„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 31. August 2024

Nicht-Volk


Zu jedem Nicht-Ort gehört ein Nicht-Volk.
Die Bundesrepublik Deutschland ist so ein Nicht-Ort, und sie hat ein Grundgesetz, zu dem das Volk, für das es gilt, erst noch gefunden werden muß.

Mittwoch, 14. August 2024

Kritik an Israel?

Wenn man sich die jüngste „Hart aber fair“-Sendung zum Thema „Israel im Krieg: Kritik erlaubt?“ anschaut, dann sieht man hier, wie die rhetorische Kunst, jemanden vor laufenden Kameras zu diskreditieren und mundtot zu machen, durch einen der Gäste, Philipp Peyman Engel, unter tatkräftiger Mithilfe von Moderator Louis Klamroth auf beispielhafte Weise umgesetzt wird. Ich fühlte mich als Zuschauer dieser makabren Szenen an den Film „Die brillante Mademoiselle Neïla“ von Yvan Attal erinnert.

Es begann damit, daß Herr Engel mit Anspielungen auf angeblich zweifelhafte politische Hintergründe von Enissa Amani den Eindruck erweckte, daß Frau Amani die Hamas als Terrororganisation verharmlose und Partei gegen Israel ergreife. Als Frau Amani daraufhin verständlicherweise in Rage geriet und sich heftig gegen diese Unterstellung zur Wehr setzte, nahm Herr Klamroth nicht etwa die Funktion des unparteiischen Moderators wahr, was bedeutet hätte, Herrn Engel seine Grenzen aufzuweisen. Stattdessen versuchte er, vergeblich, Frau Amani zu ,beruhigen‛. Was ihm mißlang. Dann stellte er sich vor Frau Amanie, um ihr den Blick auf Herrn Engel zu verwehren.

Frau Amani versuchte mal rechts, mal links an Herrn Klamroth vorbei ‒ Herr Klamroth ging wie ein Dompteur mit jeder ihrer Körperbewegungen mit ‒, Herrn Engel zur Rede zu stellen. Unterdessen verglich Herr Engel Frau Amani mit seiner kleinen Tochter, die auch Probleme mit mangelnder Impulskontrolle gehabt habe. Sie sei allerdings inzwischen aus dieser Phase herausgewachsen, während Frau Amani in ihrer Entwicklung anscheinend steckengeblieben sei.

Herrn Klamroths Versuche, die tobende Frau Amani zum Schweigen zu bringen, wurden vom Publikum mit Applaus begleitet. Offensichtlich war auch das Publikum nicht in der Lage, zu erkennen, wie hier durch das perfide Spiel von Herrn Engel eine engagierte Menschenrechtsaktivistin öffentlich hingerichtet wurde. Herr Engel ließ in der Folge keinen der Wortbeträge von Frau Amani ununterbrochen. Sie konnte keine zwei Sätze sprechen, ohne daß Herr Engel ihr mit längeren Monologen dazwischengrätschte, unbeeindruckt von ihren Protesten, doch endlich auch einmal zuende reden zu können. Sie redeten zeitweise über längere Passagen gleichzeitig: Herr Engel gleichmütig, Frau Amani aufgebracht, Herr Klamroth hilflos dazwischen.

In seiner Verzweiflung versuchte Herr Klamroth, der den Fortgang seiner Sendung bedroht sah, zwischendurch auf beide ,Parteien‛ zuzugehen und sie ,unparteisch‛ gleichermaßen dazu zu ermahnen, sich zu mäßigen. Dabei wäre es so einfach gewesen: einfach dem Herrn Engel das Mikro stummschalten! ‒ Aber dann hätte Herr Klamroth ja Partei ergreifen müssen.

Letztlich ist wohl, dank Menschen wie Herrn Engel, Kritik an Israel eben doch nicht erlaubt.

Mittwoch, 7. August 2024

Leere Mengen

Ludwig Wittgenstein hat sich mal als Dorfschullehrer versucht. Intellektueller, der er war, versuchte er, seinen Schülerinnen und Schülern die Zahlenreihe von Null bis Neun beizubringen. Was sich natürlich als kompletter Reinfall erwies. Bei einem Schüler, der einfach nicht kapieren wollte, daß die Zahlenreihe mit einer Ziffer beginnt, die gar nichts zählt bzw. die ,zählt‛, was nicht vorhanden ist, verlor Wittgenstein die Fassung und schlug ihn so hart, daß der Schüler das Bewußtsein verlor. Danach quittierte Wittgenstein vernünftigerweise den Dienst.

Auch ich kann bis heute nicht nachvollziehen, warum die Zahlenreihe mit Null beginnen sollte. Was passiert denn da mit der 10?

0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 (10?)
(10?), 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19 (20?)
usw.?

Haben wir also mit der Zehn jetzt elf Ziffern, von denen eine nichts zählt? Und: positionieren wir die Zwanzig, Dreißig ... ans Ende der Zahlenreihe oder an den Anfang?

Die Null zeigt nichts an, es sei denn, wir formulieren es so, daß sie kein Element einer Menge ,anzeigt‛, sondern eine Funktion; z.B. die Möglichkeit, eine natürliche Ziffer von Eins bis Neun in Zehnerschritten zu potenzieren. Oder sie hat die Funktion, auf die Möglichkeit einer Subtraktion hinzuweisen, also daß da etwas gewesen war oder nicht mehr sein wird. Oder die Funktion, auf die Möglichkeit einer Addition hinzuweisen, also daß da etwas noch nicht oder woanders als hier ist. Aber das sind nur Funktionen. Etwas zu zählen, das weder war noch ist noch sein wird, also das Nichts ist, ist schlichtweg überflüssig. Die Null ist also keine Zahl.

Im Grunde ist eine solche Null, also eine Null, die das blanke Nichts anzeigt, nicht mal eine Funktion, sondern eine Metapher. Und zwar eine Metapher, die besonders gut zu einer bestimmten Wirtschaftsform paßt. Welche Wirtschaftsform beginnt mit einem Nichts? ‒ Der Finanzkapitalismus: nämlich mit einer creatio ex nihilo der Wertschöpfung, der wundersamen Geldvermehrung unter Umgehung der Güterproduktion. Die Null ist also eine Metapher für die kapitalistische Wertschöpfung. Letztlich ist Geldvermehrung auch nichts anderes als eine periodisch sich wiederholende Ansammlung von Nullen vor dem Komma.

Mathematiker behelfen sich mit einer paradoxen Formulierung: sie behaupten, die Null zeige eine „leere Menge“ an. Aber das heißt auch nichts anderes als daß sie nichts anzeigt. Auch diese leere Menge ist in meinen Augen nur eine Metapher. Sie steht für all die individuellen Elemente (einschließlich die Menschen!), die wir einer Menge zuordnen (die sich einer Menge anschließen) und dabei ihre Individualität verlieren. In diesem Sinne sind alle Mengen leer. Alles ist nur noch eins, also ohne eigene Identität und deshalb nichts, also null.