„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 4. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen („Virtuelle Momente unserer faktischen Lebenswelt“)
  6. Lernbegriffsirrwege (Problemverkürzungen!)
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
In meinem letzten Post vom 09.12.2011 hatte ich abschließend das Problem angesprochen, bei der Diskussion eines Themas immer auf dem Stand der Literatur zu sein. Bei den wissenschaftlichen Fachzeitschriften gehört es zum Standard, zu Beginn jedes Beitrags immer erst diesen Stand der Literatur zu referieren, um dann den eigenen Ansatz davon absetzen zu können. Das hat einerseits seinen guten Sinn darin, daß ein gewisser Fortschritt in der Diskussion sichergestellt wird und nicht in jedem neuen Beitrag mit dem Thema praktisch wieder bei Null begonnen wird, – oder schlimmer noch: daß hinter einen schon erreichten Stand zurückgefallen wird. Zum anderen dient dieses Verfahren dazu, zu verhindern, daß sich Zitiergemeinschaften verfestigen, die keine anderen Veröffentlichungen mehr zur Kenntnis nehmen als diejenigen, in denen die jeweiligen Autoren selbst zitiert werden. Solche Zitiergemeinschaften haben inzwischen die Funktion von Denkschulen übernommen, so daß man sagen kann, daß hier das ‚Zitieren‘ an die Stelle des ‚Denkens‘ getreten ist.

Aber statt diesen begrüßenswerten Zielen zu dienen, bewirken die Standards der Fachzeitschriften vor allem eins: zu verhindern, daß überhaupt etwas Neues gedacht wird. Ich kann hier natürlich nur für die Erziehungswissenschaft sprechen. Was dieses Fachgebiet betrifft, haben dessen renommierte Fachzeitschriften ganz und gar nicht verhindern können, daß weit fortgeschrittene und subtile Diskussionszusammenhänge einfach abgebrochen und durch andere Diskussionszusammenhänge abgelöst wurden, die zwar durchaus neue Perspektiven in die Pädagogik einbrachten, dafür aber auch eine neue Blindheit für alles, was frühere Denk- und Forschungsrichtungen thematisiert hatten. Das war aber nicht so tragisch, weil sich jenseits dieser jeweils vorherrschenden Denk- und Forschungsrichtungen immer auch alternative Perspektiven hatten behaupten können, denn in der Erziehungswissenschaft war bis weit in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein die Dominanz der Fachzeitschriften nicht so groß gewesen, daß sich nicht auch andere Publikationsformen neben ihnen behaupten konnten.

Inzwischen aber geben die Fachzeitschriften nicht mehr nur die Standards vor, an denen sich alle anderen Publikationen orientieren müssen. Sie bilden darüberhinaus auch selbst den Standard, an dem die wissenschaftliche Bedeutung der Autoren gemessen wird. Bei Bewerbungen auf dem akademischen Stellenmarkt zählen nur noch die Veröffentlichungen in den anerkannten Fachverlagen. Kleinere Verlage oder auch im Selbstverlag herausgegebene Publikationen werden bei der Bewertung geringer veranschlagt oder fallen ganz unter den Tisch. – Was übrigens weniger etwas mit der Qualität dieser Texte zu tun hat, als vielmehr Ausdruck dafür ist, daß die Gutachter sich letztlich selbst nicht mehr in der Lage sehen, alles Geschriebene zur Kenntnis zu nehmen.

Im Verbund mit den an sich lobenswerten Standards der Fachzeitschriften führt die Monopolisierung der Fachzeitschriften als Standard nun dazu, was ich eingangs beklagt habe: zu verhindern oder zumindestens zu behindern, daß in der Erziehungswissenschaft etwas Neues oder auch nur am Mainstream vorbei gedacht wird. Meinen Blog betrachte ich deshalb auch als einen Stachel im Fleisch dieses universitären Fachbetriebs. Als Blogger bin ich an keine anderen Standards gebunden als an die, die mir das eigene Mundwerk vorgibt. Außerdem erreiche ich über dieses Medium mühelos Leser, die sich außerhalb der eingeschworenen Zitiergemeinschaften bewegen. Das hat etwas ungemein Befreiendes und Motivierendes.

Wie ich zu diesen Bemerkungen in eigener Sache komme?  In dem Buch, dem ich mich in den folgenden zehn Posts widmen werde, finde ich folgendes Eingeständnis: „... dass die Literatur, welche sich dem Thema Lernen gewidmet hat und widmet, kaum noch annähernd mit dem Anspruch auf Vollständigkeit zur Kenntnis genommen werden kann. Der Zufall ist hier unvermeidlicher Begleiter. Die Gefahr ist groß, daß sich Originalität und Entdeckerfreude dem Nichtwissen oder der Vergesslichkeit der Autorin verdankt.“ (M.-D. 2008, S.31f.) – Dem kann ich nur hinzufügen: Willkommen im Club!

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