„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 1. Juli 2018

Adam Alter, Unwiderstehlich. Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit, Berlin 2018

1. Zusammenfassung
2. Grundbedürfnisse
3. Köder
4. Suchtanthropologie
5. Digitalisierung
6. Intentionalitätsfehlschluß

„Unwiderstehlich“ (2017/2018) von Adam Alter ist ein Buch über die Natur des Menschen, obwohl es darin nicht um dessen Potentiale geht, sondern um dessen Defizite und Schwächen: um Sucht. Denn beides, Potential und Defizit, hängt eng zusammen. Das eine begrenzt sich am anderen, und die menschliche Kontur tritt deutlich hervor. Der Rezensent gesteht, daß er ein solch kritisches Buch von einem Marketingprofessor nicht erwartet hätte, und verleiht ihm das Gütesiegel ‚unbedingt lesenswert‘.

Gleich zu Beginn möchte ich ein ausführliches Zitat bringen, mit dem auch Adam Alter sein Buch einleitet, unter dem Motto: „Never get high on your own supply!“, das sich an die Dealer des Internetbusiness richtet, und das allen voran auch von Steve Jobs beherzigt wird:
„Ende 2010 erzählte Jobs dem New York Times-Journalisten Nick Bilton, dass seine Kinder das iPad noch nie benutzt hätten. ‚Zuhause beschränken wir den Technikkonsum unserer Kinder auf ein Minimum.‘ Bilton fand heraus, dass auch andere Helden der Hightech-Branche ihre Kinder vor den eigenen Erfindungen schützten. Chris Andersen, vormals Herausgeber des Technologie-Magazins Wired, führte für alle technischen Geräte im Haushalt strenge Restriktionen ein, ‚schließlich haben wir mit eigenen Augen gesehen, welche Gefahr von den neuen Technologien ausgeht‘. Seine fünf Kinder durften in ihren Zimmern keine Geräte mit Bildschirm benutzen. Evan Williams, einer der Gründer von Blogger, Twitter sowie der Online-Publisihing-Plattform Medium, kaufte seinen beiden Söhnen Hunderte von Büchern, er weigerte sich jedoch, ihnen ein iPad zu schenken. Und Lesley Gold, Gründerin einer Web-Controlling-Firma, führte für ihre Kinder ein strenges Bildschirmverbot an Werktagen ein. Erst als die Kinder in der Schule Computer brauchten, lockerte sie die Regel. Walter Jackson, der während der Recherchen zu seiner Steve-Jobs-Biografie oft mit Jobs’ Familie zu Abend aß, verriet Bilton: ‚Ich habe die Kinder nie mit einem iPad oder einem Computer gesehen. Sie wirkten von technischen Geräten jeder Art ganz und gar unbeeindruckt.‘ Es schien so, als würden die Menschen, die Hightech-Produkte herstellen, die Grundregel aller Drogendealer beherzigen: Never get high on your own supply (so Michelle Pfeiffer in Scarface – Nimm nie selbst die Drogen, die du verkaufst).“ (Alter 2018, S.9f.)
Adam Alter geht gründlich vor und befaßt sich nicht einfach mit den verschiedenen Internetsüchten – denn ‚Internetsucht‘ ist eigentlich nur ein Sammelbegriff für viele verschiedene Suchtphänomene –, sondern er versucht sich an einer umfassenden Definition. Da alles Leben auf grundlegenden Stoffwechselprozessen beruht und von diesem biologischen Grundmerkmal auch die verschiedenen Süchte nicht ausgenommen sind, reicht es nicht, zwischen legalem und illegalem Drogenkonsum zu unterscheiden. Von ‚Sucht‘ im eigentlichen Sinne kann man nur sprechen, wenn die ‚Droge‘ die körperliche und psychische Gesundheit des Konsumenten schädigt. (Vgl. Alter 2018, S.28) Dabei differenziert Alter zwischen Substanzsüchten und Verhaltenssüchten, wobei die Internetsucht vor allem zur letzteren Kategorie zählt:
„Substanz- und Verhaltenssüchte ähneln sich in vielerlei Hinsicht. Sie aktivieren dieselben Gehirnregionen und werden von einigen derselben menschlichen Grundbedürfnisse befeuert.“ (Alter 2018, S.16)
Zu den Schäden, die das unterschiedliche Suchtverhalten im Spektrum der Internetsucht und der mit ihr zusammenhängenden Technologien bewirkt – der Autor spricht u.a. von E-Mail-Sucht, Handy- bzw. Smartphonesucht, Fitneßsucht, Facebooksucht, Instagramsucht, VR- bzw. Oculus Rift-Sucht, Netflixsucht (Sucht nach Fernsehserien), Spielesucht  (wie z.B. die Sucht nach World of Warcraft und FarmVille), Online-Shoppen-Sucht etc. –, gehören u.a. Entwicklungsstörungen bei Kindern im Empathiebereich, im  Bereich des sozialen Verhaltens, und kognitive Störungen. Außerdem bewirken die verschiedenen digitalen Suchtformen nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen Aufmerksamkeitsdefizite (Konzentrationsschwierigkeiten) und Schlafstörungen, wobei wiederum die Schlafstörungen zu weiteren gesundheitlichen Defiziten führen:
„Es gibt ein Übel unserer Zeit, das zwei Drittel aller Erwachsenen befallen hat. Zu seinen Symptomen gehören: Herzerkrankungen, Lungenerkrankungen, Nierenerkrankungen, Appetitlosigkeit, mangelnde Gewichtskontrolle, geschwächtes Immunsystem, niedrige Widerstandskraft gegen Krankheiten, höhere Schmerzempfindlichkeit, verlangsamte Reaktionsfähigkeit, Stimmungsschwankungen, niedrige Gehirntätigkeit, Depression, Fettsucht, Diabetes und bestimmte Formen von Krebs. Das Übel heißt chronischer Schlafentzug, und die Opferzahlen steigen in Folge von Smartphone, E-Reader und anderer lichtabstrahlender Geräte.“ (Alter 2018, S.73)
Drei Momente machen die digitalen Geräte für den Menschen so gefährlich: Für kleine Kinder (und natürlich auch für Erwachsene) liegt der Reiz, abgesehen von den Geräuscheffekten (deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist) in der Mischung aus Konturierung und Bewegung, mit denen die Bildschirme ihre Aufmerksamkeit fesseln. Wie der Psychologe Jerome Kagan festhält, sind Kleinkinder geradezu süchtig nach „Kontur und Bewegungen“. (Vgl. Alter S.27) Wir haben es hier mit einem Merkmal der Gestaltwahrnehmung zu tun. Es geht hierbei darum, aus einer Vielzahl von Umgebungsreizen die relevanten Reize herauszufiltern und zu individuellen Gestalten zu formieren. Den digitalen Programmdesignern gelingt es offenbar, diesen Prozeß den Wahrnehmungsbedürfnissen von Kindern (und natürlich auch denen von Erwachsenen) so anzupassen, daß die virtuelle Welt attraktiver ist als die Realität. Das bindet unsere Aufmerksamkeit so sehr, daß wir kaum noch fähig sind, uns von den Bildschirmen abzuwenden.

Ein weiteres Moment bildet der technologische Fortschritt: die digitalen Rechenprozesse sind inzwischen so effizient, daß Internetspiele und die digitale Kommunikation in Echtzeit ablaufen. Den Nutzern geht jedes Zeitgefühl vor dem Bildschirm verloren. Hinzu kommt, daß beim Design der verschiedenen Formate von Spielen und Online-Foren sorgfältig darauf geachtet wird, daß die Nutzer gar nicht auf die Idee kommen, den Computer abzuschalten. Die Abbruchregeln der analogen Welt, zu denen auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung hinsichtlich des Zeitverbrauchs bei alltäglichen Vorhaben und Unternehmungen gehört, sind außer Kraft gesetzt:
„... die Zeitverzögerung, die viele Leute erst gar nicht auf die Idee kommen ließ, Musik herunterzuladen, gibt es nicht mehr. Neue Technologien versprechen Bequemlichkeit, Geschwindigkeit und Automatisierung, doch der Preis, den wir dafür zahlen, ist hoch. Menschliches Verhalten wird zum Teil von einer Abfolge reflexiver Kosten-Nutzen-Rechnungen gesteuert, die festlegen, ob eine Handlung einmal, zweimal, Hunderte Male oder überhaupt nicht ausgeführt wird. Wenn der Nutzen die Kosten aber weit übersteigt, wird es schwer, eine Handlung nicht ständig zu wiederholen, vor allem, wenn der richtige Nerv getroffen wird.“ (Alter 2018, S.12f.)
Das Online-Shoppen bildet ein weiteres Beispiel für das Fehlen einer Abbruchregel. Im analogen Leben weist uns unsere Geldbörse darauf hin, daß kein Geld mehr da ist, das wir ausgeben können. Das ist eine sehr wirksame Abbruchregel, die beim Online-Shoppen, aber auch beim Benutzen von Kreditkarten fehlt. (Vgl. Alter 2018, S.189) Bei Fitneßuhren lenken die Zahlen der gelaufenen Schritte unsere Aufmerksamkeit von den körperlichen Abbruchregeln ab, die uns signalisieren, daß es genug ist. (Vgl. Alter 2018, S.117f.)

Beim dritten, Suchtverhalten fördernden Moment handelt es sich um die Mobilität. Nutzer sind nicht mehr auf ortsfeste, nichttransportale Computertürme und Monitore angewiesen. Sie können ihre Handys und Smartphones sogar mit ins Bett nehmen, was gerade Kinder sehr gerne tun. Für viele Kinder ist ihr Smartphone längst zum Teddybärersatz geworden:
„Young  (Kimberley Young, Psychologin und Suchttherapeutin – DZ) begann, eine wachsende Zahl an Internetsüchtigen zu behandeln, deren Höhe durch zwei Ereignisse aus den Jahren 2007 und 2010 noch einmal extrem gesteigert wurde: die Einführung von Apples iPhone und iPad. ‚Die Internetsucht explodierte förmlich vor meinen Augen, als das Internet mobil wurde‘, sagt Young.“ (Alter 2018, S.254f.)
Daß die fehlenden Abbruchregeln das Internet so immersiv machen, verdeutlicht, daß es nicht die fehlende Willenskraft ist, die die Nutzer süchtig werden läßt. Wir haben es hier nicht mit Menschen zu tun, die genetisch oder psychisch mit einer besonderen Schwäche und Verführbarkeit belastet sind. Vielmehr sind alle Süchte, sowohl Substanzsüchte wie auch Verhaltenssüchte, zu einem großen Teil umgebungsabhängig. Das zeigte sich erstmals bei den vielen Vietnamveteranen, die in den 1970ern mit Heroinsucht in die USA zurückkehrten. In der Regierung machte man sich große Sorgen über die großen gesellschaftlichen Probleme, die mit den heroinsüchtigen Veteranen auf sie zukamen. Man rechnete mir einer Rückfallquote von 95 Prozent. Tatsächlich war es dann aber umgekehrt. 95 Prozent der Veteranen wurden nach dem Entzug nicht wieder rückfällig. (Vgl. Alter 2018, S.52ff.)

Der Grund für dieses überraschend positive Ergebnis liegt darin, daß die Heroinsucht zu einem großen Teil mit den traumatischen Erfahrungen der Soldaten in Vietnam verbunden gewesen war. Nach der Rückkehr aus Vietnam konnten sie sich von ihrer Heroinsucht befreien, weil der Kontext, in dem die Sucht virulent gewesen war, fehlte. Das Wechseln des Kontextes ist also ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. Bei einer Rückkehr nach Vietnam hätte keine auch noch so ausgeprägte Willensstärke die Betroffenen davor bewahrt, rückfällig zu werden. Gerade hier gibt es aber bei der Internetsucht ein großes Problem: die digitale Infrastruktur bestimmt so umfassend unseren Alltag und unser Berufsleben, daß die Möglichkeit für Internetsüchtige, die Umgebung zu wechseln, praktisch gegen Null tendiert.

Ein weiterer Hinweis auf die weitgehende Wirkungslosigkeit der Willenskraft ist die verbreitete Sex- und Pornographiesucht gerade in den Staaten der USA, in denen eine rigide Sexualmoral herrscht, der Sextrieb also massiv unterdrückt wird. Die Willenskraft gegen sexuelle Bedürfnisse einzusetzen, bedeutet ein Paradox: um etwas nicht zu wollen, muß man ständig an das denken, was man nicht will. Wenn also die Gesellschaft von uns verlangt, wir sollten der Versuchung widerstehen, müssen wir zwangsläufig, ob wir wollen oder nicht, ständig an diese Versuchung denken:
„Diese Diskrepanz zwischen öffentlichem und privatem Verhalten (also zwischen repressivem Sexualverhalten und Konsum von Pornographie – DZ) räumt mit dem Mythos auf, wir könnten schlechte Gewohnheiten nur deshalb nicht aufgeben, weil es uns an Willenskraft fehle. In Wahrheit scheitern Menschen, die es mit Willenskraft versuchen, als Erste. ... Die Kombination aus Abstinenz und Willenskraft funktioniert einfach nicht.“ (Alter 2018, S.263)
„Bis heute“, schreibt Adam Alter, „stecken Verhaltenssüchte in ihren Kinderschuhen, und die Wahrscheinlichkeit, dass wir das Basislager dieser Expedition noch gar nicht verlassen haben, dass wir uns noch weit unter dem Gipfel befinden, ist groß“. (Vgl. Alter 2018, S.316) – Und er spricht damit einen wichtigen Punkt an. Wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung, und die Frage ist, ob uns das, was wir jetzt schon vor Augen haben, gefällt. Man spricht von Transhumanität und von Posthumanität und antizipiert eine Welt, die nicht mehr von Menschen bewohnt sein wird; jedenfalls nicht von Menschen, die sich noch irgendwie menschlich verhalten. Diese Welt beginnt schon jetzt. Was also wollen wir?

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