„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. Januar 2011

Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen des menschlichen Verhaltens, München 1950 (1941)

1. Positionalität und Haltung
2. Positionalität und Situation
3. Gefühl und Sinn
4. Verstand und Herz
5. Dummheit und Intelligenz

Im letzten Post war vom ‚Spielraum‘ die Rede, von der ‚Bewandtnis‘ und vom ‚Sinn‘, alles Begriffe, die Plessner zur Beschreibung desselben Phänomens verwendet: für die Möglichkeit, auf eine Situation eine eindeutige Antwort zu finden und sich zu ihr, also zur Situation, zu verhalten: „Worauf aber der Mensch, schon als benennendes und wie erst als sorgend-besorgtes, planendes und fragendes Wesen, nicht verzichten kann, wenn er menschlich leben will, ist: daß es mit allem, was ihm begegnet, ihn umgibt und trägt, überhaupt eine Bewandtnis hat. ... Bewandtnis haben heißt für den Menschen: sich an etwas halten können, weil es das ist und nicht jenes, und mit ihm etwas anfangen können: Etwas als etwas ansprechen können – auf die Gefahr hin, daß es widerspricht; Etwas zu etwas machen können – auf die Gefahr hin, daß es sich dem Zugriff entzieht; Etwas als etwas gelten lassen – auf die Gefahr hin, daß sich als etwas anderes entpuppt.“ (Lachen/Weinen, S.187)

Weil aber der Begriff der Bewandtnis zu sehr auf die Zweckhaftigkeit des menschlichen Verhaltens verweist, aber auch zweckfreie Verhaltensformen des Ästhetischen und des Spiels zur exzentrischen Positionalität des Menschen gehören, schlägt Plessner vor, statt von ‚Bewandtnis‘ lieber von „Sinn und Sinnzusammenhang“ (Lachen/Weinen, S.188) zu sprechen: „Ohne ein Minimum an Sinnhaftigkeit, ohne den Versuch wenigstens, Hinweise vom einen zum anderen zu finden, ohne Richtung (und Sinn ist Richtung, Hinweis auf ..., Anknüpfungsmöglichkeit) kein menschliches Leben. Es müsse mit allem und jedem seine Bewandtnis, irgendeine Bewandtnis haben, besagt nicht die Forderung einer allgemeinen Kausalität oder Teleologie, sondern die Erwartung von Zusammenhängen und Bezügen, in die der Mensch mit etwas sich einfügt: als was, woraufhin es ansprechbar, befragbar, bearbeitbar, mit einem Wort: zu nehmen ist.“ (Lachen/Weinen, S.188)

Der Spielraum hält eine Situation in ihrer Mehrdeutigkeit in der Schwebe, ohne ihre Vereindeutigung in einer schließlichen Antwort zu behindern. Er bewahrt einen „labilen Zwischenzustand() einer immer wieder zu erneuernden Bindung, die gegenseitig und gegensinnig zugleich ist, weil sie in Binden und Sich-binden-lassen besteht.“ (Lachen/Weinen, S.104f.) – Im Spielraum ‚spielen‘ wir mit der Möglichkeit, uns binden zu lassen, ohne gleich damit Ernst zu machen.

Zum Spielraum gehört also Bindung, in der Schwebe gehaltene Bindung, und Bindung wiederum ist Gefühl. Sie bzw. es ist der Grund, warum wir uns aus einer Situation, auf die wir keine Antwort finden können, die uns keinen Spielraum läßt, nur durch Lachen befreien können: „Nur dieser Widerstand erklärt die Spannung, die sich im Lachen löst, und er wiederum ist auf die Bindung bezogen, welche die Situation auf den Menschen ausübt. Sie hält ihn fest und verwehrt ihm zugleich jede Möglichkeit der Anknüpfung. Bestimmungen wie Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, Mehrsinnigkeit, Sinnverkürzung sind auf diesen Antagonismus zwischen Bindung und Unbeantwortbarkeit bezogen.“ (Lachen/Weinen, S.150)

Bindung, wie gesagt, ist Gefühl: „Gefühl ist wesentlich Bindung meiner selbst an etwas, Bindung, die mir eine weit geringere Selbständigkeit gegenüber Dingen, Menschen, Werten, Gedanken, Ereignissen läßt als Anschauung, Wahrnehmung und jede sonstige motivierte Stellungnahme zu Objekten.“ (Lachen/Weinen, S.171) – Und insofern erscheint Lachen als Loslösung von der Situation und von den auf sie gerichteten Gefühlen oft als gefühlskalt. Obwohl Plessner dieser Kennzeichnung nur einschränkend zustimmt. (Vgl. Lachen/Weinen, S.154) Er führt diese Gefühlskälte aber darauf zurück, daß das Lachen im Unterschied zum Weinen mit einer verobjektivierenden Tendenz einhergeht: „Der Anlaß des Lachens, also der Eintritt einer Unterbindung des Verhaltens durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte, wirkt um so stärker, je ‚objektiver‘ er erscheint. Und er erscheint in dem Maße objektiver, in welchem auch andere davon gepackt sind. Insoweit bedarf er der Bestätigung durch andere und gewinnt an Kraft in der Gemeinschaft. Daß der Lachende seines Lachens erst wirklich froh wird, wenn andere mit einstimmen, daß es schallen und gehört sein will – wofür die Ausatmung das angewiesene Mittel ist –, liegt in der gleichen Linie.“ (Lachen/Weinen, S.195f.)

So wird also die eine Bindung an die unbeantwortbare Situation gelöst und durch eine Bindung der Einstimmigkeit des gemeinsamen Lachens darüber ersetzt. Das Lachen ‚tötet‘ also nicht einfach das Gefühl, wie es an einer Stelle in Anlehnung an ein Nietzsche-Wort heißt (vgl. Lachen/Weinen, S.143), sondern ersetzt den Sachbezug des einen Gefühls durch den Gemeinschaftsbezug des anderen Gefühls.

So tritt das Gefühl über seine „Sachverhaftung“ (vgl. Lachen/Weinen, S.170) in einen besonderen Bezug zum Bewußtsein; denn: „Distanzlose Sachverhaftung mittels eines Gefühls kann sich infolgedessen nur bei einem Wesen entwickeln, das überhaupt Sinn für Sachen hat. ... Nur wo ein Verstand ist, kann auch ein Herz sein.“ (vgl. Lachen/Weinen, S.173)

Vielleicht entspricht es nicht Plessners Intention, aber mir gefällt der Gedanke, den letzten Satz umzudrehen: nur wo ein Herz ist, kann auch Verstand sein, weil nämlich die Funktion des Gefühls für das Bewußtsein darin bestehen könnte, die Aufmerksamkeit zu ‚binden‘, sie zu richten auf Situationen und Objekte, so daß ohne das Gefühl das Bewußtsein leer wäre, also schlicht gar kein Bewußtsein wäre: „Als durchstimmende Angesprochenheit steht das Gefühl ... zwischen ‚Reaktion‘ und ‚Antwort‘. Für eine Reaktion, die unvermittelt wie ein Reflex ausgelöst wird, ist es zu lose mit dem Anlaß verknüpft. Es wird nicht einfach (von einem Reiz) ausgelöst und gleichsam in Gang gebracht, sondern eine Qualität ‚spricht‘ zum Menschen und weckt in ihm eine Resonanz. Und für eine Antwort ist das Gefühl wieder zu innig an den Anlaß gebunden. Dieser ruft nicht erst eine persönliche Stellungnahme hervor und schafft keine fragliche Situation, sondern bringt den Menschen (wenn auch über eine Distanz hinweg, dem Echo vergleichbar) zum Erklingen. Als entsprechende Schwingung, in die tiefer oder flacher, stiller oder aufgeregter der ganze Mensch gerät, hält das Gefühl zwischen Reaktion und Antwort, den beiden Typen der Entgegnung, welche das Leben kennt, die Mitte.“ (Lachen/Weinen, S.174)

In dieser Mitte zwischen Reaktion und Antwort, in der sich das Gefühl ‚hält‘ – also auch wieder eine ‚Haltung‘ darstellt –, öffnet sich der Raum des Bewußtseins, wie es Plessner in den „Stufen“ als Funktion des Zentralnervensystems beschreibt: „Der nervöse Apparat ist nur das Mittel der Unterbrechung zwischen dem Gesamtkörper und – dem Körper, als sensorischmotorischem Antagonismus, der die Fülle der Organe umspannt.“ (Stufen, S.244)

Indem der Reflexbogen zwischen Reiz und Reaktion unterbrochen wird, kann aus der Reaktion eine Antwort werden; oder wie es in den „Stufen“ heißt: zwischen „Merken“ (Gefühl bzw. Bindung) und „Wirken“ (Antwort) „spannt sich die Sphäre des Bewußtseins, durch welche hindurch der Übergang vom Merken in’s Wirken stattfindet.“ (Vgl. Stufen, S.245)

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