„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 2. Februar 2018

Martin Grunwald, Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können, München 2017

1. Die Einheit der Sinne
2. Tastsinn als multisensorisches Tastsinnessystem
3. Neuromarketing

Nicht nur das Gesamtsinnessystem funktioniert multimodal, indem sich die verschiedenen Sinnesbereiche bei der Wahrnehmung unserer dreidimensionalen Wirklichkeit gegenseitig unterstützen. Auch das Tastsinnessystem ist multisensorisch aufgebaut und bildet einen Sinnesverbund aus vielfältigen, unterschiedlichen, auf und in unserem ganzen Körper verteilten Rezeptortypen:
„Ob jedoch die Haut die Körperregion mit den meisten tastsensiblen Rezeptoren ist, kann bezweifelt werden, denn die sonstigen Bindegewebestrukturen im Körper – einschließlich der Knochenhäute – sind ebenfalls mit tastsensiblen Rezeptoren ausgestattet, außerdem die Schleimhäute, die Wände von Venen und Arterien, die Muskeln, die Sehnen und Gelenke.() ... Einige reagieren nur auf Druck- und Verformungskräfte, die kurz andauern, andere auf lang anhaltende Kräfte, wieder andere registrieren Spannungsänderungen von Muskeln, Sehnen und Bindegewebsfasern. Es gibt schmerzsensitive und temperatur-sensitive Rezeptoren und solche, die auf Geschwindigkeitsänderungen des Gewebes oder des gesamten Körpers reagieren. Je nachdem, welche anatomische Klassifikation genutzt wird, lassen sich etwa zehn verschiedene Rezeptortypen unterscheiden.“ (Grunwald 2017, S.97)
Die Schmerzempfindung bildet nicht etwa bloß eine extreme Variante von Druck- und Dehnungsreizen oder von Kälte- und Wärmeempfindungen. (Vgl. Grunwald 2017, S.121) Sie hat ihre eigenen Rezeptoren, sogenannte Nozirezeptoren, die krankheitsbedingt ausfallen können, ohne daß das übrige Tastsinnessystem davon betroffen ist. (Vgl. Grunwald 2017, S.177f.)

Grunwald rechnet auch den Gleichgewichtssinn zum Tastsinnessystem, weil es einen unverzichtbaren Bestandteil der „Propriozeption“, also der Orientierung im Raum bildet. (Vgl. Grunwald 2017, S.27) Die Propriozeption bildet neben der Exterozeption und der Interozeption eine von drei Grundfunktionen des Tastsinnessystems. Die Exterozeption beinhaltet die nach außen gerichteten Tastsinnesempfindungen und wird hauptsächlich durch in der Haut verteilte Rezeptortypen gewährleistet, während die Interozeption durch in den inneren Organen und im Bindegewebe verteilte Rezeptortypen ermöglicht wird, die Informationen über innere Körperereignisse wie Hunger, Durst, Wärme- und Kälteempfindungen liefern. (Vgl. Grunwald 2017, S.44)

Neben der Funktion des Gleichgewichtssinns für die Propriozeption spricht auch der Umstand, daß dieser Sinn mittels „mikroskopisch kleine(r) Haarsensoren“ funktioniert, für seine Zuordnung zum Tastsinnessystem; denn Haare bilden wichtige Rezeptortypen für Berührungs- und Dehnungsreize:
„Dass selbst Insekten, die nur wenige Mikrogramm schwer sind, einen vergleichsweise riesigen Organismus wie den unsrigen auf sich aufmerksam machen können, liegt daran, dass unsere Körperhaut ca. fünf Millionen Haare enthält.() Auch wenn gewöhnlich dem Haupthaar die größte persönliche und gesellschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, befindet sich am Kopf – je nach Alter, Geschlecht und Veranlagung – nur ein geringer Prozentsatz unserer Haare. Grundsätzlich sind ca. 80 Prozent der menschlichen Körperhaut (bei Frauen etwas weniger) mit Haaren bedeckt.“ (Grunwald 2017, S.99)
Die bei Frauen verbreitete Epilierung der Bein- und Armbehaarung führt zu einer deutlichen Einschränkung der Berührungsempfindlichkeit. (Vgl. Grunwald 2017, S.100)

Unsere Körperbehaarung bildet also keineswegs eine evolutionäre Reminiszenz an irgendwelche felltragenden Vorfahren, wie es etwa von der Lanugobehaarung heißt, einer den ganzen Fötus umfassenden Körperbehaarung zwischen der 17. und der 33. Schwangerschaftswoche. Deren tatsächliche Funktion besteht Grunwald zufolge darin, das Gehirn des Fötus mit den für sein Wachstum nötigen Stimulationen zu versorgen:
„Dank der Lanugobehaarung ist jetzt für den Fötus eine permanente körperliche Stimulationsumgebung entstanden, die sowohl in Ruhelagen als auch bei Fremd- und Eigenbewegungen für eine Anregung des Tastsinnessystems und damit auch für eine neuronale Stimulation sorgt.“ (Grunwald 2017, S.30)
Das Tastsinnessystem ist der einzige Sinnesbereich, für den es weder im Gehirn einen spezialisierten Bereich noch am Körper ein spezifisches Organ gibt, das für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Tastsinnesempfindungen zuständig ist. Dieser Umstand wie auch die qualitative Vielfalt von Rezeptortypen und die schiere Quantität von Tastsinnesrezeptoren macht das Tastsinnessystem innerhalb des Gesamtsinnessystems zu etwas Besonderem:
„Unsere vorsichtige Schätzung der tastsensiblen Rezeptoren ... ergibt ca. 710 Millionen. Legt man großzügigere Maßstäbe an, sind Größenordnungen bis zu 900 Millionen nicht unwahrscheinlich.() Eine quantitative Gegenüberstellung verdeutlicht, dass das Tastsinnessystem im Vergleich zu den übrigen Sinnessystemen schon allein auf der Rezeptorebene ein biologisches Schwergericht darstellt: Die Rezeptoren des visuellen Systems werden pro Auge auf 120 Millionen Stäbchenzellen und sechs Millionen Zapfenzellen geschätzt, die geruchssensitiven Rezeptoren auf zehn bis 100 Millionen. Die des auditiven Systems enthalten pro Ohr ca. 20 000 Rezeptoren, und die Zunge hat ca. 2000 Geschmacksknospen mit jeweils zehn bis 50 Rezeptorzellen.“ (Grunwald 2017, S.124)
Das zentrale Nervensystem ist rund um die Uhr zu 100 Prozent damit befaßt, alle vom Tastsinnessystem eingehenden Informationen zu verarbeiten. (Vgl. Grunwald 2017, S.130) Zu diesen ‚Informationen‘ gehört das permanente „Hintergrundrauschen“ des Ruhepotenzials – einer Art stand-by-modus der Rezeptoren, die ihre sofortige Aktivierung gewährleistet –, das Grunwald zufolge „die biologische Basis für unser stetiges Körpererleben und auch für unsere Bewusstseinstätigkeit darstellt“. (Vgl. Grunwald 2017, S.98)

Damit spannt Grunwald den Bogen zur meines Erachtens wichtigsten These seines Buches, daß nämlich unser Tastsinnessystem „im Hintergrund den Geist unseres Körpers zusammen(hält)“. (Vgl. Grunwald 2017, S.10) Damit ermöglicht das Tastsinnessystem auch „die biologische Reifung eines körperlichen Selbst und eines Ichbewusstseins“. (Vgl. Grunwald 2017, S.44)

An dieser Stelle sehe ich gleichzeitig die Nähe und die Differenz zu Plessners Körperleib. Grunwald und Plessner denken ‚Bewußtsein‘ und ‚Geist‘ immer im engen, unlöslichen Verbund mit dem menschlichen Körper. Aber bei Grunwald fehlt die exzentrische Dimension des menschlichen Selbstbewußtseins. Dieses wird als Ichbewußtsein immer nur mit der Gewißheit der eigenen Existenz gleichgesetzt. Es kommt bei Grunwald zu keinem Bruch zwischen der menschlichen Intentionalität und ihrer menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt, allenfalls zu einer Verkümmerung des Außenweltbezugs, wenn digitale Technologien das haptische Entwicklungspotential von kleinen Kindern unterfordern. (Vgl. Grunwald 2017, S.86f.)

Im nächsten Blogpost werde ich zeigen, daß Grunwalds technologiekritischer Ansatz angesichts der Möglichkeiten des Neuromarketings, zu denen sein Leipziger Haptik-Labor einen Beitrag leisten will, zu wünschen übrig läßt.

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