„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 15. Februar 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

1. Methode

Ich hatte schon in meinem Post vom 29.12.2013 darauf hingewiesen, daß ich erhebliche Schwierigkeiten habe mit einer ‚Phänomenologie‘, die den Schein als Schein nicht ernstnimmt, sondern als ‚falsch‘ denunziert. Nun, da mir Frank Engsters Buch „Das Geld als Maß, Mittel und Methode“ (2014) vorliegt, wird mir nochmal klarer, worin meine Schwierigkeiten genau liegen. Ich werde deshalb meine folgenden Kommentare zu Engsters Buch damit einleiten, daß ich zwischen Phänomenologie und Dialektik zu differenzieren versuche, indem ich die Dialektische Methode als eine Form des Strukturalismus darstelle.

Ich hatte in dem erwähnten Post mein Unbehagen geäußert, daß Frank Engsters Darstellung sich in den Grenzen einer tautologischen Begründung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses bewege. Um dieses menschliche Selbst- und Weltverhältnis angemessen thematisieren zu können, bedürfe es aber, so meinte ich, einer Differenzierung zwischen Maßgabe und Sinnstiftung. Ich wollte darauf hinaus, daß im Unterschied zu Messungen, die sich ihr ‚Maß‘ vom Gegenstand leihen, wie z.B. die Referenzobjekte der Naturwissenschaften wie das ‚Urmeter‘ in Paris, als der zehnmillionste Teil des Viertels des meridialen Erdumfanges, und so den Gegenstand wie eben die ‚Erde‘ sich selber messen lassen, die Sinngebung des Menschen ein Aspekt seiner exzentrischen Positionalität ist. Er muß seinem Leben einen Sinn geben, weil er eben nicht mit sich identisch ist.

Auch Engster spricht zwar von einer Heraus-Setzung des Maßes aus seinem Gegenstand, den er mißt. Das führt aber zu keiner Exzentrik. Im Vorwort des Buches, das mir in den nächsten Tagen und Wochen zur Besprechung vorliegt, heißt es: „Wir können unsere eigene Vergesellschaftung wie einen gegebenen äußeren Gegenstand zum Objekt der Kritik machen, wenn wir uns mit dem Geld auf den Standpunkt einer gleichsam aus der Gesellschaft herausgesetzten Werteinheit stellen ...“ (Engster 2014, S.14)

An diesem Satzausschnitt möchte ich mich nun in meinen folgenden Überlegungen orientieren, um mir einen ersten Zugang zur Methodik des Buches zu erschließen, dessen formelhafte, feststehende Phrasen, die in immer neuen Variationen zu komplex verschachtelten Sätzen zusammengefügt werden, mich an mathematische Gleichungen erinnern. Zugleich beschwören sie Erinnerungen an unsägliche Hegel- und Marxlektüren aus meiner Studentenzeit herauf, in der wir uns in Seminaren und privaten Arbeitsgruppen die Köpfe heiß diskutierten, uns gegenseitig mit Begriffsschablonen bombardierend, von denen zumindestens ich kaum ein Wort verstand. Und ich unterstelle einmal, daß es vielen meiner Kommilitonen, die sie so eifrig verwendeten, nicht anders ging.

In dem zitierten Satz wird offengelegt, was uns Studenten damals verborgen blieb. Wir haben es mit dem Setzen eines Axioms, dem ‚Geld‘ – oder wahlweise die ‚Ware‘ oder das ‚Kapital‘ –, zu tun, von dem aus ein mathematisch geschlossenes System von Formeln möglich wird, das wir als „kapitalistische Gesellschaft“ zu bezeichnen gewöhnt sind. Dieses Axiom ermöglicht es uns also, zu verstehen, was die Gesellschaft ‚ist‘. Um zu verstehen, was es bedeutet, ein Axiom zu setzen und von ihm her zu bestimmen, ‚was‘ etwas ‚ist‘, möchte ich kurz zeigen, wie Phänomenologen vorgehen, wenn sie so etwas wie ‚Gesellschaft‘ zu thematisieren versuchen.

In der Phänomenologie unterscheidet Blumenberg zwischen Phänomenen, denen eine Anschauung entspricht: ‚Gegenstände‘ im eigentlichen Sinn des Wortes, die uns gegenüber ‚stehen‘ und die wir in den Blick nehmen können, und ‚Phänomenen‘ wie ‚Welt‘ oder ‚Geschichte‘, in denen wir uns immer schon befinden und die wir nicht von außen in den Blick bekommen können. (Vgl. meinen Post vom 09.09.2011) Sie haben keinen Außenhorizont. Diese ‚Gegenstände‘ beinhalten einen Absolutheitsanspruch: sie enthalten alles, aber sie sind selbst in Nichts enthalten. Dazu gehört auch die ‚Gesellschaft‘ bzw. die ‚Vergesellschaftung‘. Bei Engster heißt das, daß das Geld einen „unhintergehbaren wie unüberbietbaren Universalismus“ darstellt. (Vgl. Engster 2014, S.44) Wir haben es also beim Geld mit einem Letztbegründungsanspruch zu tun. (Zu Letztbegründungsansprüchen vgl.u.a. meine Posts vom 11.07.2012, 09.12.2012, 07.05.2013, 17.12.2013)

Die Methode des Phänomenologen, mit Totalitäten wie ‚Gesellschaft‘, ‚Welt‘, ‚Geschichte‘ umzugehen, besteht darin, Metaphern für diese Phänomene zu finden und sie von diesen Metaphern her zu ‚denken‘. Das macht Blumenberg z.B., indem er die ‚Welt‘ am Beispiel der Buchmetapher („Die Lesbarkeit der Welt“ (1979)) thematisiert. Das Prinzip dieser Methode besteht darin, Phänomene wie die ‚Welt‘ oder die ‚Gesellschaft‘ trotz ihres Absolutheitsanspruchs als Phänomene ernst zu nehmen. Ihre ‚Scheinhaftigkeit‘ ist zwar nur eine abgeleitete, metaphorische, aber sie ist keine falsche, sondern nur eine verborgene, die sich nicht von sich aus ‚zeigt‘. Sie ‚zeigen‘ sich nur als sich Verbergendes, Entziehendes, Abwesendes.

Hegel und Marx hingegen verwenden ein anderes Verfahren. Sie behandeln die Gesellschaft nicht als ein Phänomen, sondern als falschen ‚Schein‘, dessem wahren ‚Sein‘ man durch eine dialektische Logik auf die Spur zu kommen versucht. Zu diesem Zweck setzen sie ein Axiom wie den ‚Geist‘ oder das ‚Geld‘, den sie aus der Gesellschaft heraussetzen, um ihn als Standpunkt zu verwenden, auf den sie sich stellen, so daß sie von ihm her die Gesellschaft in den Blick bekommen können. ‚Begründet‘ wird dieser Standpunkt durch die ‚Entwicklung‘ der Gesellschaft als einer ‚Struktur‘, die den falschen Schein, den sie notwendigerweise erzeugt, Freiheit/Gleichheit/Brüderlichkeit (vgl. Engster 2014, S.93), erklärt. – Wer sich über die Gleichsetzung von freiem Warentausch und Menschenrechten wundert, sei auf die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen der EU und der Schweiz verwiesen, wo die EU auf der Unauflösbarkeit von freiem Personenverkehr und freiem Warenverkehr besteht.

Ich spreche ausdrücklich von ‚Struktur‘, ungeachtet dessen, daß Engster von einem ‚Prozeß‘ spricht. Ich habe nämlich den Verdacht, daß die Prozeßhaftigkeit der Vergesellschaftung selbst noch zum falschen Schein gehört. Tatsächlich will Engster mit seinem Buch ausdrücklich „keine geschichtliche, sondern eine logisch-systematische Begründung“ des Kapitals liefern. (Vgl. Engster 2014, S.34; vgl. auch S.55f.) Diese Begründungsform versagt aber dort, wo es mit der „kommunistischen Revolution“ um historische „Ereignisse“ geht, die sich aus den gegebenen historischen Bedingungen nicht herleiten lassen. Engster macht dies deutlich, indem er auf die grammatische Konstruktion des Futurum II zurückgreift, als nachträgliche Strukturierungsmöglichkeit (und damit Stillstellung) einer diachronischen Kontingenz: eine ‚historische‘ Begründung für die Revolution ergibt sich erst, wenn sie eingetreten sein wird. (Vgl. Engster 2014, S.53f.)

Tatsächlich bewegt sich in der kapitalistischen Gesellschaft gar nichts, es sei denn im Sinne eines Hamsterrades, das sich um sich selbst dreht, aber nicht vorwärtskommt. Die eigentlichen ‚Prozesse‘ spielen sich außerhalb dieses Hamsterrades ab: nämlich in einer Naturwelt, deren Ressourcen sich verbrauchen und deren Gleichgewichte sich neu konstituieren, möglicherweise dann demnächst auch ohne den Menschen. Jedenfalls wird die Zeitlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise durch eine Verschränkung globaler und lokaler Ereignisse auf eine Weise ‚von außen‘ widerfahren, daß sie sich nicht mehr so einfach als ein der kategorialen Logik immanenter „produktive(r) Umgang mit der Zeit“ darstellen lassen wird. (Vgl. Engster 2014, S.57)

Zurück zum falschen gesellschaftlichen Schein (Freiheit/Gleichheit/Brüderlichkeit): seine durchgeführte, erfolgreiche Erklärung – freier Warenverkehr = freier Personenverkehr – verifiziert das Axiom, von dem die dialektische (Gedanken-) Bewegung ihren Ausgang genommen hatte. Wir haben es also mit einem Kreislauf bzw. Zirkel der Erklärung zu tun, der wiederum der Zirkulation des Geldes entspricht. Dieser Zirkel ist nicht vitiös, sondern entspricht lediglich dem Selbstverwertungsprozeß des Geldes. Falscher Schein (Freiheit/Gleichheit/Brüderlichkeit) und wahres Sein („exzessives Verwertungs- und Ausbeutungsverhältnis“ (Engster 2014, S.931)) bilden also die zwei Seiten derselben Sache: der (kapitalistischen) Gesellschaft.

Die dialektische Logik beinhaltet also notwendigerweise eine Ideologiekritik: nämlich die Unterscheidung zwischen wahrem Sein und falschem Schein. Diese Ideologisierung ist der Phänomenologie fremd, für die alle Phänomene gerade als Schein ernstzunehmen sind. Ist die Phänomenologie deshalb unkritisch? Blumenberg suggeriert so etwas, wenn er behauptet, daß die Phänomenologie keine Ethik kenne. (Vgl. meinen Post vom 26.09.2012) Levinas hat aber gezeigt, daß es sehr wohl eine phänomenologische Ethik gibt: sie besteht vor allem darin, den Blick von etwas abzuwenden oder jemandem zuzuwenden. Nehme ich jemanden als ‚Antlitz‘ wahr, wende ich mich ihm als Person zu. Versuche ich, etwas hinter dem ‚Antlitz‘ ‚dingfest‘ zu machen, das wahrer oder richtiger als das Antlitz ist – daß ‚Personen‘ eigentlich nur ‚Waren‘ sind –, so wende ich mich von jemandem ab und mache ihn zu einem Etwas.

So gehen Strukturalisten vor: indem sie Strukturen an die Stelle von Phänomenen setzen, dezentrieren sie diese Phänomene und dekonstruieren in der letzten Konsequenz auch alles Menschliche. Was ist also die ‚Wahrheit‘ an der Ideologiekritik? Sie macht die Strukturen in den gesellschaftlichen Verhältnissen sichtbar. Die Gesellschaft ist ein ‚Verhältnis‘ (ensemble) von Individuen, so sehr, daß sie Marx zufolge nicht aus Individuen besteht – und Luhmann zufolge nicht aus Menschen –, sondern ‚rein‘ dieses ‚Verhältnis‘ und seine Struktur ist und nichts anderes. (Vgl. Engster 2014, S.58, Anm.14) Alles, was sich davon empirisch ‚zeigt‘, ist ‚Phänomen‘ und deshalb falsch!

Die Ideologiekritik macht also Strukturen ‚sichtbar‘, die ansonsten unsichtbar sind, weil sie sich nicht ‚zeigen‘. Zugleich aber macht sie blind für das subjektive Erleben dieser Strukturen und seine Wahrheit. Denn wir erleben ‚die‘ Gesellschaft nicht als Struktur, sondern als Sinn. Mit anderen Worten: die Gesellschaft ist für den Menschen eine Lebenswelt und keine Struktur. Vielleicht bedarf es so etwas wie einer phänomenalen Strukturanalyse (vgl. meinen Post vom 02.11.2013), die beiden Ebenen in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander gerecht wird: der Unwahrheit wie der Wahrheit des Scheins.

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