„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 3. Februar 2018

Martin Grunwald, Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können, München 2017

1. Die Einheit der Sinne
2. Tastsinn als multisensorisches Tastsinnessystem
3. Neuromarketing

Im letzten Kapitel seines Buches geht Martin Grunwald auf die Geschichte des von ihm geleiteten Haptik-Labors ein. (Vgl. Grunwald 2017, S.211ff.) Wie viele universitäre Einrichtungen und Wissenschaftler wurden auch Grunwald und seine Mitarbeiter nur für eine Übergangszeit staatlich finanziert und mußten sich nach zwölf Jahren nach Sponsoren außerhalb der Universität umsehen. (Vgl. Grunwald 2017, Anm.2, S.285f.) Sie stellten ihre Forschung also in den Dienst der Industrie und boten wissenschaftliche Beratung bei der Produktentwicklung an. Zu diesem Zweck gründeten sie das Haptik-Forschungszentrum.

Grunwald betont, daß er seine Expertise keineswegs der Waffenindustrie zur Verfügung stellen würde, weil er überzeugt sei, „dass Vertreter psychologischer Fachbereiche unter keinen Umständen an der Vernichtung menschlichen Lebens beteiligt sein dürfen“. (Vgl. Grunwald 2017, Anm.3, S.286) Sonstige ethische Bedenken erwähnt Grunwald allerdings nicht, was verwunderlich ist, denn im Zusammenhang der Kleinkinderziehung und des Spracherwerbs hatte er sich in einem früheren Kapitel sehr kritisch gegenüber digitalen Technologien geäußert. (Vgl. Grunwald 2017, S.86ff. und S.90ff.)

Diese grundsätzliche Kritik scheint Grunwald aber im Bereich des Neuromarketings nicht für nötig zu halten. (Vgl. Grunwald 2017, S.236) Vielmehr sieht er im Neuromarketing den Kern der wissenschaftlichen Dienstleistung, die das Haptik-Forschungszentrum für die Industriebranche erbringt. Denn, so Grunwald, gerade weil es im  „digitale(n) Zeitalter“ einen gewissen Überdruß an auf visuelle und optische Reize beschränkte Angebote der virtuellen Realität gebe (vgl. Grunwald 2017, S.237), bedürfe es eines speziellen „Haptik-Designs“ (vgl. Grunwald 2017, S.217f.), mit dem z.B. auf der virtuellen Ebene die fehlenden haptischen, olfaktorischen und gustatorischen Aspekte durch Präsentation entsprechender Bild- und Geräuschelemente so vorgespielt werden können, daß Zuschauer auf mimetischer Ebene die zugehörigen Sinnesbereiche miterleben, als wären sie real:
„Allein die Beobachtung körperlicher Erlebnisse anderer Menschen führt zur Aktivierung tastsensibler Verarbeitungsgebiete in unserem Gehirn und schafft auf diese Weise eine quasi körperliche Beteiligung mit entsprechenden Emotionen und Gedächtnisprozessen.“ (Grunwald 2017, S.238)
Zwar verweist Grunwald unter der Überschrift „Manipulation oder Kundenvorteil?“ auf die Ambivalenz von Werbestrategien, führt diese Problematik dann aber nicht weiter aus, sondern er beschränkt sich auf die Präsentation von geglückten Lösungen im Bereich der Produktentwicklung, etwa hinsichtlich des Tragekomforts von Sixpacks aus 1,5-Liter-Flaschen Mineralwasser oder „handelsüblicher Bierkästen“. (Vgl. Grunwald 2017, S.228ff.)

Wenn es um Manipulationen geht, liefert eigentlich die Autobranche viel aufschlußreichere und kritikwürdigere Beispiele. Gerade hier aber weiß Grunwald nur Lobendes zu berichten:
„Aus unserer Sicht war die Automobilindustrie die erste Branche, die sich aktiv – und sehr kontrovers – mit dem Primat des Visuellen im Design auseinandergesetzt hat.“ (Grunwald 2017, S.217; vgl. auch S.15ff.)
Gunwald hebt hervor, wie sehr sich die Produktentwickler in der Autobranche mittlerweise um haptische und tastsensible Oberflächen von der Polsterung der Sitze über die Bedienelemente der Konsole, Pedalen, Schalthebel bis hin zum Lenkrad und darüber hinaus um Geräusch- und Geruchseffekte bemühen, um den Kunden zum Kauf eines Kraftwagens zu animieren. Was Grunwald nicht erwähnt, ist, daß ein multisensorisch angereicherter Fahrkomfort durchaus auch auf Kosten der Fahrsicherheit gehen kann, wenn z.B. die Motorgeräusche nicht mehr vom Motor stammen, sondern simuliert werden, weil die simulierten Geräusche besser klingen als der Motor, oder wenn die verschiedenen technischen Fahrhilfen so sehr von den realen Fahrbedingungen abschirmen, daß der Fahrer jedes Gefühl für das Fahrverhalten des Fahrzeugs und für dessen Geschwindigkeit verliert. So beschreibt Matthew B. Crawford in seinem Buch „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ (2016) die Fahrt in einem Toyota Avalon durch die Rocky Mountains, wo er das Kurvenverhalten des durchdigitalisierten Fahrzeugs auch nach längere Fahrt nicht in den Griff bekam, weil er in diesem Wagen kein Gespür für die Straße hatte, auf der er fuhr. (Vgl. meinen Blogpost vom 17.01.2017)

Das ist dann schon nicht mehr so verwunderlich, wenn Autokonzerne die Abgaswerte manipulieren. Hauptsache, die Kunden fühlen sich wohl mit ihrem Produkt, das ihnen eine saubere Technologie simuliert. Abgasmnanipulationen und die Manipulation der Öffentlichkeit mit Hilfe gesponsorter Forschungsergebnisse bilden also letztlich auch nur eine Form von Design. Insofern steckt Ironie im ‚Forschungsdesign‘.

Der Design-Aspekt, den Grunwald in seinem letzten Kapitel hervorhebt, unterschlägt die Frage nach dem grundsätzlichen Gebrauchswert der Produkte, die multisensorisch aufgewertet werden. Das gilt auch dort, wo Grunwald einen ganzen Abschnitt der Frage nach der „Handhabungswertigkeit“ von Produkten widmet. (Vgl. Grunwald 2017, S.221ff.) Dabei sollte es nicht nur um das leichtere Öffnen von Verpackungen oder um die Beseitigung von Gefahrenquellen beim Spielzeug für kleine Kinder gehen, was sicher wichtig genug ist. Es geht mir hier vielmehr um den grundsätzlichen Sinn von Technik bzw. Technologie. Wozu sollen Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotoren noch zusätzlich digital aufgemotzt werden und multisensorische Erlebnisräume eröffnen, die mit ihrem eigentlichen Zweck, dem Fahren, nichts mehr zu tun haben? Wozu soll es überhaupt noch Verbrennungsmotoren geben? – Das ‚neueste‘ Argument unserer Bundeskanzlerin lautet: weil sie eine Brückentechnologie bilden! Irgendwoher kennen wir das schon.

Der einzige technologische Fortschritt im Bereich der Automobilindustrie bestünde in der Abschaffung von Verbrennungsmotoren, nicht in der Erfindung neuer Designs für diese Produkte des fossilen Energiezeitalters. Aber solche Fragen lassen sich in universitären Einrichtungen, die seit der berüchtigten Bolongareform auf Sponsoren aus der Industriebranche angewiesen sind, wohl nicht mehr stellen.

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