„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 19. Januar 2013

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 3/1985 & Bd.2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 3/1985

1. Individuell oder singulär?
2. Grundbegriffe und Grenzbegriffe
3. Gemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft
4. Systemisch Unbewußtes
5. Kolonialisierung der Lebenswelten
6. Interdisziplinarität in den Grenzen eines methodologischen Dualismus
7. Transzendenz als Ebenendifferenz
8. Rollen versus Masken
9. Entwicklungsdynamiken als Lernprozeß

Wenn sich der Sozialwissenschaftler vom Naturwissenschaftler darin unterscheidet, daß er die sozialen Prozesse, zu denen er Daten sammelt, immer schon verstanden haben muß, indem er sie in performativer Einstellung mitvollzieht (vgl. meinen gestrigen Post), dann stellt sich die Frage, inwiefern er überhaupt eine objektive Einstellung zu diesen sozialen Prozessen einnehmen kann. Habermas beantwortet diese Frage, indem er zwischen Sprechen und Handeln unterscheidet: „Bei der Beantwortung dieser Frage ist es nützlich, sich zu erinnern, daß Sprechen und Handeln nicht dasselbe sind. ... Er (der Sozialwissenschaftler – DZ) beteiligt sich am Prozeß der Verständigung um des Verstehens und nicht um eines Zweckes willen, für den das zielgerichtete Handeln des Interpreten mit dem zielgerichteten Handeln der unmittelbar Beteiligten koordiniert werden müßte. Das Handlungssystem, in dem sich der Sozialwissenschaftler als Aktor bewegt, liegt auf einer anderen Ebene ...“ (Bd.1: S.167)

Der Sozialwissenschaftler bewegt sich also auf einer anderen Ebene als die „unmittelbar Beteiligten“, mit denen er gleichwohl „virtuell“ interagiert, wenn er an ihren sozialen Ritualen „in performativer Einstellung“ teilnimmt. (Vgl.Bd.1: S.168) Wenn der Sozialwissenschaftler also seine ‚Beobachtungen‘ in Vereinen, auf Festveranstaltungen, im Berufsalltag der Menschen macht, indem er sie dort aufsucht, so nimmt er auch an deren Aktivitäten dort teil, verfolgt dabei aber seine eigenen wissenschaftlichen Zwecke. Wo die unmittelbar Betroffenen ihre Rituale und Rollen in vollem Engagement ausleben – wo sie handeln –, ‚spielt‘ der Sozialwissenschaftler diese Rollen nur; d.h. er spricht sie nur mit, ohne wirklich dazu zu gehören.

Das hat nun aber etwas mit Rekursivität zu tun, also mit jener „intentionalen Semantik“, die Habermas nur als einen „abgeleitete(n) Modus der Verständigung“ beschreibt (vgl.Bd.1: S.371), während sie bei Tomasello deren Möglichkeitsbedingung schlechthin bildet (vgl. meinen Post vom 13.01.2013). Wenn wir Rekursivität in Form eines Sphären- bzw. Schalenmodells darstellen (vgl.u.a. meine Posts vom 14.04.07.06. und vom 19.08.2012), so bilden ‚Sprechen‘ und ‚Handeln‘ zwei ganz besondere Schalenebenen: die eine Ebene transzendiert die andere und umgekehrt.

Mit dem Sprechen erheben wir uns über der Handlungsebene und gewinnen so einen Freiraum, in dem wir uns unserem Handeln gegenüber ‚verhalten‘ können. Wir können uns über die möglichen Folgen unseres Handelns Gedanken machen und uns dann für oder gegen das Handeln entscheiden. Aber auch das Handeln ‚transzendiert‘ das Sprechen: es zieht uns in die Wirklichkeit hinein, deren Komplexität wir niemals vollständig überschauen können, und wir sind gezwungen, die Folgen auf uns zu nehmen. Während also Sprechen ohne Handeln wirkungslos bleibt, so beinhaltet Handeln ohne Sprechen keine Freiheit.

Dabei gibt es noch den Sonderfall des performativen Sprechens, in dem wir Handlungen ineins mit dem Sprechen vollziehen. Dieses performative Sprechen ist meistens institutionalisiert, wenn etwa der Rektor einer Universität verkündet, daß das Semester beginnt, oder wenn sich zwei Menschen die Ehe versprechen.

Rekursivität bedeutet immer, daß wir unserem rekursiven Selbst- und Weltverhältnis eine neue Ebene hinzufügen, die uns einen neuen Freiraum des Denkens und Handelns eröffnet. Allerdings sind längst nicht alle diese ‚Schalen‘ bzw. ‚Ebenen‘ transzendent zueinander. Die Formel „Ich weiß, daß Du weißt, daß ich weiß ...“ läßt sich beliebig variieren und in einem unendlichen Regreß fortsetzen, ohne daß sich dabei auch neue Inhalte ergeben: „Ich weiß, daß ich weiß etc.“, bis irgendwann – oder auch nicht – vielleicht noch einmal das Wissen eines ‚Du‘ in diese Formel eingebaut wird. Oder völlig inhaltsleer: „Ich weiß, daß ich nichts weiß ...“. (Vgl. hierzu meine Posts vom 12. und vom 21.02.2012)

Die rekursive Generierung neuer Denkebenen bringt nur dann neue Freiräume des Denkens und Handelns, wenn sie neue Inhalte und Perspektiven einbringen bzw. eröffnen. Aber auch damit verhalten sie sich noch nicht transzendent zu den anderen Denkebenen. Transzendent verhalten sie sich nur zum Handeln selbst, so wie eben auch das Handeln zum Denken bzw. Sprechen transzendent ist. D.h. im Handeln gehen wir über das Bewußtsein hinaus, so wie wir im Denken uns über das Handeln erheben.

Eine weitere Transzendenz ergibt sich aus der intentionalen Struktur der Denkebenen. Alle unsere Gedanken werden von Gefühlen und Motiven begleitet. Erst diese Gefühle und Motive fügen die verschiedenen Ebenen des Sphärenmodells zusammen und beziehen sie aufeinander. In Tomasellos Kommunikationsmodell handelt es sich dabei vor allem um die Kommunikationsmotive des Helfens und Teilens. Sie richten die individuelle, monadisch auf sich bezogene Aufmerksamkeit auf die Intentionen Anderer wie Ich (Habermas spricht immer von „Ego“ und „Alter“) aus, so daß so etwas wie gemeinsame Aufmerksamkeit möglich wird. Deshalb muß es nun heißen: „Ich will, daß Du weißt, daß ich Dir etwas mitteilen möchte!“ (Vgl. meinen Post vom 25.04.2010)

Kleinkinder legen deutliche Anzeichen von Unzufriedenheit an den Tag, wenn Interaktionen mit ihren Bezugspersonen zwar zum gewünschten handlungsstrategischen Ziel führen, diese Bezugspersonen ihnen aber nicht zeigen, daß sie verstehen, daß das Kind mit ihnen kommunizieren möchte. Die Informationsweitergabe selbst ist im Vergleich zur Kommunikationswilligkeit sekundär. Da also erst der Wunsch zu kommunizieren die Interaktion zu einem gemeinsamen Handeln macht, bildet zwar die Information selbst eine Ebene für sich, aber nur der Wunsch transzendiert die an der Kommunikation beteiligten Ebenen und führt sie über ihre, mit Habermas gesprochen, ‚egologischen‘ Grenzen hinaus.

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