„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 28. Januar 2011

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7/1988 (1956)

(Über prometheische Scham, S.21-95; Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, S.97-211; Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück „En attendant Godot“, S.213-231; Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, S.233-308)

1. Bilder, Phantome und Informationen
2. Falsche Lebenswelten (coram publico)
3. Falsche Lebenswelten (Verbiederung)
4. Falsche Lebenswelten (Produktion)
5. Falsche Lebenswelten (Technik, A & B)
6. Falsche Lebenswelten (persönliche Verantwortung)
7. Mensch und Natur
8. homo ‚excentricus‘
9. Skizzen zu einer ästhetischen Bildung

„Homo ‚excentricus‘“ ist ein Kunstwort: ‚excentricus‘ habe ich als Stichwort in meinem lateinischen Wörterbuch nicht gefunden, so daß es sich um eine Rückübersetzung von aus dem aus ‚ex‘ und ‚centralis‘ zusammengesetzten ‚exzentrisch‘ ins Lateinische handelt. Eigentlich ist ‚exzentrisch‘ aber auf lat. „eccentros“ zurückzuführen, welches wiederum von griech. „èkkentros“ stammt. Mit „homo excentricus“ will ich jedenfalls zum Ausdruck bringen, daß ich die exzentrische Positionalität des Menschen für eine ‚Wesens‘-Bestimmung halte, – wobei ich eigentlich was gegen den Begriff des Wesens habe. Er ist mir zu metaphysisch, d.h. er läßt die Welt in zwei Bereiche auseinanderfallen: in einen physischen und in einen ideellen, die dann dazu verleiten, sie gegeneinander zu setzen und einander über- bzw. unterzuordnen. Nun beinhaltet aber gerade der Begriff des Exzentrischen eine solche Zweiteilung des Seins, d.h. des menschlichen Seins oder auch seiner ‚Natur‘. Eine klare Differenzierung von ‚Welt‘, ‚Sein‘ und ‚Natur‘ wäre an dieser Stelle sicher wünschenswert, aber sie ist vielleicht gar nicht möglich. Vor allem aber: ich fühle mich dazu auf meinem derzeitigen Stand nicht in der Lage.

Jedenfalls ist die angedeutete Zweiteilung des Menschen nicht etwa in dem Sinne gemeint, daß ein Moment einem anderen über- bzw. untergeordnet wird; gemeint ist vielmehr seine Stellung (Position) zur Welt: der Mensch ist der Welt gleichzeitig gegenübergestellt und befindet sich mitten in ihr, im Zentrum. Plessner spricht davon, daß der Mensch gleichzeitig Zentrum und Peripherie ist. Diese Positionalität ergibt sich aus dem spezifisch menschlichen Verhältnis zu seinem Körper, also aus der Körper-Leibgrenze. In dieser Hinsicht kann man tatsächlich von einer ‚Natur‘ des Menschen sprechen, denn diese Positionalität ist unveränderlich. Das gilt auch für den technischen Zugriff auf den Menschen, gleichgültig ob wir dabei an Cyborgs denken oder an Genexperimente. Selbst geklonte Kopien würden wieder zu Individuen heranwachsen, einfach weil sie noch einen Leib hätten und damit eine Körper-Leibgrenze. Inwiefern dies auch für geklonte Tiere gilt, will ich hier nicht entscheiden. Mir geht es an dieser Stelle vor allem um den Menschen. Nur er hat eine exzentrische Positionalität zur Welt, die sich genetisch prinzipiell nicht manipulieren läßt.

Ohne also wirklich eine klare Vorstellung von dieser exzentrischen Positionalität des Menschen zu haben, findet sich in Anders’ Analysen eine Fülle von Hinweisen darauf. Die Begriffe der Scham als Störung des Identitätsbezugs des Menschen und des prometheischen Gefälles als in der technischen Zivilisation sich öffnender „Kluft“ zwischen seinen Vermögen, die mit der technischen Entwicklung nicht mithalten, entsprechen letztlich dem von Plessner beschriebenen „Hiatus“ zwischen Leib und Körper, zwischen Haben und Sein.

Das prometheische Gefälle, auf das ich hier näher eingehen will, besteht vor allem zwischen „Machen und Vorstellen“ und zwischen „Tun und Fühlen“, woraus sich ein alles menschliche Handeln korrumpierendes Gefälle zwischen „Wissen und Gewissen“ ergibt. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.16) Bei Machen (Herstellen), Tun (Handeln), Vorstellen und Fühlen handelt es sich Anders zufolge um verschiedene Vermögen, die vor der technologisch geprägten und wachstumsorientierten Marktwirtschaft – sagen wir einfachheitshalber: vor dem Kapitalismus – noch in einem menschlichen Näheverhältnis zueinander gestanden hatten.

Dieses vorkapitalistische Näheverhältnis entsprach zwar ebenfalls keiner prästabilisierten Harmonie zwischen diesen Vermögen, insofern es immer auch eine Kluft zwischen Geist und Körper, zwischen Pflicht und Neigung gegeben hatte (und damit befinden wir uns in der Tat mitten in der von Plessner beschriebenen Grenze von Körper-Haben und Körper-Sein!), aber dabei handelte es sich immerhin um eine Differenz, innerhalb deren ein Ausgleich wenigstens noch denkbar gewesen sei: „Ob es der Antagonismus zwischen ‚Geist und Fleisch‘ war, oder zwischen ‚Pflicht und Neigung‘ – wie furchtbar der Streit in uns auch getobt haben mochte, jede Differenz war doch insofern noch immer eine humane Tatsache gewesen, als sie sich eben als Streit verwirklicht hatte ... da die Kämpfenden einander nicht aus den Augen verloren hatten, die Pflicht nicht die Neigung, und die Neigung nicht die Pflicht, war die Fühlungnahme und Zusammengehörigkeit der beiden eben noch verbürgt, war der Mensch noch dagewesen.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.272)

Mit der technischen Zivilisation ist aber nun die Fähigkeit des Machens bzw. Herstellens ins Unendliche gestiegen, während die Fähigkeit, Handlungszusammenhänge zu überblicken und Gefühle und Vorstellungen mit den Folgen des Handelns zu synchronisieren, gleichgeblieben ist: „Jedes Vermögen hat also seine Leistungsgrenze, jenseits derer es nicht mehr funktioniert, bzw. Steigerungen nicht mehr registrieren kann; die Griffweiten der Vermögen befinden sich nicht in Kongruenz.“ (Antiquiertheit Bd.1, 267)

Anders findet hierfür das schöne Bild von den Vermögen, die einander über eine Kluft hinweg zurufen: „... denn man ruft ja über die Gefälle-Kluft hinüber, so als wären die jenseits der Kluft zurückgebliebenen Vermögen Personen; und sie: die Phantasie und das Gefühl, sind es, die hören sollen, oder denen man überhaupt erst einmal ‚Ohren machen‘ will.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.275) – Hier bewegt sich Anders auf der Höhe der Plessnerschen exzentrischen Positionalität: der Mensch wird sich selbst gegenübergestellt.

Im Grunde handelt es sich bei den verschiedenen „Vermögen“, von denen Anders hier spricht, um die schon bekannte Begrifflichkeit von Körper, Seele und Geist. Und ihren Zusammenhang als Ausdruck einer Persönlichkeit habe ich in meinen Posts bislang mit dem Begriff der „Haltung“ beschrieben. Wir haben es also mit einer insgesamt gestörten ‚Homöodynamik‘ zu tun: Jede menschliche Haltung zerbricht angesichts der Bedrohung durch die Atombombe!

Letztlich beschreibt Anders hier aber ein Grundproblem der Wissenschaft, die ja zunehmend als Technologie auftritt und längst nicht mehr nach dem ursprünglichen Ziel der Aufklärung, nämlich nach einem einheitlichen System des Wissens strebt. Von diesem Ziel haben sich die deutschen Universitäten mit dem sogenannten Bolognaprozeß endgültig verabschiedet. Ulrich Beck hatte in seinem Buch zur „Risikogesellschaft“ (1986) eine Neuorientierung der Wissenschaft auf den Menschen gefordert. Der Mensch sollte wieder im Zentrum der Forschung stehen, um sein Überleben sicherzustellen. Eine solche einheitliche Problemstellung hätte bedeutet, daß die einzelnen Disziplinen wieder einen systematischen Zusammenhang erhalten, in dessen Rahmen sie ihren humanitären Beitrag leisten. Aber der entgegengesetzte Trend hat sich durchgesetzt.

Jedenfalls führt uns das technologische Wissen der Wissenschaften in Bereiche einer ‚Welt‘, die dem menschlichen Vorstellungs- und Gefühlsvermögen aufgrund von „Skalierungsproblemen“ prinzipiell fremd bleiben müssen. Mit Skalierungsproblemen sind Größenunterschiede gemeint, die die jeweiligen Gegenstände in etwas qualitativ anderes verwandeln. Das beginnt schon bei der rein mengenmäßigen Überforderung des Mitgefühls angesichts des Leidens und Sterbens Tausender von Menschen. Mit einem oder zweien kann man mitempfinden. Bei Tausenden sind wir schlicht und einfach überfordert. Tausende von Menschen sind einfach ein anderer ‚Gegenstand‘ als ein einzelnes ‚Du‘, das uns anblickt.

So geht es uns auch mit dem unendlich Kleinen und dem unendlich Großen. Welche Möglichkeiten sich z.B. mit der Nanotechnik eröffnen, grenzt nicht nur an Zauberei. Für unser Vorstellungsvermögen ist es Zauberei! Ganz zu schweigen von den gewaltigen Energiemengen, die durch die Zerstörung des kleinsten Elements, dem Atom, freigesetzt werden. Auch die astronomischen Dimensionen des Weltraums übersteigen prinzipiell unser Vorstellungsvermögen. Schon Goethe war davon ausgegangen, daß Teleskope und Mikroskope eine Gefahr für die moralische Verfassung des Menschen bedeuten, weil sie ihn in eine Welt jenseits seines Wahrnehmungsvermögens entführen.

Ein besonders treffendes Bild für diese Situation hat Philip Pullman in seinem Buch „Das magische Messer“ gefunden. Bei dem magischen Messer handelt es sich um ein Instrument, dessen Spitze unsichtbar ist. Mit dieser Spitze kann man im Gefüge von Raum und Zeit ein Fenster öffnen und in jedes beliebige Paralleluniversum schlüpfen. Im abschließenden dritten Band „Das Bernstein Teleskop“ (Hamburg 2001) wird die Gefahr beschrieben, die mit dem Gebrauch dieses Messers einhergeht:
„‚Kannst du die Spitze dieses Messers erkennen?‘
‚Nein‘, räumte Will ein, denn das Messer verjüngte sich in eine so feine Spitze, die mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen war.
‚Wie kannst du dann alles wissen, was es tut?‘“ (S.201)

Es handelt sich hier um genau dasselbe Problem, wenn wir Atomkraftwerke zur Stromerzeugung verwenden. Wir können nicht wissen, was wir tun, weil wir nicht sehen können, was wir tun. Und dieses Problem besteht, weil wir ein grundsätzliches Skalierungsproblem haben, bzw. wie Anders es ausdrückt, ein Problem mit dem prometheischen Gefälle.

Das von Anders beschriebene prometheische Gefälle führt nun zu einer weiteren neuen, so in der Geschichte noch nicht dagewesenen Kluft, die eine neue exzentrische Positionierung des Menschen bewirkt: zur Kluft zwischen den Generationen vor und nach der Entwicklung der Atombombe und ihrem partiellen Einsatz in Hiroshima und Nagasaki sowie zur Kluft zwischen den Generationen, die unter der beständigen Bedrohung dieser Atombombe leben müssen, und jenen Generationen, an die sie diese Bedrohung weitervererben.

Zunächst zur Kluft zwischen uns und unseren Eltern und Voreltern: „Das Wichtigste, was von unseren Eltern, den ‚letzten Menschen‘, gegolten hatte, ist für uns Söhne, die ‚ersten Titanen‘, ungültig geworden; ihre liebsten Gefühle sind uns fremd ...“ (Antiquiertheit Bd.1, S.240) – Hier eröffnet sich eine neue, außerleibliche Kluft, in der sich ganze Generationen exzentrisch positionieren – zur bisherigen Menschheit! Damit ist erstmals auch eine ganze Generation als solche exzentrisch positioniert, was gleichbedeutend damit ist, daß sie zum Handlungssubjekt geworden ist. Das muß man sich mal klar machen: hier tritt ein überindividuelles Handlungssubjekt auf, das existentiell ähnlich strukturiert ist wie der einzelne, individuelle Mensch!

Diese exzentrische Positionierung wird durch den Bezug dieser Generation auf die Zukunft ergänzt: „Das Jahr 1967 ist gewiß für uns ‚Zukunft‘. Aber das Jahr 2500 als Zukunft und die Menschen des Jahres 2500 als unsere Urenkel aufzufassen, sind wir unfähig.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.282) – Wir haben hier eine weitere neue, diesmal in die Zukunft gerichtete Kluft zwischen den Generationen. Allerdings verweist der Begriff der Nachhaltigkeit darauf, daß die Menschheit in früheren Zeiten kein Problem damit hatte, diese Kluft in ihrem Handeln zu berücksichtigen, wodurch sich die Radikalität dieses Zukunftsbezugs doch sehr relativiert. (Vgl. Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, München 2010) Es ist dem Menschen eben doch möglich, die Zukunft von hundert und mehr Jahren in sein Handeln einzubeziehen. Diese Fähigkeit haben wir allerdings im gegenwärtigen Wirtschaftssystem vollständig verloren, und wir müssen sie uns nun erst wieder langsam und mühsam aneignen.

Dennoch gilt, was Anders daraus schlußfolgert: „Was Religionen und Philosophien, was Imperien und Revolutionen nicht zustandegebracht haben: uns wirklich zu einer Menschheit zu machen – ihr (der Bombe – DZ) ist es geglückt.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.308) – Wir haben hier in der Tat eine nicht-idealistische, vielmehr äußerst realistische neue Perspektive auf die Menschheit als Überlebenssubjekt gewonnen. Mit Plessner könnte man sagen: die Menschheit hat sich zur Welt – ob sie es wollte oder nicht und ob sie es will oder nicht – exzentrisch positioniert. Sie muß sich nun als ganzes in einer Welt positionieren, in der es sie entweder weiterhin geben wird oder nicht.

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