„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 22. Februar 2014

Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014

(Neofelis Verlag UG, 790 S., Print (Softcover): 32,--)

(I. Wie ist eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft möglich?, S.47-148 / II. Lukács und das identische Subjekt-Objekt der Geschichte: Die Idee des Kommunismus und die Identifikation der Arbeit durch das Maß der Zeit, S.149-324 / III. Adornos negative Dialektik und die Logik der Identifikation durch das Maß, S.325-516 / IV. Zwischen Lukács und Adorno. Alfred Sohn-Rethel, die Wertform als Transzendentalsubjekt und dessen blinder Fleck: Die kapitalistische Bestimmung von Ware und Arbeit, Wert und Geld, S.517-646 / V. Die Rätselhaftigkeit des Geldes durch die Auflösung der Ökonomie in Zeit, S.647-744 / VI. Schluss, S.745-764)

2. Übergänge
3. Technik des Maßes

Was mit dem Begriff ‚Methode‘, im Unterschied zum ‚Mittel‘,  gemeint ist, habe ich mir aus der griechischen Wortbedeutung erschlossen. (Vgl. meinen letzten Post) Engster liefert zum gemeinsamen Wortfeld von Mittel und Methode keine weitere Erläuterung. In seinem Gebrauch dieser Begriffe scheint aber das Spezifikum des Wortes ‚Methode‘ eben darin zu liegen, daß im Selbstverwertungsprozeß des Kapitals notwendigerweise Zeit zurückgelegt werden muß, mit ‚Methode‘ also die Zeitlichkeit des Produktionsprozesses, im Sinne einer „Ökonomie der Zeit“ gemeint ist. Engster verwendet einen weiteren Begriff, den der ‚Technik‘, der wiederum genau zu den industriellen Bedingungen des Produktionsprozesses paßt, der ja nun eigentlich mit dem Begriff der Methode belegt ist. Worin liegt also nun die spezifische Bedeutung des Wortes ‚Technik‘ im Unterschied zu ‚Mittel‘ und ‚Methode‘?

Auch hier muß man sich mangels eigener Erläuterungen des Autors zum gemeinsamen Wortfeld seiner Begriffe diese spezifische Bedeutung aus dem Gebrauch erschließen. Von ‚Technik‘ ist bei Engster immer dann die Rede, wenn ‚gerechnet‘ wird. Außerdem spricht Engster in einem ganz spezifischen Sinne von der „Technik des Maßes“ (vgl. Engster 2014, S.118, 120f.), also von Technik im Sinne der ersten Geldfunktion, während die Methode zur dritten Geldfunktion gehört und auf die Zeitlichkeit des ökonomischen Prozesses verweist. Die Technik des Maßes liegt im Unterschied zu dieser ‚methodischen‘ Zeitlichkeit außerhalb der Zeit, eben am „reinen, voraussetzungslosen Anfang“, der vor der „radikalen Trennung“ in Objektivität und Subjektivität liegt, die der Produktionsprozeß mit sich bringt. (Vgl. Engster 2014, S.112). Mit Bezug auf die Naturwissenschaften schreibt Engster: „‚Vor‘ heißt, die Herausforderung der Naturwissenschaften durch die Technik des Maßes und die Messung ist bereits für die Theorie und die Wissenschaft, was dann in der eigentlichen Technik der Maschinen und Produktionsmittel, der Werkzeuge und Instrumente zur Technik einer praktischen Herausforderung der Natur werden muss.“ (Engster 2014, S.121)

Das Maß beinhaltet also auf theoretischer Ebene eine ‚Technik‘, die die Technizität des industriellen Produktionsprozesses vorwegnimmt. Vielleicht könnte man hier auch besser von ‚Technologie‘ sprechen, um die Wissenschaftlichkeit dieser Ebene hervorzuheben. Bevor also im praktischen Produktionsprozeß mit der Trennung von Objektivität und Subjektivität und ihrer wechselseitigen Entsprechung, ihrer Identität, überhaupt gerechnet werden kann, leistet die Technik des Maßes vor allem eines: sie konstituiert die Objektivität als solche (vgl. Engster 2014, S.113, 118), und zwar noch vor ihrer Trennung in Subjektivität und Objektivität. Am Anfang steht also nicht eine transzendentale Subjektivität wie bei Kant, sondern die Objektivität „überhaupt“, „voraussetzungslos allein durch sie selbst bestimmt“. (Vgl. Engster 2014, S.118)

Die „Technik“, die diese Objektivität ermöglicht, besteht im „Heraussetzen und Identisch-Halten des Maßes“: „Die Technik des Maßes ist die Identifizierung der Natur qua Messung.“ (Engster 2014, S.120) – Indem das Bewußtsein bei Hegel in seinen Vorstellungen und Wahrnehmungen ‚identisch gehalten‘ wird, wird ein Weltverhältnis – „Gegenständlichkeit“, wie Engster schreibt (vgl. Engster 2014, S.57) – erst möglich. Wird diese Technik in der „Phänomenologie des Geistes“ noch durch das Selbstbewußtsein ermöglicht, tritt an dessen Stelle in der „Wissenschaft der Logik“ die Objektivität als solche. Auch hier geht es um einen Identifizierungsakt, der sich in allen folgenden Begriffsbestimmungen durchhält bzw. ‚identisch hält‘. Bei Marx wird diese ‚Technik‘ durch das Geld als „ideeller Werteinheit“ geleistet. (Vgl.u.a. Engster 2014, S.110)

Gemeinsam ist allen diesen verschiedenen Versuchen, ein Maß herauszusetzen, über das identifizierende Messen ein Selbstverhältnis zu schaffen, das sich an seinem eigenen Maß bricht (vgl. Engster 2014, S.120). Dieses Selbstverhältnis, sei es nun das Bewußtsein, die Gesellschaft oder die Natur, wird nun durch die vermittels des Brechungsaktes (Reflexion) „ermittelten Werte“, also durch sich selbst, ‚wiedergegeben‘, wie Engster schreibt: „Diese – im Wortsinn – Herausforderung ist die Technik der Naturwissenschaft schlechthin.“ (Engster 2014, S.120) – Die Heraus-Setzung eines Maßes bildet also eine ‚Technik‘ der ‚Herausforderung‘, die die ansonsten stumme Natur zum Sprechen bringt.

In diesem ersten und voraussetzungslosen Setzen einer Objektivität bzw. Gegenständlichkeit, die überhaupt erst ein ‚Rechnen‘ mit solchen ungewissen oder dunklen Phänomenen wie ‚Gesellschaft‘ oder ‚Natur‘ ermöglicht (vgl. Engster 2014, S.107ff.), sieht Engster die kritische Überlegenheit von Hegel und Marx gegenüber einem Kant, der in diesem Vergleich bei Engster nicht so gut wegkommt und dem er immer wieder Naivität vorwirft, weil er noch „unkritisch“ zwischen „eine(r) chaotische(n) Mannigfaltigkeit aufseiten der Dinge, der Natur oder der Materie“ und einem „transzendentalen Vermögen“, eben der transzendentalen Subjektivität, trennt. (Vgl. Engster 2014, S.117) Nicht „unkritisch“ ist hingegen offensichtlich Hegels „spekulative Identität“, die der „Trennung in Objekt und Subjekt“ vorausgeht. (Vgl. ebenda)

Während Kant von einer transzendentalen Subjektivität ausgeht, die der chaotischen Natur, dem Ding-an-sich der subjektiven Erscheinungen, ihre Ordnung hinzufügt, soll bei Hegel, so Engster, die Objektivität als solche mit Hilfe der Technik des Maßes durch sich selbst ‚herausgefordert‘ werden: Die „subjektive Zutat“ besteht dann Engster zufolge darin, „buchstäblich nichts dazuzutun“. (Vgl. engster 2014, S.122) – Das klingt schon fast nach Husserl und seinen Meditationen, in denen sich die Phänomene selbst geben sollen. Hier geht es aber nicht um bestimmte Phänomene, sondern eben um die Gegenständlichkeit als solche, vor ihren phänomenalen Verbesonderungen, also in einem erkenntnismäßigen, vorsinnlichen Nichts.

Bei Husserl ‚geben‘ sich die Phänomene in ihrer Perspektivenvielfalt. Dazu bedarf es der Subjekte. Bei Hegel hingegen ‚gibt‘ sich Engster zufolge das Maß ohne solche „subjektive Zutat“, und dieses subjektlose Maß kennt nur eine Perspektive: die Identität mit sich selbst. Husserl beklagt diesen Verlust der Perspektive „im Reiche reiner Limesgestalten“, wie er mit der durchgehenden Mathematisierung der Naturwissenschaften eingesetzt hatte. (Vgl. meinen Post vom 04.05.2013) Dennoch spricht Engster in diesem Zusammenhang von einer „Gabe“, und zwar „im starken Sinne“. (Vgl. Engster 2014, S.14) Es ist aber wohl eine Gabe, die eher nimmt, als gibt.

Zurück zu Kant: seine Naivität, so Engster, entspricht der Naivität der Naturwissenschaft mit ihrem blinden Fleck: beide gehen von einem „erkenntnisjenseitigen Ding an sich“ aus. (Vgl. Engster, 2104, S.116) Genau das ist aber auch der Standpunkt der Lebenswelt, aus der letztlich alle Philosophie und die Naturwissenschaft selbst hervorgegangen sind. Die Erkenntnis beginnt niemals mit sich selbst, rein und voraussetzungslos. Das zu wissen ist geradezu das Wesen jeder Kritik. Versucht sich die Kritik gegen diese Voraussetzung zu wenden und sich selbst in einer reinen Voraussetzungslosigkeit durch sich selbst zu begründen, als voraussetzungslose Objektivität eines Selbstverhältnisses, erhöht sich nicht etwa ihr kritisches Potential, sondern sie wird erst recht sich selbst gegenüber naiv.

Kant ist gerade darin kritisch, daß er seine Kritik an der Naivität begrenzt. Er schreibt nicht umsonst drei Kritiken: zur reinen Vernunft, zur praktischen Vernunft und zur Urteilskraft. Hegel und Marx hätten versucht, alle drei Kritiken auf eine zurückzuführen und sie in einem System zusammenzufassen. Kant hingegen ist redlich genug, sich seinen Gegenstand ‚geben‘ zu lassen: das Wahre, das Gute, das Schöne, und er arbeitet an ihnen die Differenzen heraus, anstatt sie aufeinander zurückzuführen bzw. in ein System zu überführen. Was ist an diesem Vorgehen „unkritisch“? Es ist im Gegenteil kritisch und naiv zugleich, und deshalb ist es philosophisch.

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