„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Mit Merleau-Ponty beschreibt Meyer-Drawe die Ambivalenz leiblichen Zur-Welt-seins als „Dialektik“: „Indem wir leiblich existieren, sind wir weder nur Ausgedehntes noch nur Bewußtsein, weder nur Inneres noch nur Äußeres, weder nur Vergangenheit noch nur Zukünftiges, weder nur Individuelles noch nur Kollektives, weder nur notwendig noch nur kontingent, weder nur natürlich noch nur geschichtlich, weder nur objektiv-dinglich noch nur subjektiv-geistig, weder nur aktiv noch nur passiv.“ (Meyer-Drawe 1984, S.31) – Mit dieser „Dialektik“ – die erstaunlicherweise ein kleines Zugeständnis an die ansonsten geleugnete Differenz von Innen und Außen beinhaltet – kommt Meyer-Drawe dem von Plessner beschriebenen Phänomen der Doppelaspektivität nahe.

Allerdings beinhaltet Meyer-Drawes Begriff der Dialektik eine Spannung, die über eine bloße Ambivalenz hinausgeht und aus dieser Ambivalenz ein Existential macht: „Dabei ist Dialektik nicht ‚ein Verhältnis zwischen einander widersprechenden und doch voneinander unablöslichen Gedanken: sondern die Spannung der Existenz auf eine andere Existenz hin, die sie verneint, und ohne die sie doch sich selbst nicht aufrechtzuerhalten vermag‘ ... .“ (Meyer-Drawe 1984, S.18)

So stellen ‚Inneres‘ und ‚Äußeres‘ nicht mehr einen Hiatus zwischen zwei Perspektiven dar, die lediglich Richtungen von Bezugnahmen auf den Körperleib als Grenzbegriff anzeigen. (Vgl. meine Posts vom 21.10.2010 und vom 22.10.2010) Stattdessen sind in dieser Verhältnisbestimmung ‚Individuelles‘ und ‚Kollektives‘ unlösbar aneinander gebunden, so daß ein Herausfallen der Perspektive des Individuums aus der kollektivistischen Perspektive, der Lebenswelt, unmöglich wird: „Selbst in Grenzfällen unserer Existenz, wie etwa in der Krankheit, zerbrechen diese Spannungen nicht, sie gewinnen dadurch an Gewicht, daß sie einseitig in das Zentrum unseres Existierens geraten.“ (Meyer-Drawe 1984, S.31)

Während bei Nishitani das Niesen zur Erleuchtung führen kann und bei Plessner Lachen und Weinen uns als körperliche Reaktionen aus ausweglosen Situationen befreien können, führt bei Meyer-Drawe die Krankheit lediglich zu einer Verzerrung im „Zentrum unseres Existierens“. Um das Bild von der Ellipse mit ihren zwei Brennpunkten zu verwenden, das Meyer-Drawe auf die ungleiche Gewichtung von ego und tu bezieht (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.154): auch im Falle einer Krankheit können wir nur von einer deformiertem statt von einer regelmäßigen Ellipse sprechen, nicht aber von einem grundsätzlichen Zerfall der elliptischen Spannung selbst.

Auch sonst werden körperliche Störungen – obwohl Meyer-Drawe Krisen und Störungen immer wieder ausdrücklich als positive Faktoren der menschlichen Kommunikation kennzeichnet (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.23f., 161, 216, 226f.u.ö.) – eher negativ konnotiert und z.B. mit Gewalterfahrungen in Verbindung gebracht: „Unser Leib ist mit der Idee einer zunehmenden Perfektion nicht vereinbar, er altert, er ist der Krankheit zugänglich, er unterliegt der Gewalt, er deprivatisiert und depersonalisiert uns unaufhörlich, über ihn werden wir geknechtet und ausgebeutet.“ (Meyer-Drawe 1984, S.224)

Bei körperlichen Störungen haben wir es also mit dem krassen Gegensatz von Befreiungserfahrungen oder Erleuchtungen zu tun. Dabei gibt es aber durchaus Stellen, wo Meyer-Drawe die positive Bedeutung von „Krisen unserer Existenz“ hervorhebt, die uns die geschichtlichen und konkret-situativen Beschränkungen unseres Denkens bewußt machen und zugleich die Einsicht in die Unausweichlichkeit und sogar Vorausgesetztheit dieser Rahmung einsichtig machen. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.228) Als Beispiele für solche Krisen verweist Meyer-Drawe zwar nicht auf so simple körperliche Phänomene wie das Niesen, sondern auf den Zweiten Weltkrieg oder auf die zerstörerischen Konsequenzen des wissenschaftlichen Fortschritts; aber immerhin befreit Meyer-Drawe hier die individuelle Perspektive aus ihrer lebensweltlichen „Inhärenz“ und eröffnet damit die Chance zu so etwas wie einer zweiten Naivität. (Zur zweiten Naivität vgl. meine Posts vom 14.12.2010, 24.01.2011 und 25.03.2011)

Erst wenn wir auf jede ontologische ‚Tiefe‘ in der Verhältnisbestimmung individueller und sozialer Perspektiven verzichten, wird die Differenz der individuellen Perspektive zur Sozialität in ihrer eigenen Würde sichtbar. Dann stellt sie nicht nur eine Verzerrung einer regelmäßigen Ellipse aus Individualität und Sozialität dar, sondern gehört zu einem Handlungssubjekt, das seine Perspektive zu verantworten hat. Mehr nicht, – und auch nicht weniger.

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