„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 31. März 2011

Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a.M. 2008

1. Prolog: Welzer und Plessner im Vergleich
2. shifting baselines
3. Arbeitsteilung und Verantwortung
4. Totale Situationen und partikulare Rationalität
5. Zur Kontinuität gesellschaftlicher Entwicklung
6. Drei Handlungsalternativen

Als die derzeitige Bundeskanzlerin noch in der großen Koalition einen gewissen politischen Ehrgeiz an den Tag legte, der über den bloßen Machterhalt hinausging, machte sie den Klimaschutz zur Chefsache und wurde dafür mit dem Titel ‚Klimakanzlerin‘ belohnt. Der Klimaschutz war und ist in aller Munde, paradoxerweise ‚angesichts‘ eine Katastrophe, von der niemand etwas merkt, außer einigen Südseebewohnern, deren Inseln immer häufiger überspült werden. Ein anderes Katastrophenpotential, das wir hier im Lande tagtäglich vor Augen haben, ist dagegen so in unseren Alltag integriert, daß wir uns wider besseren Wissens von derselben Klimakanzlerin darüber belügen lassen mußten, daß wir darauf als ‚Brückentechnologie‘ – nämlich um das Klima zu schützen – auf keinen Fall verzichten können. Jeder weiß, wovon ich spreche: von den Atomkraftwerken.

Inwiefern die Kanzlerin hier bewußt gelogen hat – alle Anzeichen sprechen dafür, denn sie ist ja nicht blöd –, ist irrelevant. In der komplexen Gemengelage sozialer, technischer und natürlicher Katastrophen, als Potential oder als tatsächliches Ereignis, haben wir es hier vielmehr mit einem Lebensweltproblem zu tun: ‚wir‘ – die wir in dieser Welt leben – glauben und wollen zugleich glauben, daß alles ‚normal‘ ist, denn in einer durch und durch falschen Lebenswelt ließe es sich eben nicht leben, – jedenfalls nicht auf Dauer. Wenn also im Rahmen dieser Lebenswelt kognitive Dissonanzen auftreten und diese Lebenswelt deshalb schon längt zerstört ist, belügen wir lieber so lange wie möglich uns selbst, um an dieser Lebenswelt, die es längst nicht mehr gibt, festzuhalten. Und dabei kriegen wir gar nicht mehr mit, wie sich die wirtschaftlich und technisch scheinbar alternativlos ‚funktionierende‘ Lebenswelt schon längst verändert hat und immer weiter verändert, – an uns und unseren Entscheidungen vorbei, uns unsere Entscheidungen, die wir eigentlich selbst treffen müßten, aus der Hand nehmend.

So geschehen in Fukushima. Was dort an sozialen, technischen und natürlichen Katastrophen potenziert zusammengekommen ist, hat uns die eigene schuldhafte Verstrickung in den alltäglichen Betrugszusammenhang von Politik, Wirtschaft und persönlichem Konsum einmal mehr schlagartig vor Augen geführt. Und zumindestens in Deutschland reiben wir uns die Augen und staunen, wie schnell plötzlich alles geht. Nach jahrzehntelangen, generationenübergreifenden Kämpfen von Bürgerinitiativen ist der begründete Zweifel an der Beherrschbarkeit der Atomtechnologie plötzlich in der Mehrheitsgesellschaft angekommen, – nicht aufgrund eines rationalen Diskurses und politischer Entscheidungsfindung, sondern weil uns die Katastrophe selbst die Entscheidung aus der Hand gerissen hat.

Dabei fällt einem aber zugleich auf, wie einzigartig die ‚typisch‘ deutsche Reaktion auf Fukushima ist. Mir steht das Beispiel eines französischen Sportlers vor Augen, der mit seiner Familie in Deutschland lebt und der in einer Talkshow nicht so recht wußte, was er antworten sollte, als er gefragt wurde, wie man in Frankreich mit dem Thema ‚Atomkraft‘ umgeht und wie man dort auf Fukushima reagiert. Der freundliche, große, junge Mann mit schulterlangen lockigen Haaren, der zugab, daß in seiner Heimat ganz in der Nähe von seinem Dorf ein Atomkraftwerk stehe, hatte sich ganz offensichtlich nie mit der damit verbundenen Gefahr für ihn und seine dortige Familie auseinandergesetzt. Ganz allgemein wußte er durchaus davon, daß Atomkraftwerke irgendwie ‚gefährlich‘ sind, aber sie sind eben auch irgendwie notwendig, denn irgendwie gibt es ja keine Alternative zu ihnen und die Deutschen seien ja traditionell immer schon etwas ängstlich.

Diese mentale Unfähigkeit, sich ernsthaft mit einem aktuellen Thema wie Fukushima auseinanderzusetzen, ist ein weiteres Beispiel für Blumenbergs These von der Unzerstörbarkeit der Lebenswelt. Und es ist ein Beispiel für shifting baselines! Denn dieser junge Franzose ist wie so viele andere Franzosen in einem Land voller Atomkraftwerke aufgewachsen und hat nie etwas anderes gekannt, weshalb er sie ja auch für ‚alternativlos‘ hält. Es gibt in seinem Gedächtnis keine Welt, in der es noch keine Atomkraftwerke gegeben hat, also hat es sie schon immer gegeben und also sind sie alternativlos, denn sonst gäbe es ja Alternativen, aber die gibt es ja nicht, weil es eben noch nie keine Atomkraftwerke gegeben hat: „... Untersuchungen zeigen, dass Menschen desto weniger Unsicherheitsgefühle artikulieren, je näher sie an einem Atomkraftwerk leben.() Je unabweisbarer eine Gefährdung ist, desto größer ist das Maß an Dissonanz und desto notwendiger ihre Reduktion durch Indolenz, Verdrängung oder Abwehr. Man kann mit Gefahren, die man nicht kontrollieren kann, sonst nicht gut leben.“ (Vgl. Welzer 2008, S.209) – Und weiter: „Die Kehrseite dieser Trägheit gegenüber Veränderungsprozessen und der Unfähigkeit, ihre Dimension einzuschätzen, ist das Phänomen der shifting baselines: Wahrnehmungen und ihre Interpretationen verschieben sich unmerklich zusammen mit einer sich verändernden Wirklichkeit.“ (Welzer 2008, S.210)

Shifting baselines beinhalten also zwei Aspekte: a) die wahrgenommene Statik des Bestehenden, also ihre scheinbare Alternativlosigkeit, und b) die aufgrund dieser vordergründigen Wahrnehmungsgewohnheiten hinter unserem Rücken tatsächlich stattfindenden Veränderungen, mit denen wir uns in unserem Habitus unbemerkt mitverändern, so daß bei tatsächlicher Veränderungsdynamik dennoch der Eindruck der Statik, der Veränderungslosigkeit dominiert. Assmann hat das als ein spezifisches Phänomen mündlicher Kulturen beschrieben, die sich ihrer eigenen ‚Gestalt‘ nicht bewußt sind und sich deshalb auch der Veränderungen nicht bewußt sind, die diese Gestalt im Laufe der Zeit erfährt.

Dieses spezifische Kennzeichen mündlicher Kulturen – und der Lebenswelt, in der wir ‚immer schon‘ leben – beinhaltet aber zugleich, daß es in schriftlichen Kulturen anders ist: in schriftlichen Kulturen wird ganz im Gegenteil der lebensweltliche Horizont aufgebrochen und der gesellschaftliche Ehrgeiz nach Innovation und nach Entwicklung geweckt. Diese soziale Dynamik ist so stark, daß es sogar eigener Kanonisierungsverfahren bedarf, um sie unter Kontrolle zu halten. Es werden bestimmte Texte für ‚heilig‘ erklärt und so zum Maßstab dafür gemacht, was in einer Gesellschaft geht und was nicht.

Welzer, der in seinem Buch „Das kommunikative Gedächtnis“ auf Assmanns Gedächtniskonzept zurückgreift, unterschlägt diese Differenz, – sowohl dort wie hier. Hat das aber in „Das kommunikative Gedächtnis“ die Folge, daß er dort die kulturelle Dynamik zu optimistisch interpretiert, so hat das nun hier, in „Klimakriege“, die Folge, daß er das Beharrungsvermögen kultureller Prägungen zu pessimistisch interpretiert. Als Beispiel dient ihm die Osterinsel: „... wenn es je eines schlagenden Beispiels bedürft hätte, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt (besonders dann, wenn er keines hat()), dann liefern es die Bewohner der Osterinsel. Hier sieht man die Verselbständigung einer kulturellen Praxis, die auch um die Gefahr der Selbstaufgabe nicht aufgegeben wird.“ (Welzer 2008, S.82)

Auf der Osterinsel haben die Bewohner die Wälder so gründlich abgeholzt und vernutzt, daß sie ihnen keine Lebensgrundlage mehr bot. Eine jahrhundertalte Kultur samt Bevölkerung verschwand aus dieser Welt. Welzer schreibt, daß die „kulturellen Wahrnehmungsformate“ der Bewohner der Osterinsel den Blick auf Alternativen verstellt haben, so daß die „Beteiligten buchstäblich nicht sehen“ konnten, was sie stattdessen hätten tun können. (Vgl. Welzer 2008, S.83)

Hinter dem Rücken der Osterinselbewohner waren die Wälder durch beständige, jahrhundertelange Abholzung so allmählich von der Oberfläche verschwunden, daß diese Veränderungen den einzelnen Generationen nicht bewußt werden konnten. In einer ähnlichen Situation befinden wir uns mit dem Klimawandel: „Ursache und Wirkung sind im Klimawandel auseinandergerissen – diejenigen, die die Folgen verursacht und diejenigen, die sie zu bewältigen haben, sind keine Zeitgenossen. Die Probleme bei den Versuchen, noch irgendetwas an seiner Entwicklung zu steuern, gehen unter anderem auf diese eingebaute Verantwortungslosigkeit zurück. Das zeitliche, regionale und biografische Missverhältnis zwischen Verursachung und Wirkung steht der Zurechnung von Verantwortung ebenso im Wege wie der Zuschreibung von Pflichten, die aus der Abwendung der möglichen Katastrophe entstehen.“ (Welzer 2008, S.202)

Zu den shifting baselines gehört der Begriff des „Referenzrahmens“, wie ihn Welzer in Anlehnung an Erving Goffman prägt. Auch hier haben wir es wieder mit dem Lebensweltthema zu tun. Wir nehmen nie die Dinge wahr, wie sie sind, also objektiv, sondern wir ordnen sie immer ein. Und den Rahmen, in den wir sie einordnen, bezeichnet Welzer als Referenzrahmen. Der Referenzrahmen bestimmt, wie die Betroffenen auf eine Situation reagieren: „Menschen treffen ihre Entscheidungen vor dem Hintergrund komplexer Annahmen, von denen nur der geringere Teil die Ebene der bewussten Reflexion erreicht ...“ (Vgl. Welzer 2008, S.64) – Insofern aber „nur der geringere Teil die Ebene der bewussten Reflexion erreicht“, haben wir es eben genau mit der Lebenswelt zu tun.

In bezug auf die shifting baselines spricht Welzer auch von „fließende(n) Referenzlinien“, mit deren Hilfe „man sich beständig in Übereinstimmung mit der Umgebung hält“. (Vgl. Welzer 2008, S.76f.) Diese fließenden Referenzlinien erinnern an Assmanns „vertikale Verankerung“ (Kulturelles Gedächtnis, S.199f.), zu denen uns die Orientierung am Mythos verhilft. Es ist dasselbe Prinzip, mit dem wir uns nicht nur in „Übereinstimmung mit der Umgebung“, sondern auch mit uns selbst ‚halten‘.

Welzer bringt nun den Referenzrahmen in Verbindung mit der ‚Kultur‘, und zwar bezeichnender Weise mit der ‚Kultur‘ von Selbstmordattentätern: „Die Kultur der menschlichen Bomben ist in einen Referenzrahmen eingebettet, in dem der Status der Familien der Attentäter sich ebenso erhöht wie ihr materieller Wohlstand.“ (Welzer 2008, S.164) – Negativer läßt sich der Kulturbegriff nicht mehr konnotieren. Anstatt daß Kultur in all ihrer Ambivalenz zur individuellen Menschwerdung beiträgt, wird sie nun ganz im Gegenteil zu einem Mittel der Selbstauslöschung.

Die Begriffe, mit denen wir es hier im Rahmen der Lebensweltthematik zu tun haben – „shifting baselines“, „Referenzrahmen“ und, wie wir in den folgenden Posts noch sehen werden, „totale Situationen“, „partikulare Rationalitäten“ –, sind allesamt in einem gewissen Sinne ‚defizitär‘. Sie beschreiben Verhängniszusammenhänge menschlichen Handelns, – man könnte auch von Schuldzusammenhängen sprechen. Diese Verhängnis- bzw. Schuldzusammenhänge sind allesamt gesellschaftlich, und sie bestimmen bzw. orientieren die individuelle Identität. Was sie nicht beschreiben, ist, in welcher Weise sich die Individuen zu diesen Verhängnis- und Schuldzusammenhängen stellen, d.h. nicht einfach nur reagieren, sondern agieren. Auch darauf wird in den folgenden Posts noch einzugehen sein.

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