„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 4. März 2011

Stanislas Dehaene, Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, München 2010 (2009)

  1. Beschreibungssubjekt und Handlungssubjekt in der Gehirnforschung
  2. Zur Interdisziplinarität der Gehirnforschung
  3. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Bewußtsein und Verhalten
  4. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Konkurrenz versus Wechselseitigkeit
  5. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Gestaltwahrnehmung
  6. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Protobuchstaben
  7. Zur neurophysiologischen Funktionalität des Gehirns: Schulunterricht
Wenn ich Stanislas Dehaenes Buch „Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert“ (2010) lese, halten sich bei mir Zustimmung und Ablehnung die Waage. Viele seiner neurophysiologischen Erkenntnisse sind ungeheuer anregend – wie in den folgenden Posts noch zu zeigen sein wird – und helfen einem dabei, die eigenen Überlegungen zum Verhältnis von Phylogenetik (Biologie und Kultur) und Ontogenetik (individuelles Bewußtsein) zu präzisieren und zu korrigieren. Aber viele seiner Kommentare und Schlußfolgerungen zur kulturellen und individuellen Entwicklung sind einfach nur ärgerlich, weil sie sich angesichts des Gesamtzusammenhangs menschheitlicher und kultureller Entwicklung zu sehr auf die neurophysiologische Funktionalität beschränken und deshalb einfach zu kurz greifen. Das ergibt dann eine ungute Mischung aus Halbwahrheiten und Halbfalschheiten, die dem Erkenntnisprozeß nicht sehr förderlich sind.

Das Grundproblem scheint mir immer mehr vor allem in der unpräzisen, schwammigen Ausdrucksweise zu liegen, die ich bei den meisten Gehirnforschern und eben auch bei Stanislas Dehaene vorfinde. Damit meine ich nicht etwa deren neurophysiologische Begrifflichkeit selbst, denn hinsichtlich der Anatomie des Gehirns sind sie immer sehr präzise und sehen genau hin, – anders kann man wohl auch kaum neurophysiologische Forschung betreiben. Sobald sie aber über die neurophysiologischen Bedingungszusammenhänge hinausgehen und ihre Erkenntnisse auf das individuelle Verhalten und auf gesellschaftliche und kulturelle Prozesse zu beziehen versuchen, wird ihre Sprache seltsam unpräzise und metaphorisch. Um deutlich zu machen, was ich meine, möchte ich hier versuchsweise von der Differenz zwischen Beschreibungssubjekt und Handlungssubjekt sprechen, die von den Neurophysiologen durchweg mißachtet wird, was zu der erwähnten unguten Mischung aus Halbwahrheiten und Halbfalschheiten führt.

Als Beschreibungssubjekt möchte ich alle diejenigen Satzsubjekte bezeichnen, die mit beschreibenden Prädikaten versehen sind. Das Gehirn und seine Anatomie bilden das Beschreibungssubjekt der Gehirnforschung. In bezug auf dieses Beschreibungssubjekt versucht die Gehirnforschung alle möglichen Prädikate zu ermitteln. Die neurophysiologischen Prozesse, die die Gehirnforscher beobachten, erfüllen in einem bislang noch weitgehend unbekannten Gesamtzusammenhang wechselseitiger Funktionalität bestimmte Funktionen.

Als Handlungssubjekt möchte ich alle diejenigen Satzsubjekte bezeichnen, die mit Handlungsprädikaten versehen sind: Jemand tut etwas, erkennt etwas, entscheidet etwas, will etwas, fühlt etwas. Wenn ich diese Prädikate verwende, beschreibe ich nicht mehr einen Gegenstand (Beschreibungssubjekt), sondern ich verleihe jemandem den Status eines Handlungssubjekts. Unter Umständen kann man diese Handlungsprädikate in metaphorischer Absicht auch auf Beschreibungssubjekte anwenden, – wenn man weiß, was man tut; wenn man also zwecks Veranschaulichung die Verwendung einer solchen Metapher bewußt kontrolliert, wie z.B. Dehaenes gleichermaßen schönes wie lehrreiches Bild für die Abstimmung spezialisierter Neuronen bei der Wahrnehmung als geistig beschränktes Dämonenparlament. (Vgl. Dehaene 2010, S.56ff.)

Neurophysiologen sind aber in nicht sehr schöner Regelmäßigkeit blind für den kategorialen Unterschied zwischen ihrem Beschreibungssubjekt, dem Gehirn und seiner Funktionalität, und Handlungssubjekten wie z.B. Menschen. Um ein noch recht harmloses Beispiel zu wählen: Dehaene beschreibt den Vorteil von Piktogrammen gegenüber abstrakten Buchstaben damit, daß man, um Piktogramme zu verstehen, nicht extra lesen lernen muß, denn „jedes normale Gehirn kann im Bild einer Ähre das Symbol für Getreide erkennen.“ (Dehaene 2010, S.207) – Das ist sicherlich noch ein eher harmloser Fehlgriff in der Verwendung des Beschreibungssubjekts ‚Gehirn‘ als Handlungssubjekt. Aber ist der berüchtigte ‚einfache Mann‘ auf der Straße künftig vielleicht nur noch das ‚einfache Gehirn‘ auf der Straße?

Diese Angewohnheit, ihre Beschreibungssubjekte als Handlungssubjekte darzustellen, verleitet Gehirnforscher zu viel weiter gehenden Verallgemeinerungen und Metapherbildungen. Wenn z.B. bei Dehaene von den Menschen vor 5000 Jahren die Rede ist, die die ersten Schriften entwickelt haben, treten diese plötzlich als Neurophysiologen auf. Der heutige Gehirnforscher Dehaene verallgemeinert also mal eben so mit leichter Hand seine Perspektive über die Zeiten hinweg auf eine Gruppe von Menschen, die noch keine Magnetresonanztomographie und keine Kernspinresonanzspektroskopie zur Verfügung gehabt hatten! Diese Menschen haben demnach nicht einfach nur irgendwelche Piktogramme und Symbole oder Striche und Kratzer nach Belieben und Gutdünken ästhetisch und pragmatisch erprobt, verfeinert und verbessert, sondern sie haben, so Dehaene, entdeckt, „dass die Schläfenregion im Hinterhaupt auch dazu herangezogen werden kann, das Wort nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich weiterzugeben“ (vgl. Dehaene 2010, S.195). Man stelle sich „die Menschen“ vor 5000 Jahr vor, wie sie – möglicherweise Kannibalen? – am geöffneten Gehirn ihre Sprach- und Schriftexperimente ausführen, bevor sie ihren Gefangenen verspeisen!

So haben dann auch die vorzeitlichen Menschen in der Höhle von Lascaux, als sie mit einfachen Konturen Bisons und Pferde gleichermaßen treffsicher wie lebendig auf die Höhlenwände zauberten, nicht etwa Kunstwerke geschaffen. (Vgl. Dehaene 2010, 212) Dehaene sieht in ihnen vielmehr ein Beispiel für „eine erste, offensichtlich strikt empirische Manipulation des Menschen an seinem Nervensystem“. (Vgl. Dehaene 2010, S.203) Da fragt man sich schon, ob Gehirnforscher vielleicht berufsmäßig einfach unfähig sind, sich vorzustellen, daß Menschen auch ohne den Umweg über die Beobachtung von Gehirnfunktionen irgendetwas entdecken oder erfinden können?

Selbst der vergleichsweise bescheidene Reduktionismus, für den Dehaene selbst sich einsetzt, verführt ihn dazu, „Familien- und Gesellschaftsstruktur, religiöse Tradition, Musikstile, künstlerische Ausdrucksformen usw.“ ohne weitere Spezifizierung ihrer phänomenalen Struktur auf eine „Kultur der Neurone“ zurückzuführen. (Vgl. Dehaene 2010, S.353) Das macht ihn blind für die Eigenständigkeit kultureller Phänomene. Ihnen wird kein eigenständiger Status als Beschreibungssubjekten zuerkannt, zu deren Kennzeichnung es spezieller kultureller Prädikate bedarf. Stattdessen metaphorisiert Dehaene kulturelle Prozesse mittels einer medizinisch-biologischen Terminologie. So verbreiten sich kulturelle Neuerungen in unserem Gehirn wie eine Virusepidemie: „... genau wie eine Virusmutante eine Lücke in der Immunabwehr eines Organismus findet. ... Als Sieger gehen jene Repräsentationen hervor, die innerhalb der menschlichen Hirnstruktur Schaltkreise vorfinden, die sich für ein effizientes neuronales Recycling eignen.“ (Vgl. Dehaene 2010, S.167)

Wer so über kulturelle Prozesse schreibt, versteht vielleicht etwas von Gehirnen, aber nichts von Kultur. Dehaene hat zwar den Vorzug gegenüber schwadronierenden Neuropseudophilosophen wie Metzinger, daß er das Gehirn in seiner ganzen Anatomie als Funktionszusammenhang zum Gegenstand macht, aber er isoliert es letztlich genauso gegenüber dem Funktionszusammenhang des ‚Restkörpers‘. So sehr Dehaene sich darum bemüht, soziale und kulturelle Zusammenhänge in seine Forschung mit einzubeziehen, werden diese letztlich doch aufgrund der ständigen Verwechslung von Beschreibungssubjekt und Handlungssubjekt und aufgrund des ständigen Kurzschließens und Zurückstutzens von Bedingungszusammenhängen auf die neurophysiologische Funktionalität als Phänomene völlig nivelliert, also zum Verschwinden gebracht.

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