„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 1. Februar 2013

Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012

1. Prolog
2. Evolution auf der Basis morphischer Resonanz
3. Der ‚Geist‘ in der Naturwissenschaft
4. Ganzheiten wie z.B. eine Welle
5. Die Metapher des Gravitationsfeldes
6. „Brauchen wir wirklich ein Gehirn?“
7. Rekursivität und Doppelblindverfahren
8. Eine zeitliche Anatomie des Körperleibs

Sheldrakes Theorie der morphogenetischen Felder ist schwer einzuordnen. Sie ist weder eine reine Naturwissenschaft noch eine reine Geisteswissenschaft. Tatsächlich übernimmt bei Sheldrake der Feldbegriff die Funktionen des ‚Geistes‘ bzw. der ‚Seele‘ oder, schlichter formuliert, des Sinns in den Geisteswissenschaften: „So gut wie überall sind Felder an die Stelle der Seele der klassischen und mittelalterlichen Philosophie getreten.()“ (Sheldrake 2012, S.52)

Tatsächlich gibt es zahlreiche Analogien in der Funktionsweise von Feldern und der ‚Seele‘, auf die ich in einigen der folgenden Posts noch eingehen werde. Für jetzt mag es genügen, wenn ich hier festhalte, daß ich mich mit Sheldrakes Konzept nicht so sehr aus einer naturwissenschaftlichen, sondern mehr aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive heraus befassen werde. Dabei interessiert mich insbesondere Sheldrakes feldtheoretischer Zugang zum Gestaltbegriff.

Mit dem Gestaltbegriff habe ich mich im Rahmen dieses Blogs erstmals bei meiner Lektüre von Plessners Büchern befaßt. (Vgl. meine Posts vom 21.06.22.10. und vom 29.10.2010) Plessner faßt den Gestaltbegriff auf der Ebene biologischer Gattungen als Ausdrucksbeziehung zwischen der Gattung und den Individuen: die Individuen bewegen sich in ihrer Ontogenese im Rahmen der von der Gattung vorgegebenen Form, die sie auf jeweils individuelle Weise verwirklichen. Die Gestalt einer Gattung hat keine eigene materielle Basis, sondern fungiert als Idee, die wiederum eine Art „Spielraum“ für die individuelle Ontogenese darstellt. (Vgl. Plessner 1975/1928, S.137) Ihren materiellen ‚Ausdruck‘ – ob Plessner zu diesem Zeitpunkt der Begriff der Genexpression schon geläufig war, ist wohl eher unwahrscheinlich – findet die „Gestaltidee“ also in den Individuen.

So versteht Plessner auch die Evolution als einen fortlaufenden, kontinuierlichen Gestaltwandlungsprozeß, in dem ‚Individuen‘ zu neuen Ausdrucksformen ihrer Gestaltideen finden, die sich wiederum entsprechend diesen individuellen Variationen selbst ändern und zu neuen Gestaltideen formen. Zugleich haben die Gestaltideen eine stabilisierende Funktion. Sie bilden das Beharrende im individuellen Werden, das dieses Werden trägt, so wie das individuelle Werden im Finden konkreter Ausdrucksformen die Gestaltideen allererst realisiert, also diese wiederum ‚trägt‘: „Das Werden bestimmt sich als das Werden eines Etwas (des Beharrenden) in dem Modus, daß das Beharren das Werden ‚trägt‘, oder das Beharren bestimmt sich als das Etwas eines Werdens, wobei das Werden das Beharren trägt. Jede Bestimmungsform ist ein Moment dessen, was Prozeß heißt.“ (Vgl. Plessner 1975/1928, S.134) – Wir haben also bei Plessner einen engen Zusammenhang zwischen der biologischen Ebene der Gestaltentwicklung und geistigen Phänomenen.

In meiner Habilitationsschrift „Lernen und Leistung“ (2005) habe ich mich mit dem Lernbegriff der geisteswissenschaftlichen Pädagogik auseinandergesetzt. Auch dort gibt es einen Gestaltbegriff, der vor allem auf geistige Phänomene, auf Sinnphänomene bezogen ist. Beim geisteswissenschaftlichen Lernbegriff geht es um die ‚exemplarische‘ Beziehung zwischen Lerngegenstand und Lernsubjekt. Diese exemplarische Beziehung beschreibt Hans Scheuerl („Die exemplarische Lehre“ (1964)) anhand eines Kraftfeldes, und er bezieht sich dabei auf das Atommodell: „... unteilbar, und doch aus Elementarteilen zusammengesetzt, die nur deshalb nicht auseinanderbersten, weil sie – mit ungeheuren gegensätzlichen Energien geladen – ineinander verklammert sind.“ (Zitiert nach Zöllner 2005, S.253)

Lerngegenstand und Lernsubjekt bilden also Kraftfelder, die sich gegenseitig anziehen, wobei das Kraftfeld des Lerngegenstands in der exemplarischen Beziehung auf andere ‚Kraftfelder‘, sprich Lerngegenstände abstrahlt, die nun ebenfalls in den Fokus des Lernsubjekts geraten und sein Interesse wecken. Scheuerls Kraftfeld-Metaphorik, die vor allem die Funktionsweise des individuellen Interesses bzw. der ‚Lernmotivation‘ veranschaulichen soll, soll dazu beitragen, die traditionelle Schulfachsystematik durch ein Curriculum zu ersetzen, das vor allem vom individuellen Interesse der Lernsubjekte geprägt ist.

Schon in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler Analogien zwischen psychischen und physikalischen Prozessen gezogen und sich dabei des Feldbegriffs bedient: „W. Köhler hat Faradays und Maxwells Begriff des Feldes () für die Psychophysiologie zu nutzen gesucht. In einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1920 () legte er dar, daß die beiden Kriterien, die von Ehrenfels 1890 () für den ‚Gestalt‘-Charakter erlebter Zustände und Vorgänge, z.B. einer Melodie, benannt hatte, auch bei einigen physikalischen Gegenständen erfüllt sind.“ (Wilhelm Witte in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.2: d-F, 1972, Sp.926) Mit Hilfe des Feldbegriffs entwickelte Köhler physikalische Modelle für die Gestaltwahrnehmung.

Der Sozialpsychologe Kurt Lewin bezeichnete in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den „Lebensraum“ des Menschen als „psychologisches Feld“: „Um das psychologische Feld angemessen zu charakterisieren, hat man derart spezifische Dinge wie besondere Ziele, Reize, Bedürfnisse, soziale Beziehungen als auch allgemeinere Eigenschaften des Feldes wie die Atmosphäre (beispielsweise die freundliche, gespannte, feindliche Atmosphäre) und das Maß an Freiheit zu berücksichtigen. Die Eigenschaften des ganzen Feldes sind in der Psychologie so wichtig wie beispielsweise in der Physik das Gravitationsfeld für die Erklärung von Ereignissen im Rahmen der klassischen Physik.“ (Verhalten und Entwicklung als eine Funktion der Gesamtsituation (2012/1946), S.273)

Tatsächlich reicht der Gedanke eines physikalische wie psychische Phänomene umfassenden, einheitlichen Feldbegriffs bis in die griechische Antike zurück. Der Feldbegriff hat seine Wurzeln in dem „Pneuma“ der Stoa, „denn im Gegensatz zur Aristotelischen geometrischen Kinematik (Kreisbewegung) und der atomistischen Kombinatorik (Komplexionen von Atomen) ist nach den Stoikern die Ordnung, die Einheit und der Zusammenhang des Kosmos dynamisch dadurch bestimmt, daß ein() alle Stoffe durchdringendes Pneuma eine Spannung (τóνος) erzeugt, die die Ursache aller Bewegungen und aller spezifischen Qualitäten der Stoffe ist ().“ (Vgl. HWdPh, Sp.923)

Dieser vielleicht etwas umständlich erscheinende Umweg über Plessner, Scheuerl, Köhler, Lewis und die Stoiker soll erklären, inwiefern ich Sheldrakes morphogenetische Felder gerade aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive so interessant finde.  Da Sheldrake keinen prinzipiellen Unterschied zwischen materiellen und geistigen Feldzuständen sieht, werden plötzlich über die morphische Resonanz Wechselwirkungen denkbar, die die traditionellen Naturwissenschaften im Rahmen eines dogmatischen Materie-Geist-Dualismus oder eines nicht minder dogmatischen monistischen Materialismus nicht zulassen konnten: „Unter dem Gesichtspunkt der morphischen Resonanz besteht zwischen der genetischen Vererbung von Form und Verhalten und der kulturellen Vererbung von Verhaltensmustern nur ein gradueller und kein grundsätzlicher Unterschied.“ (Sheldrake 2012, S.243)

Indem Sheldrake morphischen Feldern ein Gedächtnis zuspricht, wirken sie wie ‚Ideen‘, also entsprechend Plessners Gestaltideen: „Sie tragen Zeit in sich; sie besitzen durch morphische Resonanz gegebene Erinnerungen an ähnliche frühere Systeme, und sie ziehen Organismen durch rückwärts wirkende Kausalität zu End- oder Zielpunkten hin.“ (Sheldrake 2012, S.197) – Zwischen morphischen Feldern und morphischer Resonanz unterscheidet Sheldrake, indem die Wirkungsweise der Felder lokal und die Wirkungsweise der Resonanz nicht-lokal ist. (Vgl. Sheldrake 2012, S.138) Insofern die morphogenetischen Felder „selbstorganisierende Systeme“ stabilisieren, zu denen Sheldrake „Atome, Moleküle, Kristalle, Zellen, Gewebe, Organe, Pflanzen, Tiere, Tiergesellschaften, Ökosysteme, Planeten, Sonnensysteme und Galaxien“ zählt (vgl. Sheldrake 2012, S.172f.), haben wir es mit Gestaltideen zu tun, die über die nicht-lokale, also raumzeitlich unabhängige Resonanz miteinander in Wechselwirkung stehen.

Ich habe versucht, das in Form einer weiteren Modifikation unserer Graphik vom 21.04.2010 darzustellen. Sheldrake beschreibt den Evolutionsprozeß als einen ‚kreativen‘ Prozeß, – nicht etwa weil wir es mit einem göttlichen Urheber zu tun hätten, sondern weil die Naturgesetze Sheldrake zufolge nicht festgelegt sind. Der Begriff Natur-‚Gesetz‘ bildet vielmehr nur eine anthropomorphisierende Metapher, die die Naturwissenschaft zum Dogma erhoben hat: „Sobald wir die ewigen Gesetze einmal in Frage stellen, werden sie tatsächlich fragwürdig, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist schon der Begriff ‚Naturgesetz‘ anthropozentrisch. Nur Menschen kennen Gesetze ...“ (Sheldrake 2012, S.117)



Sheldrake versteht die Naturgesetze bloß als Gewohnheiten, was auch den mathematischen Zwang, das Universum zu multiplizieren, überflüssig macht. Wenn feststehende Naturgesetze in Form von Naturkonstanten es extrem unwahrscheinlich machen, daß aus dem Urknall ein Universum entsteht, das eine biologische Evolution und den Menschen ermöglicht, so daß man sich gezwungen sieht, eine Fülle von Paralleluniversen anzunehmen, von denen unser Universum nur noch eines unter vielen und deshalb nicht mehr ganz so unwahrscheinlich wäre, besteht der Vorteil der Annahme, daß es sich bei den ‚Naturgesetzen‘ nur um Gewohnheiten handelt, „die durch Gewohnheit stärker werden“, einfach darin, auf jene mathematisch begründete Zwangsvorstellung verzichten zu können. (Vgl. Sheldrake 2012, S.133)

Sheldrake geht also von einem ‚kreativen‘ Evolutionsprozeß aus, einfach weil ihm dies als vernünftiger erscheint, getreu dem Motto: „Ich bin uneingeschränkt für Wissenschaft und Vernunft, solange sie wissenschaftlich und vernünftig sind.“ (Sheldrake 2012, S.430)

Die modifizierte Graphik erscheint nun insgesamt als viel weniger kompliziert als die Graphik, die ich gestern vorgestellt habe. Sie ist einfacher und eleganter. Alle Evolutions- und Entwicklungsebenen werden von ihren spezifischen morphischen Feldern getragen und stabilisiert. Zugleich befinden sie sich über die morphische Resonanz in ständiger Wechselwirkung zueinander.

Allerdings hat diese Graphik gerade aufgrund ihrer Eleganz und Schlichtheit einen gravierenden Nachteil: sie kann nicht erklären, wie es zu Diskontinuitäten kommen kann, zu Abbrüchen, zu singulären Katastrophen wie etwa das Aussterben von Arten oder den Kollaps von Kulturen. Sie kann nicht den sich stets erneuernden Bruch zwischen den Generationen erklären, der den humanitären Bestand gefährdet und durch Erziehung und Bildung überbrückt werden muß. Kurz: Sheldrakes Theorie versagt angesichts der anthropologischen Verfassung, die Plessner als exzentrische Positionalität beschreibt. Allerdings finden sich bei Sheldrake hier und da durchaus einige parallele Ansätze, auf die ich insbesondere im letzten Post noch zu sprechen kommen werde.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen