„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 19. Februar 2013

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012

(Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorworts (S.7-18); I: Die Lebenswelt als Raum der Gründe: 1. Von den Weltbildern zur Lebenswelt (S.19-53), 2. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe, (S.54-76) 3. Eine Hypothese zum gattungsgeschichtlichen Sinn des Ritus (S.77-95); II: Nachmetaphysisches Denken (S.96-237); III: Politik und Religion (S.238-327))

1. Nachtrag zur Interdisziplinarität
2. Zum ontologischen Primat der Lebenswelt
3. Gesten und Körperbewegungen
4. Mentalismus und Rekursivität
5. Und trotzdem: Bewußtsein!
6. „Kognitive Schübe“ in der Evolutionsgeschichte des Menschen
7. Pragmatischer Konstruktivismus
8. Wahrnehmungsglaube und Lebensweltglaube
9. Grammatik und Narrativität

Für Habermas ist die Rekursivität Teil einer Bewußtseinsphilosophie, die er als „egologisch“ (Habermas 3/1985, Bd.2: S.196) bezeichnet. In seinem neuen Buch spricht Habermas vom „monadische(n) Bewusstseinsleben“. (Vgl. Habermas 2012, S.68) In einem ähnlichen Zusammenhang verwendet Habermas das Adjektiv „egozentrisch“ (vgl. Habermas 2012, S.62), wobei er in einer Anmerkung darauf verweist, daß er dieses Adjektiv „in einem metaphorischen Sinn“ gebraucht (vgl. ebenda, Anm.Nr.8). ‚Metaphorisch‘ soll heißen, daß Habermas zufolge eine Zentrierung auf das „Ich“ immer nur Teil eines dezentrierenden Weltverhältnisses sein könne, also erst im Rahmen „reziprok übernommene(r) Perspektiven“ möglich werde. Wir haben es also nicht mit einer eigenständigen Ich-Perspektive zu tun, eben einer ‚egologischen‘, sondern mit einer von sprachlicher Kommunikation abhängigen Perspektive.

Das Wortspiel aus De-Zentrierung und Ego-Zentrierung verbirgt letztlich nur, daß wir es hier eben doch mit einem rekursiven Sachverhalt zu tun haben. Da sich Habermas aber nunmal entschieden hat, die Rekursivität der von ihm abgelehnten Bewußtseinsphilosophie zuzuordnen, vermeidet er den Begriff, wo er nur kann. Im ganzen ersten Teil des Buches taucht der Begriff nur an einer einzigen Stelle auf, wobei Habermas noch einmal auf den ‚Mentalismus‘ rekursiven Wissens verweist, der darin bestehe, daß man davon ausgehe, ‚Beteiligte‘ könnten unabhängig von sprachlicher Vermittlung „Metarepräsentationen“ ausbilden. (Vgl. Habermas 2012, S.65)

Überall dort also, wo in menschlichen Interaktionen rekursive Mechanismen beobachtet werden können, verwendet Habermas deshalb konsequent den Ersatzbegriff „reziprok“: er spricht von der „reziproke(n) Übernahme der Perspektiven des Anderen“ (vgl. Habermas 2012, S.89); er spricht davon, daß sich die „Beteiligten“ „reziprok aufeinander als eine jeweils zweite Person einstellen“ (vgl. Habermas 2012, S.60), daß sie „reziprok die auf etwas in der Welt gerichtete Wahrnehmungsperspektive des jeweils anderen (übernehmen) und... auf diese Weise ein gemeinsames Wissen (bilden)“ (vgl. Habermas 2012, S.61); er spricht von einer „Verschränkung von reziprok austauschbaren Perspektiven mit einer intentionalen, das heißt vergegenständlichenden Distanzierung vom Druck der Umwelt“ (vgl. Habermas 2012, S.64) usw. – Alles das selbstverständlich immer nur ‚reziprok‘ und niemals ‚rekursiv‘.

Folgendes Beispiel soll Habermas zufolge zeigen, daß es sich bei der Rekursivität um eine viel zu „anspruchsvolle Reflexionsstufe“ (Habermas 2012, S.65) handelt, die „eine ganze semantisch verknüpfte Reihe von Gründen“ impliziert, als daß sie mit einem einfachen „mentalistische(n) Ausdruck“ wie „geteiltes Wissen“ beschrieben werden könnte (vgl. Habermas 2012, S.63): „Stellen wir uns die folgende Szene vor: Jemand möchte mit einer stummen Geste, den Zeigefinger auf die Lippen gepresst, den Blick auf die Tür im Nebenzimmer gerichtet, seinen Bruder vom Betreten des Schlafzimmers nebenan abhalten, weil sich dort ein Freund ausruht. Der Umstand der Rückkehr von einer anstrengenden Reise und der normative Grund für die Schonung einer erschöpften Person können unausgesprochen bleiben, weil beides zum implizit geteilten Hintergrundwissen gehört.“ (Habermas 2012, S.56; vgl. dasselbe Beispiel nochmal S.59f.)

Dieses Beispiel zeigt aber letztlich das Gegenteil dessen, was es Habermas zufolge zeigen soll, nämlich die pragmatische Notwendigkeit eines ganzen Arsenals von zur Verfügung stehenden Gründen, ohne die die Kommunikation nicht funktionieren würde und die im Bedarfsfall eingesetzt werden können, um wechselseitiges Verstehen sicherzustellen. Indem Habermasens Beispiel zeigt, daß die betreffenden Gründe „unausgesprochen bleiben“ können, weil sie „im Hintergrund“ „operieren“ (vgl. Habermas 2012, S.56), entzieht es ihnen genau den argumentativen Anspruch, um den es ihm eigentlich geht. Denn erst, wenn sie ausgesprochen werden, werden sie zu Gründen! Es ist ihr expliziter Charakter, nicht ihr impliziter, der sie zu Gründen macht. Beanspruchen sie, mehr zu sein, als bloßes Hintergrundwissen, indem sie als Gründe im Hintergrund operieren, haben wir es mit bloßer Suggestion oder mit Demagogie zu tun, oder einfach bloß mit Magie und Hexerei.

Wenn dem einen Bruder der Grund für die Schweigegeste, deren Bedeutung er natürlich versteht, unklar bliebe, müßte der andere Bruder ihm also die Gründe für seine Schweigegeste explizit nachliefern. Da er aber aufgrund des geteilten Hintergrundwissens weiß, warum der Bruder die Schweigegeste anwendet, haben wir es hier mit einem Beispiel zu tun, in dem es nicht um Gründe, sondern um rekursives Wissen geht: Mein Bruder weiß, daß ich weiß, daß der Freund, der sich im Zimmer ausruht, eine anstrengende Reise hinter sich hat, und daß ich seine Schweigegeste deshalb verstehen und auch befolgen werde!

Habermasens ‚Gründe‘ sind zunächst mal nichts anderes als implizites Wissen, das man wechselseitig von dem hat, was der andere weiß. Tatsächlich aber haben wir es hier nicht mit im engeren wissenschaftlichen Sinn begründetem Wissen zu tun, sondern mit einem breiteren Bedeutungshof von Glauben, Meinungen und Bauchgefühlen. Deshalb hält Habermas zu Recht fest: „Wir müssen das Hintergrundwissen, von dem bisher die Rede war, in Anführungszeichen setzen. Das, was wir auf diese intuitive Weise ‚kennen‘, können wir nämlich nur explizit machen, indem wir es in eine Beschreibung umformen; dabei löst sich jedoch der Vollzugsmodus des bloß ‚Bekannten‘ auf ...“ (Habermas 2012, S.23f.)

Erst in Ermangelung einer tragfähigen Übereinstimmung in diesem ‚Wissen‘ zweier Menschen, werden die jeweils einem der beiden Beteiligten fehlenden Informationen zu ‚Gründen‘, die man austauscht, um gemeinsames Wissen wiederherzustellen. Es gibt keine Gründe, die von sich aus den Status eines Arguments im Wartezustand innehaben, also nur darauf warten, angewandt zu werden. Sie werden erst in einer expliziten Darstellung zu Gründen. Wir gehen nicht ununterbrochen potentiell argumentierend durch die Welt! Jedenfalls nicht, wenn wir geistig gesund sind. Erst die jeweilige Aktualisierung latenten Hintergrundwissens im Problemfall fügt einzelne Wissensbestandteile zu Gründen zusammen, also erst in dem Fall, wo sich das als nötig erweist, weil eine vorgängige, vertraute Verständigung versagt.

Wüßte der eine Bruder also nicht, warum der andere Bruder ihm die Schweigegeiste zeigt, und er würde ihm einen fragenden Blick zuwerfen, müßte dieser ihm zuflüstern: weil in dem besagten Zimmer sich ein Freund ausruht, weil er eine anstrengende Reise hinter sich hat etc. Erst jetzt hätten wir es nicht mehr mit einem gemeinsamen, rekursiv strukturierten Hintergrundwissen zu tun, sondern mit Gründen. Allerdings wären diese Gründe nun die Folge eines neuen rekursiven Wissens auf Seiten des anderen Bruders: Ich sehe – und weiß nun –, daß mein Bruder nicht weiß, daß sich in dem Zimmer unser Freund ausruht; also muß ich es ihm sagen, denn die Schweigegeste allein reicht nicht aus. Erst jetzt werden grammatisch vollständige Sätze nötig. Bis dahin genügte die vom Hintergrundwissen getragene Rekursivität völlig.

Wenn Habermas in seinem neuen Buch seinen eigenen „sozialkognitiven“ Ansatz von „egologischen Bewußtseinsphilosophien“ á la Husserl absetzen will, verwendet er gerne das Adjektiv „mentalistisch“, das er auch Tomasellos Konzept anheftet: „Michael Tomasello selbst präsentiert allerdings die erklärenden Gründe in einer anderen evolutionären Reihenfolge; er folgt einer mentalistischen Erklärungsstrategie, indem er die symbolischen Bedeutungen auf geteilte Wahrnehmungen und Intentionen zurückführt.“ (Habermas 2012, S.63, Anm.Nr.10)

Geht es nach Habermas, darf mit dem Bewußtsein einfach nicht angefangen werden. Deshalb ignoriert Habermas auch konsequent die vor dem neunten Lebensmonat liegende Entwicklung des kleinen Kindes. Erst mit dem Beginn einer triadischen Beziehung zwischen Mutter und Kind, also mit der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf etwas Drittes, den Gegenstand, wird sein Interesse geweckt: „Hier sehen wir in statu nascendi, wie die Gestenkommunikation auf dem Wege einer intersubjektiven Verschränkung der jeweiligen Blickrichtungen und Wahrnehmungen den objektivierenden Bezug zu etwas in der Welt erst entstehen lässt.“ (Habermas 2012, S.61)

Da Tomasello aber den vorangegangenen Lebensmonaten des kleinen Kindes die gleiche Aufmerksamkeit und Wertschätzung widmet wie der nachfolgenden Entwicklungsperiode bis zum vierten und fünften Lebensjahr, wo die Dominanz einer „intersubjektive(n) Verschränkung“ in eine individuelle Balance aus individuellem und kulturellem Lernen übergeht (vgl. meinen Post vom 24.05.2011), muß er sich von Habermas den Vorwurf einer „mentalistischen Erklärungsstrategie“ gefallen lassen. Dabei tut Tomasello nichts anderes, als dem Kind auch vor seiner vollausgebildeten Sprachkompetenz ein Bewußtsein zuzubilligen. Nicht erst, wenn wir unsere Mitmenschen in ganzen Sätzen mit einem Arsenal von „semantisch verknüpften“ Gründen (vgl. Habermas 2012, S.56) auf kooperatives Handeln einzustimmen versuchen, haben wir auch Bewußtsein, – und von ihm her rekursive Annahmen über das Bewußtsein anderer wie uns.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen