„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 5. März 2011

Stanislas Dehaene, Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, München 2010 (2009)

  1. Beschreibungssubjekt und Handlungssubjekt in der Gehirnforschung
  2. Zur Interdisziplinarität der Gehirnforschung
  3. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Bewußtsein und Verhalten
  4. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Konkurrenz versus Wechselseitigkeit
  5. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Gestaltwahrnehmung
  6. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Protobuchstaben
  7. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Schulunterricht
Im letzten Post habe ich Damasios Programm zur Erforschung des menschlichen Bewußtseins unter dem Stichwort der „Triangulation“ aus „Geist, Verhalten und Gehirn“ erwähnt. (Vgl. Antonio R. Damasio, Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 8/2009, S.25) Mit dem in diesem Forschungsdreieck aufgeführten „Verhalten“ ist nicht einfach irgendein behavioristisches Konditionierungsphänomen gemeint, sondern die ganze Fülle beobachtbarer Lebensäußerungen: „Menschliches Verhalten in der Fülle seiner Möglichkeiten läßt sich nicht unter einem Teilaspekt begreifen.“ (Plessner: Stufen, S.XVIII) Und noch einmal Plessner: „Nur das Verhalten erklärt den Körper, nur die dem Menschen nach seiner Auffassung und Zielsetzung vorbehaltenen Arten des Verhaltens, Sprechen, Handeln, Gestalten, Lachen und Weinen, machen den menschlichen Körper verständlich, vervollständigen seine Anatomie.“ (Plessner: Lachen/Weinen, S.11)

Damit haben wir es geradezu mit einer Umkehrung der neurophysiologischen Blickrichtung zu tun: nicht von den Neuronen her wird auf das Verhalten geschlossen, sondern vom Verhalten aus wird erst die neurophysiologische Funktionalität verständlich. Ich spreche hier mit Bedacht von neurophysiologischer Funktionalität, weil ich damit deutlich machen will, daß wir es beim Gehirn nicht mit einem Sinn aus sich selbst, mit einem Selbstzweck zu tun haben, sondern mit einem Werkzeug, so wie unsere Hände Werkzeuge der Manipulation und unsere Füße Werkzeuge der Fortbewegung sind. Ich habe mit gutem Grund in meinem Post vom 19.02.11 Assmanns Differenzierungen zum Schriftgebrauch diskutiert: ich wollte ganz bewußt damit überleiten zu Dehaenes These, daß das Gehirn mit seiner begrenzten Plastizität Möglichkeiten und Grenzen sowohl der kulturellen Entwicklung wie auch der individuellen Lernfähigkeit bestimmt. (Vgl. Dehaene 2010, S.132, 164f., 195ff., 202, 241f., 245, 247, 249, 352) Ich halte dem entgegen, daß es sich bei der neurophysiologischen Funktionalität unseres Gehirns um dieselbe Problematik handelt wie bei der kulturellen Funktionalität verschiedener Schriftformen: nicht deren Funktionalität legt fest, welchen Nutzen verschiedene Kulturen aus ihren Schriften ziehen, sondern es kommt auf den Gebrauch selbst an, d.h. auf die Art und Weise wie eine Kultur ihre Schrift verwendet.

So lautet jedenfalls Assmanns These, und so sehe ich es auch, was die begrenzte Plastizität des Gehirns betrifft. Interessanterweise bezeichnet Dehaene selbst seine eigene These als „sehr spekulativ“ (vgl. Dehaene 2010, S.240), und er führt eine ganze Reihe von Gegenargumenten und Gegenbeispielen an, die seiner These widersprechen. In der Tat ist diese Reihe so umfangreich und beeindruckend, daß man eigentlich gar nicht anders kann, als zur gegenteiligen Ansicht zu kommen: daß nämlich die neurophysiologische Funktionalität des Gehirns eine enorme, für uns überhaupt noch nicht absehbare Plastizität beinhaltet, die für jede denkbare und auch nicht denkbare Art kultureller Entwicklung offen ist. Wenn es also darum geht, gegen den kulturellen Relativismus so etwas wie Grenzen der menschlichen Natur geltend zu machen (vgl. Dehaene 2010, S.197), dann muß man diese Grenzen woanders suchen und den Blick auf die gesamtmenschliche Anatomie richten, auf das Gehirn und den Körper, und – wie Plessner – aus einer entsprechenden Verhältnisbestimmung des Körperleibs heraus unveränderliche Merkmale der menschlichen Natur zu bestimmen versuchen.

Doch hier soll es um Dehaenes These gehen und um die Gegenargumente, die er selbst anführt. Dehaenes These beruht auf dem Konzept des „neuronalen Recycling“. (Vgl. Dehaene 2010, S.16, 90, 99, 105f., 162-165, 167, 195ff. u.ö.) Er greift dabei auf eine schon ältere Beobachtung zurück, nach der die Evolution nicht nur nach dem Prinzip der Adaption an die Umweltbedingungen funktioniert, sondern auch auf die Möglichkeit zurückgreift, schon vorhandene Anpassungen umzufunktionieren, also auf „Exaption“. (Vgl. Dehaene 2010, S.164) Das ist z.B. bei unseren Gehörknochen geschehen, die früher einmal Kiemen gewesen sind. Auch das Gehirn ist bekanntlich aus verschiedenen, zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Teilen zusammengesetzt, die wahrscheinlich ähnlich entsprechend den verschiedenen Überlebensnotwendigkeiten in der Evolution des Menschen immer wieder exaptiert, also umfunktioniert wurden.

Nun kann Dehaene am Lesenlernen zeigen, daß eine kulturelle Fähigkeit, die gerademal erst 5000 Jahre alt ist, perfekt mit der neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns harmoniert. Da stellt sich natürlich die Frage, wie das möglich ist, denn für eine Anpassung im Rahmen einer biologischen Evolution ist die Zeitspanne von 5000 Jahren entschieden zu kurz. (Vgl. Dehaene 2010, S.12, 14, 17, 133, 194f.u.ö.) Dehaene zufolge greifen wir beim Lesenlernen auf bestimmte Schaltkreise im linken unteren Schläfenbereich zurück, die ursprünglich an die Wahrnehmung von Gegenständen angepaßt waren, nun aber für das ‚Wahrnehmen‘ von Buchstaben, also für das Lesen ‚umfunktioniert‘, also neurologisch recycelt werden können.

Dehaene zufolge sucht sich die neue, erst vor 5000 Jahren entstandene kulturelle Fähigkeit des Lesens jedesmal, wenn wir Lesen lernen, genau jene Schaltkreise im Gehirn, die sich am besten dafür eignen, in den Dienst dieser kulturellen Fähigkeit gestellt zu werden, – also für das Lesen funktional sind. Dabei bezeichnet Dehaene es als einen „glücklichen Zufall“, „dass wir über ein zerebrales Netzwerk verfügen, das die Sehareale mit den Spracharealen verbindet, und das so flexibel ist, dass es sich zur Erkennung von Buchstaben umwandeln kann.“ (Dehaene 2010, S.195) – Dieses besondere zerebrale Netzwerk ist weltweit bei allen Menschen, egal mit welcher Schriftart sie lesen lernen, dasselbe. (Vgl. (Dehaene 2010, S.87f.)

Aber so groß kann dieser Zufall eigentlich nicht sein, denn, wie Dehaene bei dem Phänomen der Legasthenie hervorhebt, können auch andere Schaltkreise die Funktion übernehmen, die kulturelle Fähigkeit des Lesens zu unterstützen. Legastheniker können nämlich ihr Handicap beim Lesenlernen durch entsprechendes Training ausgleichen, was nichts anderes heißt, als daß andere Hirnregionen an die Stelle der ansonsten bevorzugten Hirnregion treten können: „Alles verläuft so, als seien die verschiedenen Bereiche der Hirnrinde aufgrund ihrer inneren Festlegungen in einer Art Warteliste aufgereiht. Wenn die erste, eigentlich optimale Region im Lernprozess nicht verfügbar ist, kommt die zweite Region – und das scheint der symmetrische Bereich der rechten Hirnhälfte zu sein – ins Spiel. Besser lässt sich nicht illustrieren, dass das Lesen nicht über ein vorher definiertes Gehirnmodul verfügt: Es nutzt alle Möglichkeiten und wandelt einen Teil der aus unserer Evolution geerbten neuronalen Hierarchie für einen anderen Zweck um.“ (Dehaene 2010, S.191)

Die Grammatik des letzten Satzes ist aufschlußreich: „Es“, schreibt Dehaene, „nutzt alle Möglichkeiten“ – und das „Es“, mit dem wir es hier zu tun haben, ist nicht das Gehirn, sondern das Lesen! Wir befinden uns hier also auf der Verhaltensebene: Es ist unser Verhalten, das über die neurophysiologische Funktionalität des Gehirns bestimmt.

Was soll man also von einem angeblich so glücklichen Zufall halten, wenn allein durch den Gebrauch, den wir von unserem Gehirn machen, jederzeit andere Schaltkreise an die Stelle jener Schaltkreise treten können, die angeblich die individuelle Lernfähigkeit des Menschen so sehr begrenzen? Daß diese anderen Schaltkreise nicht so vorteilhaft für das Lesenlernen sind, reicht nicht aus, um Dehaenes These von der beschränkten Plastizität so stark zu machen, daß sie sich auf die kulturellen Fähigkeiten der Menschen auswirkt. Eine solche These ist ungefähr so sinnvoll wie die Behauptung, daß unsere Freiheit zu handeln eingeschränkt sei, weil wir nur zwei Hände haben. Obwohl unsere Hände keine Flügel sind, haben sich die Menschen nicht davon abhalten lassen, das Fliegen zu lernen.

Wir haben es beim Lesen mit einem komplexen Verhalten zu tun, dem eine komplexe Funktionalität auf der Ebene des Gehirns entspricht. Nicht umsonst gibt es so etwas wie eine „Warteliste“: die verschiedenen Gehirnregionen stehen miteinander in Wechselwirkung, und die komplexen Funktionen (unbewußt) und Aktivitäten (bewußt), die nötig sind, um einen Text zu lesen und zu verstehen, müssen miteinander koordiniert werden. Dieses komplexe Ineinander unbewußter Funktionen und bewußter Aktivitäten wird auf den verschiedenen Ebenen einer Hierarchie von „Konvergenzzonen“ versammelt und organisiert (vgl. Dehaene 2010, S.99, 123f., 140, 180, 370): „Sie (bestimmte Bereiche der Stirn- und Schläfenregionen – DZ) fungieren als ‚Konvergenzzonen‘ ..., die Signale mit sehr vielen Regionen der assoziativen Hirnrinde austauschen. Dabei würden sie verstreute Sinnfragmente einsammeln und in Bündeln zusammenfassen ....“ – Den Begriff der Konvergenzzone hat Dehaene von Damasio übernommen.

Man könnte sich das Bewußtsein auch als eine linsenförmige Oberfläche vorstellen, die die von außen eintreffenden Informationen sammelt und bündelt. Dehaene spricht in diesem Zusammenhang von einem „bewussten Arbeitsspeicher“, den er im Frontallappen verortet. (Vgl. Dehaene 2010, S.359) Mit diesem Arbeitsspeicher versucht Dehaene zu erklären, wieso nur der Mensch nicht nur eine Kultur, sondern sogar eine Innovationskultur, also eine sich ständig weiterentwickelnde und neue kulturelle Objekte hervorbringende Kultur hat: „Warum aber ist die Spezies Mensch die einzige, die eine Kultur erfindet und so neue Verwendungsmöglichkeiten für ihre Hirnschaltkreise schafft? Ich schlage als Hypothese vor, dass das menschliche Gehirn über einen neuen ‚bewussten Arbeitsspeicher‘ verfügt, ein weit gespanntes System kortikaler Verbindungen. Es bricht die modularen Grenzen der Hirnareale auf und ermöglicht eine flexible Rekombination vorhandener Schaltkreise, aus denen neue mentale Werkzeuge hervorgehen.“ (Dehaene 2010, S.349)

Damit setzt sich Dehaene kritisch von Michael Tomasello ab, der die spezifisch menschliche Kulturalität nicht an der neurophysiologischen Funktionalität festmacht, sondern an der individuellen „Motivation“, wie Dehaene schreibt. (Vgl. Dehaene 2010, S.368) In unserem Sinne könnte man hier an die Stelle der „Motivation“ auch einfach das „Verhalten“ setzen, denn es geht vor allem darum, daß auch Tomasello die Kultur (bzw. individuelle und kulturelle Fähigkeiten) nicht vom Gehirn her erklärt, sondern von ihrem Verwendungszusammenhang her.

Dehaene wendet dagegen ein, daß Tomasellos These „nur zur Hälfte“ erklären könne, „wie es zu dieser außerordentlichen Entwicklung der kulturellen Sphäre beim Menschen kommen konnte. Zwar liefert sie Gründe für deren rasche Expansion, ihre von einem lokalen Ursprung ausgehende, fast epidemische Ausbreitung und den stabilen, wenn nicht irreversiblen Charakter unserer besten kulturellen Errungenschaften ... Über den zündenden Funken, der zur Erfindung führt, sagt die Hypothese aber nichts.“ (Dehaene 2010, S.368f.)

Natürlich leistet auch die neurophysiologische Funktionalität, auf die sich Dehaene hier so sehr fixiert, ihren unverzichtbaren, aber eben nur funktionalen Beitrag zur kulturellen Entwicklung. Aber letztlich ist Dehaene damit von einer Lösung der von ihm selbst aufgeworfenen Frage weiter entfernt als Tomasello. Tomasello bewegt sich mit seiner Differenzierung zwischen individuellem und kulturellem Lernen noch auf der Ebene der Ontogenese. Wenn er die kulturelle Entwicklung mit dem „Wagenhebereffekt“ beschreibt, so führt er diesen vor allem auf die Identifikation des Kindes mit der Intentionalität seiner Eltern und Lehrer zurück. Damit hat er tatsächlich erst die Hälfte der kulturellen Entwicklung erklärt, wie Dehaene zurecht, aber mit den falschen Argumenten kritisiert.

Was Tomasello nicht berücksichtigt, finden wir bei Assmann: nach den langen Jahrzehntausenden der Mündlichkeit, in denen die Menschheit sich praktisch gar nicht entwickelt hat (aber durchaus schon über die von Tomasello beschriebenen Mechanismen individuellen und kulturellen Lernens verfügte), beginnt die eigentliche kulturelle Explosion erst mit der Erfindung der Schrift. Erst jetzt entsteht so etwas wie ein objektives Gedächtnis, das die Menschen dazu befähigt, bewußt Innovationen und Originalität im Denken anzustreben. Das hat aber nun gar nichts mit den biologisch evolvierten Schaltkreisen unseres Gehirns zu tun. Zwar: das Lesen greift selbstverständlich auf die neurophysiologische Funktionalität unseres Gehirns zurück. Aber erst die Fähigkeit, das Denken resultieren zu lassen und diese Resultate objektiv zu sammeln und zu speichern, sozusagen neue externe Konvergenzzonen, also Bibliotheken zu schaffen, erst diese Fähigkeit führt zur eigentlichen kulturellen Explosion!

Ohne Bücher und ohne Bibliotheken wird das, was wir heute denken, schon morgen wieder vergessen sein, – von uns selbst, die wir es gedacht haben! Wie groß unser persönliches Gedächtnis ist, wie schwer es fällt, einmal Gedachtes festzuhalten, das mag jeder für sich selbst klären. Mir jedenfalls fällt es schon schwer, mich noch am selben Tag im Detail an etwas zu erinnern, mit dem ich mich gedanklich nur wenige Stunden vorher intensiv auseinandergesetzt hatte. Ohne entsprechende Mnemotechniken, ohne Versmaße und Reime, leben wir wie Träumer in den Tag hinein, von Traum zu Traum stolpernd, immer nur des gerade Geträumten gewahr und ohne Erinnerung an Früheres.

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