„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 2. Oktober 2025

Begehrungen

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)


Georg Simmel beginnt seine philosophische Analyse des Geldes mit einer Genese des Tauschwertes. Ein Tauschobjekt erhält seinen Wert allererst dadurch, daß jemand es haben will und jemand anderes es hat. Natürlich muß die Tauschpartnerin auch etwas haben, an dessem Besitz sie selbst kein so großes Interesse hat, das aber für den anderen wichtig genug ist, um den von ihr begehrten Gegenstand dagegen einzutauschen. Im Verhältnis zueinander erhalten jetzt also beide Tauschobjekte ihren Wert. Aber der Grund für diese Wertbestimmung liegt nicht in den beiden Tauschobjekten selbst, sondern im Begehren der beiden Tauschpartner. Deren Wille ist der eigentliche Grund für eine aus dem Tauschakt hervorgehende Wertbestimmung.

Der Wille bildet, so Simmel, das „Urphänomen“ der Genese des Werts (vgl. Simmel 2009, S.26): „Alle Deduktionen des Wertes machen nur die Bedingungen kenntlich, auf die hin er sich, schließlich ganz unvermittelt, einstellt, ohne jedoch aus ihnen hergestellt zu werden ‒ wie alle theoretischen Beweise nur die Bedingungen bereiten können, auf die hin jenes Gefühl der Bejahung oder des Daseins eintritt.“ (Simmel 2009, S.26)

Simmel setzt den Wert zunächst mit dem subjektiven Willen gleich. Die Werte spiegeln nur unser Begehren, das uns erfüllt, wenn wir das, was wir wollen, nicht unmittelbar realisieren können: „Wir begehren die Dinge erst jenseits ihrer unbedingten Hingabe an unseren Gebrauch und Genuß, d.h. indem sie eben diesem irgendeinen Widerstand entgegensetzen ... Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt wie zu überwinden sucht ‒ heißt uns ein Wert.“ (Simmel 2009, S.34)

Aus diesem Auseinandertreten von Subjekt und Objekt, den ich mit Plessner als Hiatuserfahrung bezeichne, geht allererst ein „Bewußtseinsprozeß“ hervor. (Vgl. Simmel 2009, S.33) Für diesen elementaren Prozeß brauchen wir keine Metaphysik. Es genügt, die Differenz („Abstand“) zu betonen, denn der Hiatus schließt sich nicht mehr. Erst hier beginnt die Möglichkeit des Wertens: als Differenz. Nicht der Wert steht am Anfang eines Bewußtwerdungsprozesses, sondern die Differenz. Und die Möglichkeit des Wertens bildet nur einen Teil des differenziellen Potenzials.

So weit kann man also Simmels Argumentation folgen. Aber Simmel zufolge entspringt das Selbstbewußtsein nicht einem Hiatus in der Welt, sondern einem Hiatus in uns selbst, also im Inneren unseres Bewußtseins. Er bezeichnet diesen Hiatus als eine „Urtatsache des Selbstbewußtseins“: „Unsere Seele besitzt keine substantielle Einheit, sondern nur diejenige, die sich aus der Wechselwirkung des Subjekts und des Objekts ergibt, in welche sie sich selbst teilt. Dies ist nicht eine zufällige Form des Geistes, die auch anders sein könnte, ohne unser Wesentliches zu ändern, sondern ist seine entscheidende Wesensform selbst. Geist haben, heißt nichts anderes als diese innere Trennung vornehmen, sich selbst zum Objekt machen, sich selbst wissen zu können.“ (Simmel 2009, S.132f.; Hervorhebungen ‒ DZ)

Simmel geht also allen Ernstes davon aus, daß wir nicht erst durch eine Erfahrung in der Welt, sondern schon vor aller Erfahrung uns in uns selbst als Objekt erkennen und so zu einem Selbstbewußtsein kommen. Da traut er unserem Bewußtsein doch etwas zu viel zu. Bewußtsein ist zunächst Intentionalität, und als solche reflektiert es sich nicht selbst, sondern es geht unmittelbar auf Objekte. Erst in der gebrochenen Unmittelbarkeit beginnt es, sich selbst zu reflektieren. Und selbst dann gelangen viele Menschen nicht zu einem Selbstbewußtsein.

Ein Bewußtsein, das sich in sich selbst begründet, ist immer zirkulär. Was war vor dem Bewußtsein, das sich in Subjekt und Objekt gespalten hat? Auf welcher Seite befindet sich das Bewußtsein nach dieser Spaltung: auf der Subjektseite oder auf der Objektseite? Die Fragen, die sich hier stellen, schweben im luftleeren Raum und kreisen um sich selbst. Es ist also kein Wunder, daß Simmel den aus einem inneren Hiatus hervorgehenden infiniten Regreß in eine „Kreisbewegung“ umbiegt und mit einem Zirkelschluß argumentiert: „Indem der Relativismus als Erkenntnisprinzip sich mit der Unterordnung unter sich selbst, die so vielen absolutistischen Prinzipien verderblich wird, gerade von vornherein selbst beweist, drückt er nur am reinsten aus, was er auch jenen anderen leistet: die Legitimierung des Geistes, über sich selbst zu urteilen, ohne durch das Ergebnis dieses Urteilsprozesses, wie es auch ausfalle, den Prozeß selbst illusorisch zu machen.“ (Simmel 2009, S.133)

Wir haben es bei der inneren Trennung (Hiatus) in Subjekt und Objekt mit einem in sich geschlossenen Zirkel zu tun, der sich auf keine Objekte in der Welt bezieht und deshalb auch nichts mehr begehrt. Er genügt sich selbst. Das ganze erste Kapitel der „Philosophie des Geldes“ besteht darin, dieses metaphysische Konstrukt auf die Geldwirtschaft zu übertragen, als „ideelles Reich“ mit seinem „zur Substanz erstarrte(n) Gelten, das Gelten der Dinge ohne diese Dinge selbst“, womit Simmel nichts anderes meint als das Geld. (Vgl. Simmel 2009, S.139)

Simmel selbst weiß um die Problematik eines solchen Reichs: „So ist das wirtschaftliche System allerdings auf eine Abstraktion gegründet, auf das Gegenseitigkeitsverhältnis des Tausches, die Balance zwischen Opfer und Gewinn, während es in dem wirklichen Prozeß, in dem es sich vollzieht, mit seinem Fundamente und seinem Ergebnis: den Begehrungen und Genüssen, untrennbar verbunden ist. Das Entscheidende für die Objektivität des wirtschaftlichen Wertes, die das Wirtschaftsgebiet als selbständiges abgrenzt, ist das prinzipielle Hinausgehen seiner Gültigkeit über das Einzelsubjekt.“ (Simmel 2009, S.62)

Mit dieser „Abstraktion“, dem ideellen Reich der Werte, verlassen wir also die Ebene des unmittelbaren Bezugs auf Tauschobjekte, mit denen wir unsere Bedürfnisse gleichermaßen unmittelbar wie gegenseitig befriedigen. Wo aber bei Simmel beschönigend von einer „Balance zwischen Opfer und Gewinn“ die Rede ist, wird hier zugleich auch ein Konkurrenzverhältnis grundgelegt, in dem die Tauschpartner ihren Gewinn auf Kosten des jeweils anderen zu maximieren versuchen. Die Gegenstände spiegeln nicht mehr unser individuelles Begehren, sondern der Gewinn der einen Tauschpartnerin spiegelt sich im Verlust des anderen. Mit anderen Worten: wir verlassen eine von Individuen bestimmte Praxis und betreten die durch Werte regulierte Praxis der Gesellschaft.

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