„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 7. April 2014

Beinah ein Buddha

(Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens, Biographie, München 2013)

1. Der dritte Weg
2. Aperçu
3. Anthropologie
4. Karma
5. Nur beinahe

Die „Anschauung“, als „Mitte“ zwischen metaphysischer Spekulation und empirischer Naturforschung (vgl. Safranski 2013, S.450), ist eine Wahrnehmung, eine Perception. Diese soll Goethe zufolge das wahrnehmende Subjekt verwandeln können, aus der „Vereinzelung“ herauslösen und „zur Teilhabe am Sinn des Ganzen“ erheben. Den Moment der Wahrnehmung, in dem dem Wahrnehmungssubjekt eine solche Erhebung widerfährt, bezeichnet Goethe als „Aperçu“. (Vgl. Safranski 2013, S.89f.) In A-perçu steckt ‚percipere‘. Man denke an Berkeleys „esse est percipere“, sein ist wahrnehmen. Das A-perçu ist aber noch etwas mehr; es bietet einen „zusätzlichen Kitzel“ (Safranski 2013, S.50), eine spezifische Intensivierung, oder besser: Zentrierung der Wahrnehmung. Dabei handelt es sich um eine Zentrierung, die durch Dezentrierung zentriert, gemäß dem Plessnerschen Konzept der vermittelten Mitte.

Safranski hält fest, daß Goethe in dreifachem Sinne von einem Aperçu spricht: „Nach der Seite des Objektes verweist das Aperçu ... auf eine Totalität, die sich plötzlich in etwas Einzelnem enthüllt.“ (Vgl. Safranski 2013, S.89) – Wir haben es also mit einem Verweisungszusammenhang, mit einem Kontext zu tun, oder, mit Adorno gesprochen, mit einer Konstellation, in die das einzelne Objekt eingebunden ist und die wir in einem plötzlichen Moment der Einsicht durchschauen. Für das Wahrnehmungssubjekt bedeutet diese plötzliche Einsicht die schon erwähnte Verwandlung und Erhebung, was die zweite Bedeutung des Aperçu bildet. (Vgl. Safranski 2013, S.90) Die dritte Bedeutung des Aperçu besteht im Herausfallen aus der ‚Zeit‘, was ich im Rahmen dieses Blogs immer als ein Herausfallen aus der Lebenwelt beschrieben habe: „Das Leben wird durchschnitten, es gibt im pathetischen Sinne ein Vorher und Nachher. Das Aperçu mag üblicherweise nur die sprachlich prägnante Wendung bezeichnen, bei Goethe aber ist die existentielle Wende in der Folge einer Inspiration mit gemeint.“ (Safranski 2013, S.90)

Diesen zeitlichen Aspekt des Aperçu haben die alten Griechen auch als Kairos bezeichneten. Dieser Kairos ist der gute Sinn dessen, was Gläubige als Offenbarung bezeichnen. Seine Transzendenz ist aber durch und durch diesseitig, eine immanente Transzendenz. (Vgl. Safranski 2013, S.612)

Goethe spricht aber nicht vom ‚Kairos‘, sondern vom ‚A-Perçu‘, und darin erweist er sich einmal mehr als eine Kombination aus Phänomenologe und Buddha. Denn wir haben es hier nicht nur mit einer einfachen Wahrnehmung zu tun, sondern mit einer Hinzu-Wahrnehmung, ähnlich der Kantischen Apperzeption. Beide Begriffe, Aperçu und Apperzeption, bilden eigentlich nur zwei verschiedene Varianten ein und desselben Wortes, eine französische und eine deutsche. Kant meinte mit der Apperzeption das „Ich denke“, das alle unsere Wahrnehmungen begleiten können muß, um unsere Wahrnehmungen sein zu können. Das „Ich denke“ ist die Kantische Hinzu-Wahrnehmung.

Auch das Goethesche Aperçu bildet so eine Hinzu-Wahrnehmung; nur beschränkt sie sich nicht auf das Denken, sondern enthält eine spezifische Goethesche Pointe. Diese Pointe ist sprachlicher Art, so wie ja auch das Aperçu üblicherweise einen Sprachwitz meint, einen in Worte gefaßten Geistesblitz. Sprachkunst, also Literatur und Poesie, bilden die Goethesche Form der Apperzeption, die es ihm ermöglicht, bei sich zu sein. Literatur und Poesie machen zufällige Wahrnehmungen und beliebige Empfindungen zu etwas Besonderem; sie machen sie zu unserem Eigentum. In ihnen werden wir uns unserer selbst bewußt.

In diesem Zusammenhang ist es ungeheuer interessant, wie Goethe und Schiller über die verschiedenen Literaturgattungen diskutieren. Hier kommt ein Stück Anthropologie zur Sprache, wie wir sie schon von Plessners „Anthropologie des Schauspielers“ (1948) kennen. (Vgl. meinen Post vom 01.06.2013) So wie Goethe und Schiller zwischen Epik und Theater unterscheiden, erinnert das an Plessners exzentrische Positionalität. Interessanterweise bewerten sie dabei das Theater bzw. die anthropologische Dimension der Leistung des Schauspielers anders als Plessner.

Zur Erinnerung: Plessner zufolge bricht sich an der Person des Schauspielers das gesellschaftliche Maskenspiel, in dem wir einander vorgaukeln, etwas anderes zu sein, als wir sind. Das Spiel von Identifikation mit der und von Distanz zur Rolle des Schauspielers auf der Bühne klärt den Zuschauer über seine eigene innere Gebrochenheit und über sein Bedürfnis nach Authentizität auf.

Genau das sprechen aber Goethe und Schiller dem Theater ab. Sie verstehen das Theater mehr als ein Medienereignis, wie es Friedrich Kittler beschreiben würde und wie es im Kino zur technischen Perfektion gekommen ist: „Das Theater oder die Bilder, so Goethe, machen es dem Rezipienten leicht und bequem. Statt mühsam einen ganzen Roman zu lesen, will man die Geschichte schnell und spannend auf der Bühne dargestellt haben. Die Vorstellung im Theater enthebt der Mühe, sich selbst etwas vorzustellen.“ (Safranski 2013, S.433) – Indem aber die Theatervorstellung der Mühe enthebt, sich selbst etwas vorzustellen, verhindert es jenes Bei-sich-Sein, um das es Goethe geht. Es kommt zu keinem Aperçu.

Ganz anders die Epik: „Der Vergangenheitscharakter der Epik schafft Distanz, man kann um die erzählten Ereignisse gewissermaßen herumgehen und sie aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Indem der Epiker Abstand hält, erlaubt er dem Publikum, seinerseits Abstand zu nehmen. Der Epiker beherrscht das Ereignis und die Zeit, er kann vor und zurück gehen mit Abschweifungen und Zeitsprüngen. Der epische Abstand ist auch eine Gelegenheit zur Reflexion, man kann sich auf eine höhere Ebene begeben. Der Erzähler ist also in dreifacher Hinsicht souverän: Er steht über dem Geschehen, er ist Herr der Zeit, und er erhebt sich gedanklich über seine Protagonisten. Schiller interpretierte diese dreifache Souveränität als gesteigerte Freiheit. Der Erzähler ist frei gegenüber der von ihm dargestellten Welt, und ebenso frei ist der Rezipient, der sich auf die ihm angebotene Ebene der Souveränität begeben kann. Ihm wird ein freier Spielraum gewährt, allerdings wird er von einer anderen Seite stärker gefordert: er muß nämlich das Erzählte auf seiner inneren Bühne erst noch imaginieren.“ (Safranski 2013, S.433)

In diesen Effekten der Epik haben wir alle Aspekte einer exzentrischen Positionalität wie wir sie von Plessner kennen. Im epischen Spiel mit den Ereignissen und den „verschiedenen Perspektiven“ schafft der Epiker einen „Spielraum“, eine „Gelegenheit“ für die „Reflexion“. Er versetzt uns dem „Geschehen“ gegenüber auf eine andere, „höhere“ Ebene der „Souveränität“, von der aus wir uns dem Geschehen zuwenden und ‚dabei‘ sein können, ohne betroffen zu sein. Im Wechsel der Perspektiven imaginieren wir das „Erzählte“ auf unserer „inneren Bühne“; eine treffendere Beschreibung für ‚vermittelte Mitte‘ als diese ‚innere Bühne‘ läßt sich wohl schwerlich finden.

Alles das ermöglicht jenes Aperçu, das besondere Dabei-Sein, das Freiheit bedeutet. Diese Freiheit fehlt den unmittelbar Involvierten, die wie betäubt sind von dem Strom der Ereignisse, der sie mit sich reißt, genau das also, was Kittler zufolge die Medien tun, nämlich uns daran zu hindern, uns unserer selbst bewußt zu werden.

Interessant ist dabei aber, wie schon erwähnt, daß Plessner jene Leistung, das Goethesche Aperçu, wiederum auch dem Theater zuspricht und es damit entdämonisiert. Ich denke jedoch nicht, daß wir gezwungen sind, uns zwischen Goethe und Schiller und eben auch Kittler auf der einen Seite und Plessner auf der anderen Seite zu entscheiden. Goethe, Schiller und Plessner beschreiben nur die verschiedenen Ansatzpunkte einer Anthropologie, die sich für die einen in der Epik, für den anderen im Schauspiel verwirklicht. Es ist letztlich vor allem die – je individuell zu beantwortende – Frage, auf welche Weise wir Naivität und Kritik jeweils ausbalancieren oder ob wir der Naivität selbst zum Opfer fallen. Denn wenn zwei Menschen dasselbe tun oder erleben, ist es nicht dasselbe. Der eine ist möglicherweise bei sich, der andere möglicherweise nicht.

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