„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 16. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene

Von den lernbehindernden, ökonomische Interessen verbrämenden Pseudotheorien des lebenslangen Lernens und des Lernens des Lernens war hier schon die Rede gewesen. (Vgl. meinen Post vom 12.01.2012) Dabei hat die Formel vom „Lernen des Lernens“ eine lange Tradition, die bis zu Wilhelm von Humboldt zurückreicht. (Vgl.W.v. Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan (1809), in: Werke in fünf Bänden, Bd. IV, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, hrsg.v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 3/1982, S.168-195: 170) Humboldt hatte darunter ein spezifisches Universitätspropädeutikum verstanden: während die Grundschule auf die Schule vorbereiten sollte, indem sie die Grundlagen für das Lernen zur Verfügung stellt (lesen und schreiben, rechnen), sollte die Schule auf das Universitätsstudium vorbereiten, indem die Schüler dort das Lernen lernen, d.h. selbständiges Lernen, ohne Unterwerfung – wie Kant sagen würde – unter einen fremden Verstand.

Die Schule ist zu Ende, wenn der Lehrer überflüssig geworden ist. Der Student an der Universität hat dann keine Lehrer mehr. Er lernt und besucht seine Vorlesungen und Seminare in eigener Verantwortung. Es gibt keine Examina und keine Prüfungen, sondern nur die wechselseitige Prüfung des ‚Wissens‘ durch Professoren und Studenten im Gespräch. Im Sinne dieser Unabschließbarkeit ist das Studium für Humboldt dann tatsächlich auch eine Art des lebenslangen Lernens, bis entweder das Interesse erlischt oder finanzielle Engpässe den Berufseinstieg erzwingen.

Das ‚Lernen des Lernens‘ war also nicht als Berufspropädeutik gedacht und vor allem war es nicht gedacht als formale, von Inhalten abgelöste Kompetenz. Denn Humboldt ließ keinen Zweifel daran, daß sich das Lernen des Lernens einzig am Gegenstand ‚vollzieht‘ und daß es hier vor allem darauf ankommt, seinen Gegenstand vollständig zu ergründen. (Humboldt 3/1982, S.191) Mit ‚vollständig‘ meinte Humboldt, daß der Mensch ein Bedürfnis nach Vollständigkeit hat, so daß das Maß dieser Vollständigkeit eben auch in diesem Bedürfnis besteht.

Auf den Schulunterricht bezogen heißt das, daß eine Unterrichtsreihe solange ‚trägt‘, wie beim Schüler das Interesse daran reicht. Und dabei hatte Humboldt wiederum keine gelangweilten, auf Spaß getrimmten Schüler vor Augen, die man entsprechend motivieren muß: mit Interesse am Gegenstand ist eben nicht einfach Spaß am Lernen gemeint. Der Spaß ist hier weder ein Mittel noch das Ziel, sondern allenfalls ein Nebenprodukt. Hier macht das Wort selbst, als inter-esse, noch einmal auf den aporetischen Zusammenhang von Vollzug und Reflexion aufmerksam. Der Lernende befindet sich ‚zwischen‘ den Dingen, d.h. er ist von ihnen absorbiert, – was an die Inter-Faktizität bei Merleau-Pnty erinnert, weshalb beim Lernen des Lernens alles darauf ankommt, in der richtigen Weise zwischen ihnen zu sein. Für diese richtige Weise, zwischen den Dingen zu sein, hat Humboldt die Begriffe „Achtung“ und „Liebe“. (Vgl. W.v.Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, Werke in fünf Bänden. I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hrsg.v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 3/1980 1960, S.56-233: 78)

So viel zur Ehrenrettung der Formel vom Lernen des Lernens, einer Formel, die gemeinsam mit der Phrase vom lebenslangen Lernen am lautesten und eifrigsten von jenen Bildungspolitikern gepredigt wird, die von deren Herkunft von Humboldt her keine Ahnung haben oder einfach nur nicht wissen, wie sie einmal gedacht gewesen war. Das ist übrigens bei den meisten pädagogischen ‚Begriffen‘ im alltäglichen reformpädagogischen Sprachgebrauch der Fall.

Für die schlimmsten Verirrungen des Lernbegriffs ist aber nicht nur die Bildungsvergessenheit des aktuellen Zeitgeistes verantwortlich. Sie haben durchaus ebenfalls ihre geschichtliche Tradition und reichen nach Meyer-Drawe bis in das 17. und 18. Jahrhundert zurück: bis zur Aufklärungspädagogik und den Philanthropen (S.57, 84), wobei letztere oft als Vorläufer der Reformpädagogen vom 20. Jhdt. gelten. Hier geht Meyer-Drawe sogar soweit, diese Philanthropen in eine geschichtliche Reihe mit den Behavioristen zu stellen, auf die wir in diesem Blog ebenfalls schon öfter zu sprechen gekommen sind. (U.a. in meinem Post vom 15.05.2011) Die Parallele sieht Meyer-Drawe darin, daß die Aufklärungspädagogen aufgrund des Fortschrittsoptimismus und Rationalismus ihrer Zeit Pädagogik als eine Art Wartungs- und Reparaturveranstaltung am sich entwickelnden Menschen verstanden: „Maschinenähnliche Zurichtungen der gelehrigen Körper wurden durch Disziplinierungen während der Aufklärungszeit zur Normalität.“ (M.-D. 2008, S.84) Das wichtigste Hilfsmittel dieser mechanistischen Erziehungsvorstellung bestand in der „Dressur“ (M.-D. 2008, S.57) zur Selbstdressur: „ihr oberstes Ziel“ war die „Selbstbeherrschung zur Subjekt-Objekt-Differenzierung“ (vgl. M.-D. 2008, S.54).

Gegenstand der pädagogischen Maßnahmen war bei den Philanthropen deshalb weniger der innere Zustand bzw. das Denken ihrer ‚Zöglinge‘ als vielmehr ihr Verhalten, über das dieser innere Zustand ‚reguliert‘ werden sollte; und: „Im Gegensatz zu Kant setzten die Menschenfreunde als Praktiker kein allzu großes Vertrauen in den selbstständigen Gebrauch des Verstandes.“ (Vgl. M.-D. 2008, S.84)

Diese besondere Aufmerksamkeit auf die „Dressur“ und ihr „Maschinenglaube()“ machten die Philanthropen nun tatsächlich zu Vorläufern der Behavioristen, – und in dieser Reihe auch zu Vorläufern der Kybernetiker, Konstruktivisten und der Luhmannschen Systemtheorie (vgl. M.-D. 2008, S.33, 36, 161, 162ff., 176f., 188, 192). Die Behavioristen vervollständigten den Maschinenglauben, indem sie die gesamte Breite des menschlichen Bewußtseins schlicht zur Blackbox erklärten, also zu einer terra incognita, die, weil es nichts darüber zu wissen gibt, sich auch nicht zu erforschen lohnt. Heute spricht man dem wissenschaftspolitischen Zeitgeist entsprechend vom „selbstreferentielle(n), operativ geschlossene(n) System“ (vgl.M.-D. 2008, S.191). – Und: „Angeregt vor allem durch neurobiologische Forschungen, geht der so genannte Radikale Konstruktivismus davon aus, dass unspezifische Reize in den sensorischen Oberflächen unserer Sinnesorgane physikalische Ereignisse auslösen, die dann im Nervensystem verarbeitet werden. Kognition wird also zu einer Interpretation von internen und Umweltreizen. Erst das kognitive System mit Hauptsitz im Gehirn, erzeugt Information, kurz: Es konstruiert. Es reagiert auf sich selbst.“ (M.-D. 2008, S.162f.)

Diese wissenschaftspolitische, vor allem von Kybernetik, Konstruktivismus und Systemtheorie propagierte Einstellung wurde – insbesondere da sie ja auf gemeinsame Wurzeln in der Pädagogik selbst zurückgeführt werden konnte – immer schon gerne eins zu eins in die Pädagogik übernommen: „Ohne im Einzelnen danach zu fragen, wann der Gründungsakt der empirischen Lernforschung aus heutiger Sicht zu datieren ist, kann festgehalten werden, dass es stets um die Untersuchung assoziativer Verknüpfungen von räumlich bzw. zeitlich Nahem geht sowie darum, die unsichtbaren inneren Prozesse auszuklammern und nur das Mess- sowie Beobachtbare zu berücksichtigen.“ (M.-D. 2008, S.17)

Die aktuelle Hirnforschung treibt diesen Lernbegriffsirrweg auf die Spitze und kann dabei tatsächlich – wen wundert es angesichts der mit dieser Geschichte verbundenen Wehrlosigkeit des pädagogischen Mainstreams? – immer wieder auf reformpädagogische ‚Einsichten‘ und ‚Erkenntnisse‘ verweisen: „Selbst wenn man diese Reaktion (die Ablösung des Bildungsbegriffs durch Konzepte der Selbstorganisation und der Emergenz – DZ) auf reale Ohnmachtserfahrungen und die übereilte Übernahme externer Theorieangebote für eine bloße Ausnahme halten möchte, kommt man nicht umhin, die auffällige Attraktivität systemtheoretischen Denkens im Sinne von Luhmann für pädagogische Entwürfe feststellen und die Faszination didaktischer Konzeptionen von Theoriefragmenten des Radikalen Konstruktivismus bemerken zu müssen.“ (M.-D. 2008, S.164)

Dabei passen sich die erziehungswissenschaftlichen Begrifflichkeiten nicht nur dem ökonomischen Zeitgeist mit seinem entpädagogisierten, bildungsfremden Gebrauch pädagogischer und bildungsphilosophischer Grundbegriffe an, sondern sie wirken auch wieder als nun natur-wissenschaftlich geadelte Erkenntnisse der (Reform-)Pädagogik auf die Pädagogik zurück. Die Welt verändert sich in Richtung auf eine zunehmende Entmenschlichung der globalisierten Ökonomie in allen Bereichen des menschlichen Lebens: „Es handelt sich aber nicht nur um eine Demontage moderner pädagogischer Utopien und Hoffnungen auf Erkenntnis, sondern diesseits des wissenschaftlichen Rahmens ist unsere reale Lebenswelt bedroht. Konstruktivistische Konzepte spiegeln in dieser Hinsicht zentrale Merkmale unserer heutigen Zeit. Wir kennen kein Schicksal, sondern die Welt ist das, als was wir sie denken. In den Hintergrund tritt die unausweichliche Tatsache, dass wir jede Zerstörung unserer Welt auch uns selbst zufügen.“ (M.-D. 2008, S.164)

Diesem aktuellen Sachstandsbericht gibt es nichts hinzuzufügen.

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