kommunikative Erfahrung.“ (Bd.1: S.164f.)

Das ist eine wirklich überraschende Wendung, die Habermasens Versuch, zwischen sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Methoden zu unterscheiden, hier nimmt. Denn eigentlich hat es sich unter Wissenschaftlern inzwischen eingebürgert, nicht mehr ‚naiv‘ von Objektivität zu sprechen, sondern an deren Stelle die Intersubjektivität der science community zu setzen. Forschungsergebnisse gelten nur dann als ‚objektiv‘, wenn sie intersubjektiv nachprüfbar sind. Ich selbst hatte mich in meinem Post vom 17.07.2012 auf Plessner bezogen, der „die Begriffe subjektiv und objektiv“ auf die „Sphäre“ des Geistes  nicht für „anwendbar“ hält. (Vgl. „Stufen des Organischen“, S.305) Inzwischen ist es schon ein Gemeinplatz, daß das nicht nur für die Geisteswissenschaften, sondern auch für die Naturwissenschaften gilt. ‚Intersubjektivität‘ transzendiert also die subjektive Perspektive einzelner Wissenschaftler und macht aus deren Forschungsergebnissen erst, zeitlich begrenzt, gültiges Wissen.

Habermas besteht aber darauf, daß Intersubjektivität vor allem ein Merkmal der sinnverstehenden Methoden der Sozialwissenschaftler ist. Sozialwissenschaftler können ihre Daten nicht einfach vorfinden und sammeln wie die Naturwissenschaftler. Um zu ihren ‚Daten‘ zu gelangen, müssen sie sie immer schon, im vorhinein, verstanden haben. Der Sozialwissenschaftler kann sich nicht auf Beobachtung beschränken, sondern muß teilnehmen: „Er muß, um kommunikative Erfahrungen zu machen, eine performative Einstellung einnehmen und am originalen Verständigungsvorgang, wie immer auch nur virtuell, teilnehmen.“ (Bd.1: S.168)

Während Naturwissenschaftler den Naturphänomenen gegenüber eine Außenperspektive einnehmen und sich davor hüten, eine subjektive Perspektive in sie hinein zu projizieren – es gibt keine Innen-Außen-Differenz bei Naturphänomenen –, müssen Sozialwissenschaftler „hermeneutisch“ an die „Binnenperspektive der Angehörigen sozialer Gruppen“ anschließen, um sich dann über diese Binnenperspektive methodisch erheben und Aussagen über sie machen zu können. (Vgl.Bd.2: S.305)

Wenn ich eingangs auf Habermasens Beurteilung der Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften als veraltet hingewiesen habe, die er dann aber in Form der methodologischen Differenz zwischen Natur- und Sozialwissenschaftler reproduziert, so muß ich ihm nun meinerseits vorwerfen, daß seine methodologische Differenzierung zwischen beobachtenden und hermeneutischen Methoden veraltet ist. Dabei geht es mir nicht nur darum, daß Naturwissenschaftler selbst auf Intersubjektivität rekurrieren, um die Objektivität ihrer Forschungsergebnisse sicherzustellen. Es ist auch ganz und gar nicht so, daß sie einfach in beobachtender Weise – jeder für sich selbst und solipsistisch – Daten sammeln. Ihre Beobachtungen sind vielmehr ebenfalls im vorhinein ‚situiert‘, zum einen durch die schulmäßige ‚Disziplinierung‘ der Forscher selbst – vom heutigen Sponsoring ganz zu schweigen –, zum anderen durch Hypothesen, mit deren Hilfe sich überhaupt erst einzelne Fakten aus dem Naturzusammenhang heraus isolieren lassen. Jede Beobachtung, jedes Experiment geht von solchen Hypothesen aus. Jede Forschung – ob nun natur- oder sozialwissenschaftlich – beginnt mit einem solchen Ausgangsverständnis, also mit einem Sinnverstehen.

Die unterschiedlichen Methoden reichen für eine Bestimmung von Objektbereichen und Fachgebieten nicht aus. Methoden sind vielmehr selbst wiederum gegenstandsabhängig. Es darf nicht so weit kommen, daß die Methoden den Gegenstand bestimmen, denn dann wäre alles Wissen nur noch Konstruktion, und so etwas wie eine Erkenntnisethik bliebe Illusion: gemacht werden darf, was gemacht werden kann. Deshalb wäre es auch ein Fehler, Inter-Disziplinarität mit Inter-Subjektivität gleichzusetzen. Zwar ist das Sinnverstehen der unhintergehbare Ausgangspunkt für alle Arten von Wissen. Aber es hat selbst wiederum seine Grenze am Gegenstand. Der Gegen-Stand beinhaltet immer einen Wider-Stand gegen alle verstehenden und konstruktivistischen Vereinnahmungen. Das Wissen um diese Grenze ist die Grundlage jeder Erkenntnisethik.

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